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34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Bern, 14.09. - 17.09.2017

Klassifizierung der Sprechapraxie anhand der Spontansprache – Welche Merkmale führen zu einer zuverlässigen Klassifizierung?

Vortrag

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), Dreiländertagung D-A-CH. Bern, Schweiz, 14.-17.09.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV41

doi: 10.3205/17dgpp59, urn:nbn:de:0183-17dgpp592

Published: August 30, 2017

© 2017 Lipp et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Derzeit existiert noch kein differenziertes Diagnostikverfahren, um Lautbildungsstörungen bei Sprechapraxie in der Spontansprache zu untersuchen. Die aktuelle Studie soll eine kürzlich entwickelte Methode zur Bewertung von erworbenen Lautbildungsstörungen anhand von Spontansprachproben validieren. Es wurde untersucht, ob eine Kombination aus spezifischen lautsprachlichen Merkmalen extrahiert werden kann, die auf eine Sprechapraxie hinweisen und ob dieses Ergebnis mithilfe weiterer Außenkriterien validiert werden kann. Die Studie verfolgt damit das Ziel, ein zuverlässiges Instrument für die Sprechapraxiediagnostik anhand der Spontansprache zu entwickeln.

Material und Methoden: Die Spontansprachanalyse erfolgte bei 101 Aphasiepatienten nach linkshemisphärischem Schlaganfall. Für die Bewertung wurden 11 Variablen, bestehend aus segmentalen und suprasegmentalen Fehlerkategorien sowie Auffälligkeiten im Sprechverhalten, mit einer Skala über die gesamte Äußerung hinweg beurteilt. Eine Hauptkomponentenanalyse sollte eine Merkmalskombination identifizieren, um die Patienten mit Sprechapraxie innerhalb der Stichprobe festzustellen. Die Validierung erfolgte anhand von Experteneinschätzungen und vorliegenden klinischen Daten (AAT, HWL).

Ergebnisse: Die Faktorenanalyse lieferte ein 3-Faktoren-Modell, das 57,9% der Varianz erklärte. Dabei repräsentierte der erste Faktor (31,5% der Varianz) mit starken Variablen wie phonetischen Entstellungen oder reduzierter Artikulationsgeschwindigkeit Merkmale, die als Indikatoren für Sprechapraxie anerkannt sind. Sowohl mit den Expertenratings als auch mit den HWL-Ergebnissen und Variablen des AAT zeigte sich eine hohe und signifikante Korrelation mir den Faktorwerten.

Diskussion: Auf der Grundlage der bisherigen Ergebnisse stellt die hier entwickelte Analysemethode ein aussagekräftiges Instrument zur Beurteilung der Sprechapraxie auf Spontansprachebene dar. Für eine Subgruppe von Patienten vor allem mit schweren Aphasien stellte sich heraus, dass Zusatzuntersuchungen auf Einzelwortebene (z.B. HWL) für die Diagnostik unverzichtbar sind.

Fazit: Die Ergebnisse der Analyse eines umfangreichen Datensatzes sind von großer klinischer Relevanz, da sie die diagnostischen Möglichkeiten für zentrale Sprechstörungen um einen wichtigen neuen Zugang erweitern. Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen, dass das Störungsbild der Sprechapraxie, mit Ausnahme schwerer Formen, durch eine differenzierte Spontansprachanalyse klassifiziert werden kann.


Text

Theoretischer Hintergrund

Erworbene Lautbildungsstörungen werden im Rahmen der Sprechapraxie mit systematischen Diagnostikverfahren untersucht, die sich meist durch Aufgaben wie Nachsprechen (Hierarchische Wortlisten, HWL) [1], lautes Lesen oder Benennen auf Einzelwortebene (Aachener Aphasie Test, AAT) [2] auszeichnen. Obwohl systematische Diagnostikverfahren, die auf Einzelwortebene testen, nicht zwingend eine Aussage über die Kommunikation im Alltag erlauben [3], gibt es derzeit noch kein differenziertes diagnostisches Verfahren, um Lautbildungsstörungen bei zentralen Sprechstörungen zu untersuchen. Die Studie untersucht die Validität der in einer Vorstudie [4] entwickelten Methode zur Bewertung von erworbenen Lautbildungsstörungen anhand von Spontansprachproben. In der Vorstudie gab es Hinweise auf Merkmalskombinationen, die stark auf das Vorliegen einer Sprechapraxie hinweisen könnten. Dieses Ergebnis sollte mit einem modifizierten Bewertungsverfahren repliziert und mithilfe weiterer Außenkriterien validiert werden. Das Ziel der vorliegenden Studie ist es, ein zuverlässiges Instrument für die Sprechapraxiediagnostik anhand von Spontansprache zu entwickeln.

