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Empfundenes Risiko der Marknagelosteosynthese von Tibiaschaftfrakturen. Entwicklung und Feldtestung des DAVOS (Deriving Anticipations and Views about Outcomes among Surgeons) Fragebogens
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Published: | September 28, 2006 |
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Fragestellung: Neben den in klinischen Prüfungen gewonnenen „harten“ Daten über typische Komplikationen nach Marknagelosteosynthese müssen Expertenwissen und Intuition für die Planung von Studien in der Versorgungsforschung berücksichtigt werden. Bisher existieren keine systematischen Ansätze, die als „gefühltes Risiko“ zu bezeichnenden Erfahrungswerte zu quantifizieren.
Methodik: Durch
1) systematische Literaturrecherche,
2) focus-group-Konsensbildung und
3) sample-to-redundacy Strategie wurde ein 48 Punkte umfassender Fragebogen generiert, um das von Chirurgen unterschiedlichen Ausbildungs- und Spezialisierungsgrades gefühlte Risiko nach Marknagelosteosynthese von Unterschenkelfrakturen zu ermitteln. Der Bogen beinhaltet 12 ordinale Bewertungsskalen für die Wahrscheinlichkeit von Infektionen und knöchernen Heilungsstörungen nach intramedullärer Stabilisierung geschlossener und offener Verletzungen. Das Instrument erfasst recall-Bias (eine Überschätzung von Effekten nach kürzlicher Beobachtung des Ereignisses) und die Selbsteinschätzung der Vorhersagegenauigkeit klinischer Verläufe. In eine Feldtestung wurden alle Teilnehmer des internationalen AO-Kurses in Davos 2004 eingeschlossen. Die prädiktive Bedeutung individueller Charakteristika für die genannten Ereignis-Wahrscheinlichkeiten wurde mittels multivariater Regression unter Einschluss von Interaktionstermen erster Ordnung modelliert.
Ergebnisse: Vollständige Bögen wurden von 462 Teilnehmern (mittleres Alter 39 [SD 9] Jahre, 91% Männer, 74% europäischer Herkunft, 49% universitäre Einrichtungen) zur Verfügung gestellt. 74% der Teilnehmer führten bis zu 30 intramedulläre Osteosynthesen pro Jahr durch. 72% der Teilnehmer gaben an, klinische Verläufe verlässlich oder perfekt vorhersagen zu können. Das Risiko für oberflächliche und tiefe Wundinfektionen nach geschlossenen, I°, II° und III° offenen Verletzungen wurde auf 38%, 33%, 30% und 32% bzw. 12%, 12%, 16% und 28 geschätzt. Für verzögerte Bruchheilungen und Pseudarthrosen lagen die geschätzten Häufigkeiten bei 52%, 33%, 29% und 34% bzw. 26%, 17%, 13% und 24%. Neben Expertise und Eingriffshäufigkeit konnte die Verlässlichkeit der Vorhersage als unabhängige prädiktive Variable identifiziert werden (maximale Mittelwertdifferenz [oberflächliche Infektion bei II° offenen Verletzungen] 8,6%, 95% Konfidenzintervall [KI] 4,6 – 12,6%). Bei geschlossenen und I° offenen Frakturen lag das empfundene Risiko für alle Endpunkte unter der Inzidenz tatsächlich beobachteter Ereignisse (maximale Mittelwertdifferenz [verzögerte Bruchheilung bei geschlossenen Verletzungen] 37,9%, 95% KI 32,1 – 41,6%), bei II° und III° offenen Frakturen deckten sich geschätzte und beobachtete Raten.
Schlussfolgerungen: Expertise und Vertrauen in die Verlässlichkeit eigener Vorhersagen bestimmen das empfundene Risiko. In den Szenarien geschlossener und I° offener Frakturen war eine größere Varianz zwischen geschätzten und tatsächlichen Ereignisraten zu beobachten.