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34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Bern, 14.09. - 17.09.2017

Evaluation des Neugeborenen-Hörscreenings in Deutschland: Erste Ergebnisse

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Uta Nennstiel-Ratzel - Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, München-Oberschleißheim, Deutschland
  • author Inken Brockow - Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, München-Oberschleißheim, Deutschland
  • author Kristina Söhl - Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, München-Oberschleißheim, Deutschland
  • author Angelika Zirngibl - Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, München-Oberschleißheim, Deutschland
  • author Peter Matulat - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie der Universität Münster, Münster, Deutschland
  • author Anna Rieger - Institut für Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
  • author Ulrich Mansmann - Institut für Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
  • author Antoinette am Zehnhoff-Dinnesen - Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie der Universität Münster, Münster, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), Dreiländertagung D-A-CH. Bern, Schweiz, 14.-17.09.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocV18

doi: 10.3205/17dgpp32, urn:nbn:de:0183-17dgpp321

Published: August 30, 2017

© 2017 Nennstiel-Ratzel et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Am 1. Januar 2009 wurde das Neugeborenen-Hörscreening (NHS) bundesweit in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen. Am 30.04.2014 hat der G-BA die „Bietergemeinschaft zur Evaluation des Neugeborenen-Hörscreenings“ mit der in der Richtlinie § 56 vorgesehenen Evaluation des NHS beauftragt. Die Evaluation bewertet das Screening für die Jahre 2011 und 2012 in Hinblick auf Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität; hier werden die Daten für 2012 dargestellt.

Material und Methoden: Die Leistungserbringer sollen nach § 55 Absatz 2 der Kinder-Richtlinie eine Dokumentation des Hörscreenings in Sammelstatistiken erstellen. Dies kann auch durch eine Hörscreening-Zentrale erfolgen, sofern die Kliniken dort angebunden sind. Auf Basis dieser Sammelstatistiken, von Einzeldatensätzen aus den Hörscreening-Zentralen, den Ergebnissen einer Abfrage pädaudiologischer Daten, einer Elternbefragung sowie von Sekundärdaten wurde das Hörscreening evaluiert.

Ergebnisse: Von den insgesamt 1150 Abteilungen für Geburtshilfe und Kinderheilkunde in Deutschland waren 765 (66,5%) an eine der 16 Hörscreening-Zentralen in 13 Bundesländern angebunden. Für 82% der 2012 in Deutschland geborenen Kinder wurde ein Hörscreening dokumentiert, wobei der Anteil pro Bundesland zwischen 38% (Niedersachsen) und 99% (Mecklenburg-Vorpommern) lag. Insgesamt wurden 5,3% der gescreenten Kinder mit kontrollbedürftigem Befund entlassen (Refer-Rate). Die weitere Abklärung der Befunde war nur in Regionen mit Hörscreening-Zentrale nachvollziehbar. Für 3,7% der Kinder mit auffälligem Hörscreening wurde hier letztendlich eine Hörstörung dokumentiert, bei 56,2% eine Hörstörung ausgeschlossen, bei 40,1% ist nicht bekannt, ob der Befund abgeklärt wurde. Von 522 der ca. 880 erwarteten Kinder mit einer beidseitigen konnatalen Hörstörung wurden Daten aus den Pädaudiologien zur Verfügung gestellt. Die Diagnose wurde im Mittel mit 6,4 Monaten gestellt. Aus Bundesländern mit guter Erfassung der Hörstörungen errechnete sich eine Prävalenz von 1,3‰.

Fazit: Insgesamt ist die Umsetzung des NHS erfolgreich. Optimierungsbedarf besteht insbesondere in der Dokumentation des Screenings sowie der weiteren Abklärung nach kontrollbedürftigem Befund inkl. der pädaudiologischen Diagnostik. Hierzu erscheint eine flächendeckende Anbindung aller Leistungserbringer an Hörscreening-Zentralen mit einer entsprechenden Trackingstruktur sinnvoll.


Text

Hintergrund

Am 1. Januar 2009 wurde das Neugeborenen-Hörscreening bundesweit in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen. Ziel des Hörscreenings ist es, möglichst alle Kinder mit einer beidseitigen, permanenten, konnatalen Hörstörung bis zum Alter von drei Monaten zu diagnostizieren und mit der Therapie bis zum Endes des sechsten Lebensmonats zu beginnen. Am 30. April 2014 hat der G-BA die „Bietergemeinschaft zur Evaluation des Neugeborenen-Hörscreenings“ mit der in der Richtlinie § 56 vorgesehenen Evaluation des Neugeborenen-Hörscreenings beauftragt. Die Evaluation bewertet das Screening für die Jahre 2011 und 2012 in Hinblick auf Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität; hier werden die Daten für 2012 dargestellt.

