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34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Bern, 14.09. - 17.09.2017

Geolinguistische Analyse von Sprachleistungen bei vierjährigen Vorschulkindern in Frankfurt am Main

Vortrag

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), Dreiländertagung D-A-CH. Bern, Schweiz, 14.-17.09.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV43

doi: 10.3205/17dgpp61, urn:nbn:de:0183-17dgpp610

Published: August 30, 2017

© 2017 Zaretsky et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Je nach Region bzw. Stadtteil variieren die Qualität und Quantität des Deutschinputs. Daher ist eine ungleichmäßige geographische Verteilung der Deutschkenntnisse bei Vorschulkindern zu erwarten. In dieser Studie wurde das geographische Verteilungsmuster von Pluralisierungsleistungen, die laut früherer Studien am höchsten mit dem Gesamtsprachstand korrelieren, in 45 Frankfurter Stadtteilen analysiert. Darüber hinaus wurden Hörstörungen, Stottern und weitere sprachbezogene medizinische Auffälligkeiten sowie soziodemographische Merkmale der einzelnen Stadteile in die vorliegende Untersuchung miteinbezogen.

Material und Methoden: Pluralaufgaben aus dem Sprachtest SETK 3-5 wurden 696 vierjährigen Frankfurter Vorschulkindern (40% monolingual Deutsch, 55% zwei/mehrsprachig, 5% unbekannt; 55% männlich, 45% weiblich) vorgelegt. Soziodemographische Eigenschaften der einzelnen Stadtteile, einschl. Zugang zur medizinischen Versorgung, wurden der Internetseite der Stadt Frankfurt entnommen und mit soziolinguistischen Angaben der Eltern sowie Kindergarten-ErzieherInnen zu den Kindern und ihren Familien korreliert. Des Weiteren wurde die Verteilung der Pluralisierungsmuster in SETK 3-5 in Frankfurter Stadtteilen geprüft.

Ergebnisse: Subjektiv (durch Fragebögen) erfasste Hörstörungen, Stottern, generell sprachbezogene medizinische Auffälligkeiten häuften sich in den Stadtteilen mit niedrigen SETK-Gesamtscores. Kinder mit niedrigen SETK-Scores wohnten in den Stadtteilen mit einem hohen Anteil von Arbeitslosen bzw. Geringbeschäftigten, Geringverdienern, einigen Migrantengruppen sowie mit relativ wenigen Kinder- und Jugendärzten pro 10.000 Einwohner. Kinder dieser Stadtteile zeigten auch gehäuft einfache Fehlermuster: hoher Anteil von Übergeneralisierungen des Pluralmorphems -(e)n (z.B. Apfeln statt Äpfel), Wiederholung von Singularformen statt Plural und andere Vermeidungsstrategien.

Diskussion: Relativ schwache Deutschkenntnisse, an Pluralkenntnissen gemessen, kamen in den Frankfurter Stadtteilen gehäuft vor, in denen tendenziell auch sprachbezogene medizinische Auffälligkeiten wie Hörstörungen häufiger berichtet wurden. Der Zugang zur medizinischen Versorgung sowie zu fortgeschrittenen Deutschkenntnissen war in diesen Stadtteilen relativ eingeschränkt. Auch Fehlermuster waren nicht gleichmäßig über die Stadt verteilt.

Fazit: Schwache Deutschkenntnisse sowie sprachbezogene medizinische Auffälligkeiten bildeten geographische Cluster auf der Stadtkarte von Frankfurt.


Text

Hintergrund

Je nach Region bzw. Stadtteil variieren die Qualität und Quantität des Sprachinputs [1]. Daher ist eine ungleichmäßige geographische Verteilung der Deutschkenntnisse bei Vorschulkindern zu erwarten. In dieser Studie wurde das geographische Verteilungsmuster von Pluralisierungsleistungen, die laut früherer Studien am höchsten mit dem Gesamtsprachstand korrelieren [2], für 45 Frankfurter Stadtteile analysiert. Darüber hinaus wurden Hörstörungen, Stottern und weitere sprachbezogene medizinische Auffälligkeiten sowie soziodemographische Merkmale der einzelnen Stadtteile in die vorliegende Untersuchung miteinbezogen und den Pluralisierungsleistungen der Vorschulkinder gegenübergestellt. Es wurde angenommen, dass schwache Pluralkenntnisse sowie sprach- und redeflussbezogene medizinische Auffälligkeiten in denselben Stadtteilen gehäuft vorkommen und mit soziodemographischen Merkmalen dieser Stadtteile zusammenhängen bzw. durch diese erklärt werden können.

Material und Methoden

Pluralaufgaben aus dem Sprachtest SETK 3-5 wurden 696 vierjährigen Frankfurter Vorschulkindern (40% monolingual Deutsch, 55% zwei/mehrsprachig, 5% unbekannt; 55% männlich, 45% weiblich) vorgelegt. Mit nicht parametrischem Kruskal-Wallis H-Test bzw. Mann-Whitney U-Test wurde die Verteilung von sprach- bzw. redeflussbezogenen medizinischen Auffälligkeiten sowie Plural-Gesamtscores in den Frankfurter Stadtteilen geprüft. Soziodemographische Eigenschaften der einzelnen Stadtteile, inklusive Zugang zur medizinischen Versorgung, wurden der Internetseite der Stadt Frankfurt (http://www.frankfurt.de/) entnommen und mit soziolinguistischen Angaben der Eltern sowie Kindergarten-ErzieherInnen zu den Kindern und ihren Familien korreliert. Des Weiteren wurde die Verteilung der Pluralisierungsmuster im entsprechenden Untertest von SETK 3-5 in Frankfurter Stadtteilen mittels Spearman-Korrelationen geprüft. Als einfach galten dabei Fehlermuster ohne Einsatz von Pluralallomorphen bzw. solche mit dem einfachsten Pluralallomorph -(e)n (z.B. Apfeln statt Äpfel), der am häufigsten im Sprachinput vorkommt und daher am frühesten erworben wird [3].

