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34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Bern, 14.09. - 17.09.2017

Stimmfunktion nach Kopf-Hals-Tumor-Therapie – Eine Querschnittstudie zu Stimmfunktion und Lebensqualität nach der Behandlung fortgeschrittener Kopf-Hals-Tumoren

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Berit Schilling - HNO/Phoniatrie Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, München, Deutschland
  • author Lena Richter - HNO/Phoniatrie Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, München, Deutschland
  • author Simone Graf - HNO/Phoniatrie Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, München, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), Dreiländertagung D-A-CH. Bern, Schweiz, 14.-17.09.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV40

doi: 10.3205/17dgpp58, urn:nbn:de:0183-17dgpp585

Published: August 30, 2017

© 2017 Schilling et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Die Behandlung fortgeschrittener Larynx-Hypopharynx-Karzinome der Klassifikation T3 besteht entweder in der totalen Laryngektomie (LE) oder der primären Radiochemotherapie (RCT). Die Überlebensraten sind für beide Methoden annähernd gleich. In der Studie werden die beiden Behandlungsmethoden bezüglich ihrer Auswirkungen auf die Stimmfunktion und Lebensqualität gegenübergestellt.

Material und Methoden: Mittels retrospektiver Datenanalyse wurden alle Patienten ermittelt, bei denen im Zeitraum 2009 bis 2015 am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München ein cT3-Tumor des Larynx / Hypopharynx diagnostiziert wurde (n=130). Anhand einer Querschnittstudie wurden Gruppenvergleiche zu Funktionsfähigkeit und Lebensqualität nach den Behandlungsmethoden LE (n=12) und RCT (n=4) angestellt. Untersucht wurde die Stimmfunktion anhand der Stimmleistungsparameter des ELS-Protokolls, die stimmbezogene Lebensqualität (VHI), allgemeine Lebensqualität (EORTC QLQ-C30), krankheitsbezogene Lebensqualität (EORTC QLQ-H&N35) sowie Angst und Depression (HADS-D).

Ergebnisse: Beide Behandlungsmethoden führen zu Stimmstörungen. Die Stimmfunktion, gemessen anhand objektiver Stimmleistungsparameter nach ELS-Protokoll, zeigt einzig im Bereich der Aerodynamik für beide Behandlungsgruppen gleiche Ergebnisse. In allen anderen Bereichen weisen die Shunt-Ventil-Ösophagusstimmen eine schlechtere Leistungsfähigkeit auf, was sich in einem höheren Schweregrad der Stimmstörung (DSI) und einer höheren Heiserkeitsstufe (RBH) ausdrückt. Bezüglich der stimmbezogenen Lebensqualität zeigen die LE-Probanden ein schlechteres Ergebnis als die RCT-Probanden. Die subjektiven Beeinträchtigungen hängen nicht in jedem Fall vom objektiven Schweregrad der Stimmstörung (DSI) ab. Die LE-Probanden sind gegenüber den RCT-Probanden zudem in der allgemeinen Lebensqualität und Gesundheitszustand stärker beeinträchtigt und weisen eine ängstlich-depressive Symptomatik auf.

Fazit: Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass mit Organerhalt eine bessere subjektive und objektive Stimmfunktion sowie eine bessere allgemeine und stimmbezogene Lebensqualität einhergehen.