Material und Methoden

Die Analyse spontansprachlicher Äußerungen erfolgte bei insgesamt 101 Aphasiepatienten nach linkshemisphärischem Schlaganfall, der Stichprobe der Arbeit von Lehner [4], welche eine Teilstichprobe der multizentrischen Aphasieversorgungsstudie FCET2EC [5], [6] darstellt. Untersuchungsgegenstand bildeten die verbalen Reaktionen auf jeweils fünf Items des Amsterdam-Nijmegen Everyday Language Test (ANELT) [7], die im Rahmen der FCET2EC-Baselinetestung erhoben wurden. Für die Bewertung wurden 11 Variablen, bestehend aus segmentalen und suprasegmentalen Fehlerkategorien sowie Auffälligkeiten im Sprechverhalten, ausgewählt und mit einer vierstufigen Skala (0 = nicht vorhanden bis 3 = dominiert die Äusserung) über die gesamte Äußerung hinweg beurteilt. Eine anschließend durchgeführte Hauptkomponentenanalyse hatte das Ziel, Merkmalskombinationen die mit einer Sprechapraxie in Zusammenhang stehen als eigenständigen Faktor zu identifizieren und damit die Patienten mit Sprechapraxie innerhalb der Stichprobe zu auszulesen. Zur Validierung wurden die Faktorwerte mit Experteneinschätzungen und vorliegenden klinischen Daten (AAT, HWL) verglichen.

Ergebnisse

Die Faktorenanalyse (11 unabhängige Variablen, 101 Patienten) lieferte ein 3-Faktoren-Modell, das 57,9% der Varianz erklärte. Dabei repräsentierte der erste Faktor (31,5% der Varianz) Variablen, die als Indikatoren für Sprechapraxie anerkannt sind (s. „sprechapraktisches Störungsprofil“ in Abbildung 1 [Abb. 1]).

Die Faktorwerte erwiesen sich als homogen über die fünf ausgewählten ANELT-Sprechproben. Es ergaben sich hohe Korrelationen mit den HWL-Ergebnissen und den Variablen Artikulation & Prosodie und phonematische Struktur des AAT. Die Analyse der Ergebnisse des Expertenratings zeigte, dass 72% der Varianz der Expertenurteile durch das sprechapraktische Störungsprofil erklärt werden konnte. Die Bewertungen der Experten und die Faktorwerte des sprechapraktischen Störungsprofils korrelierten hoch signifikant miteinander (p<.001).

Diskussion

Auf der Grundlage der dargestellten Ergebnisse stellt die hier entwickelte Analysemethode ein aussagekräftiges Instrument zur Beurteilung der Sprechapraxie auf Spontansprachebene dar. Die aussagekräftigsten Faktoren sind in Abbildung 1 [Abb. 1] unter dem sprechapraktischen Störungsprofil gelistet. Für eine Subgruppe von Patienten vor allem mit schweren Aphasien stellte sich heraus, dass Zusatzuntersuchungen auf Einzelwortebene (z.B. HWL) für die Diagnostik unverzichtbar sind. Reine Nachsprechaufgaben auf Einzelwortebene werden typisch sprechapraktischen Auffälligkeiten über Wortgrenzen hinaus aber nicht gerecht.

Schlussfolgerung

Die Ergebnisse der Analyse eines umfangreichen Datensatzes sind von großer klinischer Relevanz, da sie die diagnostischen Möglichkeiten für zentrale Sprechstörungen um einen wichtigen neuen Zugang erweitern. Die ersten Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass das Störungsbild der Sprechapraxie, mit Ausnahme schwerer Formen, durch eine differenzierte Spontansprachanalyse klassifiziert werden kann.


Literatur

1.
Liepold M, Ziegler W, Brendel B. Hierarchische Wortlisten: ein Nachsprechtest für die Sprechapraxiediagnostik. Dortmund: Borgmann; 2003.
2.
Huber W, Poeck K, Weniger D, Willmes K. Aachener Aphasietest (AAT). Göttingen: Hogrefe; 2015.
3.
Staiger A, Ziegler W. Syllable frequency and syllable structure in the spontaneous speech production of patients with apraxia of speech. Aphasiology. 2008 Jun;22(11):1201-15. DOI: 10.1080/02687030701820584  External link
4.
Lehner K. Phonologisch oder phonetisch? Diagnostik erworbener Lautbildungsstörungen bei Aphasie anhand der Spontansprache [nicht veröffentlichte Masterarbeit]. München: Ludwig-Maximilians-Universität; 2015.
5.
Baumgaertner A, Grewe T, Ziegler W, Floel A, Springer L, Martus P, Breitenstein C. FCET2EC (From controlled experimental trial to = 2 everyday communication): How effective is intensive integrative therapy for stroke-induced chronic aphasia under routine clinical conditions? A study protocol for a randomized controlled trial. Trials. 2013 Sep;14:308. DOI: 10.1186/1745-6215-14-308 External link
6.
Breitenstein C, et al. Wie wirksam ist die intensive Aphasietherapie unter regulären klinischen Bedingungen? Die deutschlandweite Aphasieversorgungsstudie FCET2EC. Sprache Stimme Gehör. 2014;38:14-9. DOI: 10.1055/s-0033-1358457  External link
7.
Blomert L, Kean M, Koster C, Schokker J. Amsterdam-Nijmegen everyday language test: construction, reliability and validity. Aphasiology. 1994;8(4):381-407. DOI: 10.1080/02687039408248666  External link
8.
Lipp M. Sprechapraxiediagnostik anhand der Spontansprache. Welche Merkmale führen zu einer zuverlässigen Klassifizierung? [nicht veröffentlichte Masterarbeit]. München: Ludwig-Maximilians-Universität; 2016.