Ergebnisse

Laut Kruskal-Wallis H-Tests waren subjektiv (durch Fragebögen) erfasste Hörstörungen (χ2(25)=48,7, p=0,003), Stottern (χ2(25)=52,5, p=0,001) und generell sprachbezogene medizinische Auffälligkeiten (χ2(25)=47,1, p=0,005) nicht gleichmäßig über Frankfurt verteilt. Diese häuften sich in den Stadtteilen mit niedrigen Plural-Gesamtscores (U=4260,5, Z=–1,65, p=0,049). Kinder mit niedrigen Plural-Gesamtscores wohnten in den Stadtteilen mit einem hohen Anteil von Arbeitslosen (rs=–0,182, p<0,001) bzw. Geringbeschäftigten (rs=–0,180, p<0,001), Geringverdienern (rs=–0,189, p<0,001), Empfängern der Hilfe zum Lebensunterhalt (rs=–0,143, p<0,001), einigen Migrantengruppen (Türken: rs=–0,131, p=0,001, Polen: rs= –0,200, p<0,001, Afrikaner: rs=–0,135, p<0,001; dagegen Italiener: rs= 0,159, p<0,001, Amerikaner: rs=0,163, p<0,001) sowie mit relativ wenigen Kinder- und Jugendärzten pro 10.000 Einwohner (rs=0,105, p=0,006). Auch einfache Fehlermuster kamen in den Frankfurter Stadtteilen gehäuft vor. So wurden in den Stadtteilen mit einem hohen Anteil von nicht deutschsprachigen Kindergartenkindern relativ viele Übergeneralisierungen des Pluralmorphems -(e)n (rs=0,125, p=0,008), Wiederholungen von Singularformen statt Plural und andere Vermeidungsstrategien (rs=0,100, p=0,008) sowie relativ wenige richtig oder falsch verwendete Pluralallomorphe (rs=–0,252, p<0,001) festgestellt.

Diskussion

Relativ schwache Deutschkenntnisse, gemessen an Pluralkenntnissen, kamen in den Frankfurter Stadtteilen gehäuft vor, in denen tendenziell auch sprach- bzw. redeflussbezogene medizinische Auffälligkeiten wie Hörstörungen häufiger berichtet wurden. Der Zugang zur medizinischen Versorgung sowie zu fortgeschrittenen Deutschkenntnissen war in diesen Stadtteilen relativ eingeschränkt. Auch Fehlermuster waren nicht gleichmäßig über die Stadt verteilt. Assoziationen zwischen Sprachtest-Gesamtscores und Merkmalen der Frankfurter Stadtteile erwiesen sich zwar als statistisch signifikant, aber sehr schwach (Korrelationen unter 0,3), was darauf hindeutet, dass auch Kinder, die Deutsch unter ungünstigen Bedingungen erwarben, durchaus oft altersentsprechende Deutschkenntnisse aufwiesen, wie auch umgekehrt. Nicht immer konnte Migrationshintergrund zu einem benachteiligenden Faktor gezählt werden: Während Kinder in den Stadtteilen mit einem hohen Anteil von Italienisch- und Englischsprachigen über durchaus gute Deutschkenntnisse verfügten, konnten bei Kindern aus den Stadtteilen mit einem hohen Anteil von Türkisch- und Polnischsprachigen sowie Einwohnern mit afrikanischem Migrationshintergrund meist nur schwache Pluralkenntnisse nachgewiesen werden. Sehr ähnliche Ergebnisse wurden in einer früheren Studie für etwas ältere, fünf- und sechsjährige, Frankfurter Vorschulkinder berichtet [4].

Fazit

Schwache Deutschkenntnisse, an Pluralkenntnissen gemessen, sowie sprach- bzw. redeflussbezogene medizinische Auffälligkeiten bildeten geographische Cluster auf der Stadtkarte von Frankfurt.


Literatur

1.
Alloway TP, Alloway RG, Wootan S. Home sweet home: does where you live matter to working memory and other cognitive skills? J Exp Child Psychol. 2014 Aug;124:124-31. DOI: 10.1016/j.jecp.2013.11.012 External link
2.
Zaretsky E, Lange BP. Ob Italienisch Deutsch fördert: Warum Italienisch sprechende Kinder schneller Deutsch erwerben als einige andere Migrantengruppen in Deutschland. Dutch J Applied Linguistics. 2015;4(1):122-40. DOI: 10.1075/dujal.4.1.11zar External link
3.
Korecky-Kröll K, Dressler UW. The acquisition of number and case in Austrian German nouns. In: Stephany U, Voeikova MD, editors. Development of Nominal Inflection in First Language Acquisition: A Cross-Linguistic Perspective. Berlin: Walter de Gruyter; 2009. p. 265-302.
4.
Zaretsky E, Lange BP. The geography of language skills and language(-related) disorders: a case of Frankfurt/Main. In: Grucza S, Olpinska-Szkielko M, Romanowski P, editors. Advances in Understanding Multilingualism: A Global Perspective. Frankfurt/Main: Peter Lang Verlag; 2016. p. 181-97.