Text

Hintergrund

Im Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München besteht die Behandlung fortgeschrittener Larynx-Hypopharynx-Karzinome der Klassifikation T3 entweder in der totalen Laryngektomie (LE) mit adjuvanter R(C)T oder der primären Radiochemotherapie (RCT). Die Überlebensraten sind für beide Methoden annähernd gleich, die Auswirkungen der jeweiligen Behandlung auf die Funktionen sind hingegen sehr unterschiedlich. Bei der totalen Kehlkopfentfernung ist der Verlust der individuellen Stimme und die Anlage eines permanenten Tracheostomas eine für den Patienten gravierende und auffällige Veränderung. Die primäre Radiochemotherapie erhält den Kehlkopf, kann jedoch infolge der Nebenwirkungen und Spätfolgen zu schweren Schluck- und Stimmstörungen führen und ebenso eine permanente Tracheotomie erfordern [1]. Bei der Wahl der Behandlungsmethode und Entscheidungsfindung müssen daher auch Überlegungen zu Funktionsfähigkeit und Lebensqualität nach der Behandlung einbezogen werden. Die Studienlage hierzu ist sehr heterogen, Messungen von Stimmparametern finden sich nur vereinzelt. Ziel dieser Studie war es, die Auswirkungen beider Behandlungsmethoden auf die Stimmfunktion und die Lebensqualität zu untersuchen, um Patienten zukünftig bei der Therapieentscheidung besser beraten zu können.

Material und Methoden

Wir ermittelten in einer retrospektiven Datenanalyse alle Patienten, bei denen im Zeitraum 2009 bis 2015 am Klinikum rechts der Isar München ein cT3-Tumor des Larynx/Hypopharynx diagnostiziert wurde (n=130). 36 Patienten konnten in die Studie eingeschlossen werden, von denen letztlich 12 Probanden teilnahmen. Auf die Behandlungsgruppen entfielen vier Patienten nach primärer RCT (Altersdurchschnitt 58 Jahre; 50–65 Jahre) und acht Patienten nach LE (Altersdurchschnitt 68 Jahre; 58–82 Jahre). Der Abschluss der Behandlung lag in der RCT-Gruppe 26–60 Monate zurück (im Median 48 Monate), in der LE-Gruppe 10–70 Monate (im Median 46 Monate). Alle LE-Probanden verfügten über eine Shunt-Ventil-Ösophagusstimme. Anhand einer Querschnittstudie wurden Gruppenvergleiche zu Stimme und Lebensqualität nach beiden Behandlungsmethoden angestellt. Untersucht wurden hierfür akustische und aerodynamische Parameter gemäß ELS-Protokoll, die stimmbezogene Lebensqualität mittels Voice Handicap Index (VHI [2]), die allgemeine und krankheitsbezogene Lebensqualität mit dem Kernfragebogen des European Organisation for Research and Treatment of Cancer Quality of Life Questionnaire (EORTC QLQ-C30 [3]) und dem krankheitsspezifischen Head & Neck Cancer Module (EORTC QLQ-H&N35 [3]) sowie Angst und Depression mit der deutschen Version der Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS-D [4]).

Ergebnisse

Beide Behandlungsmethoden führen zu Stimmstörungen. Erwartungsgemäß zeigten sich in der Gruppe der Laryngektomierten größere Beeinträchtigungen in der Stimmfunktion als in der Gruppe der primär radiochemotherapierten Probanden. Der objektive Schweregrad der Stimmstörung (DSI) lag im Median für die LE-Gruppe im Bereich der mittelgradigen Störung und für die RCT-Gruppe im Bereich der leichten Störung (Tabelle 1 [Tab. 1]). Ebenso wies die perzeptive Stimmklangbeurteilung in Rauigkeit, Behauchtheit und Heiserkeit (RBH) für die Shunt-Ventil-Ösophagusstimmen eine schlechtere Stimmqualität im Vergleich zur RCT-Gruppe aus (Tabelle 2 [Tab. 2]).

Auch in der stimmbezogenen Lebensqualität (VHI), der allgemeinen und krankheitsspezifischen Lebensqualität (EORTC QLQ-C30, EORTC QLQ-H&N35) sowie dem psychischen Zustand (HADS-D) zeigten die LE-Probanden höhere Beeinträchtigung als die RCT-Probanden (vgl. Tabelle 3 [Tab. 3] und Tabelle 4 [Tab. 4]).

Diskussion

Unsere Untersuchung zeigte für LE-Probanden eine schlechtere objektive Stimmleistung und schlechtere stimmbezogene sowie allgemeine Lebensqualität als für die RCT-Probanden. Die LE-Probanden wiesen in allen Funktionsskalen und fast allen Symptomskalen des EORTC QLQ-C30 und H&N35 Beeinträchtigungen auf, die auf die anatomisch bedingten Veränderungen nach LE mit Verlegung des Atemweges nach außen und der Anlage eines permanenten Tracheostomas zurückzuführen sind. In der RCT-Gruppe unterlagen die allgemeine Lebensqualität und das Gesundheitsempfinden vor allem den Einflüssen durch Schlafstörungen, Verstopfung, Gewichtszunahme, Mundtrockenheit und klebrigen Speichel. Diese Nebenwirkungen der Radiochemotherapie sind infolge der Höherdosierung in der primären RCT im Vergleich zur adjuvanten RCT nach LE stärker ausgeprägt.

Sowohl in der RCT- als auch LE-Gruppe zeichnete sich kein Zusammenhang zwischen der subjektiven Beeinträchtigung und dem objektiven Schweregrad (DSI) ab. Die subjektiv empfundene Stimm- und Lebensqualität hängt offensichtlich von mehr Faktoren als der objektiven Stimmstörung ab. Als Einflüsse denkbar wären bspw. unterschiedliche Krankheitsbewältigungsstrategien, die trotz objektiv gleicher Leistungsfähigkeit in einigen Fällen zu einer niedrigeren und in anderen Fällen zu einer höheren Zufriedenheit mit der Stimmfunktion führen. Auch die prätherapeutische Erwartungshaltung könnte eine Rolle spielen. Wird in der Patientenaufklärung nur allein auf die Möglichkeiten verwiesen, mittels primärer RCT die Stimme zu erhalten oder trotz LE sprechen zu können, beschreibt dies noch in keiner Weise die stimmlichen Veränderungen, die mit den Behandlungen einhergehen können.

Fazit

Vor der Entscheidung für die jeweilige Krebsbehandlung bedarf es einer eingehenden Aufklärung und Beratung der Patienten, in der sowohl krankheits- und behandlungsbedingte Veränderungen, Nebenwirkungen und Komplikationen als auch die Möglichkeiten der stimmlichen Rehabilitation erörtert werden. Die Ergebnisse unserer Studie geben hierfür einen Einblick. Ziel ist es, die Studie mit weiteren Teilnehmern fortzusetzen. Von besonderem Interesse sind hierbei sowohl die Stimmfunktion und Lebensqualität weiblicher kehlkopfloser Patienten mit Shunt-Ventil-Ösophagusstimme als auch die von Patienten mit Spät- und Langzeitfolgen nach Radiochemotherapie, wie sie in der klinischen Praxis vorkommen.


Literatur

1.
Mozet C, Dietz A. Malignome des Larynx [Laryngeal neoplasms]. Laryngorhinootologie. 2010 May;89(5):295-315. DOI: 10.1055/s-0030-1253572 External link
2.
Nawka T, Wiesmann U, Gonnermann U. Validierung des Voice Handicap Index (VHI) in der deutschen Fassung [Validation of the German version of the Voice Handicap Index]. HNO. 2003 Nov;51(11):921-30. DOI: 10.1007/s00106-003-0909-8 External link
3.
Singer S, Wollbrück D, Wulke C, Dietz A, Klemm E, Oeken J, Meister EF, Gudziol H, Bindewald J, Schwarz R. Validation of the EORTC QLQ-C30 and EORTC QLQ-H&N35 in patients with laryngeal cancer after surgery. Head Neck. 2009 Jan;31(1):64-76. DOI: 10.1002/hed.20938 External link
4.
Herrmann C, Buss U, Snaith RP. HADS-D – Hospital Anxiety and Depression Scale – Deutsche Version: Ein Fragebogen zur Erfassung von Angst und Depressivität in der somatischen Medizin. Bern: Huber; 1995.