Methodik

Die Leistungserbringer sollen nach § 55 Absatz 2 der Kinder-Richtlinie eine Dokumentation des Hörscreenings in Sammelstatistiken erstellen. Dies kann auch durch eine Hörscreening-Zentrale erfolgen, sofern die Kliniken dort angebunden sind. Auf Basis dieser Sammelstatistiken, von anonymisierten Einzeldatensätzen aus den Hörscreening-Zentralen, den Ergebnissen einer Abfrage pädaudiologischer Daten zur Diagnostik bei Kindern mit einer beidseitigen, konnatalen permanenten Hörstörung, einer Elternbefragung sowie von Sekundärdaten wurde das Hörscreening evaluiert.

Ergebnisse

Von den insgesamt 1150 Abteilungen für Geburtshilfe und Kinderheilkunde in Deutschland waren 765 (66,5%) an eine der 16 Hörscreening-Zentralen in 13 Bundesländern angebunden. In elf Bundesländern kooperieren nahezu alle Krankenhäuser mit einer Hörscreening-Zentrale, in zwei Ländern ein Teil der Krankenhäuser, in drei Ländern existiert keine Hörscreening-Zentrale. Die Hörscreening-Zentralen lieferten Daten für alle 765 kooperierenden Abteilungen, insgesamt 409.598 anonymisierte Einzeldatensätze; 328 der nicht angebundenen Abteilungen übermittelten Sammelstatistiken. Für 82% der 2012 in Deutschland geborenen Kinder wurde damit ein Hörscreening dokumentiert, wobei der Anteil pro Bundesland zwischen 38% (Niedersachsen) und 99% (Mecklenburg-Vorpommern) lag. Für 532 von insgesamt 768 Geburtsabteilungen oder Krankenhausverbünde (69,3%) konnten Screeningraten berechnet werden. Bei 474.745 der 554.578 gescreenten Kinder war das Ergebnis des ersten Screenings dokumentiert, bei 51.630 Neugeborenen (10,9%) war es auffällig. Von den 431.562 gescreenten Kindern, für die Methode und Ergebnis des Erstscreenings bekannt waren, erhielten 80,0% ein TEOAE-Screening. Ein wie in der Richtlinie vorgesehenes Rescreening (Kontroll-AABR) nach auffälligem Erstscreening erhielten 35.871 Kinder (69,5%); dieses wurde in 54,6% mit einem TEOAE-Screening, nicht mit einer AABR, durchgeführt. Die Anzahl der auffälligen Endbefunde des Screenings konnte so auf 27.353 (ca. die Hälfte) reduziert werden. Insgesamt wurden 5,3% der gescreenten Kinder mit kontrollbedürftigem Befund entlassen (Refer-Rate).

Die weitere Abklärung der Befunde war nur in Regionen mit Hörscreening-Zentrale nachvollziehbar. Für 3,7% der Kinder mit auffälligem Hörscreening wurde hier letztendlich eine Hörstörung dokumentiert, bei 56,2% eine Hörstörung ausgeschlossen, bei 40,1% ist nicht bekannt, ob der Befund abgeklärt wurde. Der Anteil der Kinder, die „lost to follow-up“ waren, variierte zwischen den Hörscreening-Zentralen sehr. Dies könnte durch unterschiedliche Intensität des Trackings oder das Fehlen von Rückmeldungen aus den weiterdiagnostizierenden Einrichtungen bedingt sein. Eine erste Kontrolle des auffälligen Screeningergebnisses wurde abweichend von der Richtlinie nur bei 34,1% der Kinder in einer pädaudiologischen Institution durchgeführt. Durch eine erste unauffällige Kontrolluntersuchung bei einem niedergelassenen HNO- oder Kinderarzt wurde der Anteil der durch einen Pädaudiologen abzuklärenden Ergebnisse um 80% reduziert. Von 522 der ca. 880 erwarteten Kinder mit einer beidseitigen konnatalen Hörstörung wurden Daten aus den Pädaudiologien zur Verfügung gestellt, der Anteil war regional sehr unterschiedlich. Daher war eine Prävalenzberechnung nur aus Bundesländern mit guter Erfassung der Hörstörungen möglich. Es errechnete sich eine Prävalenz von 1,3‰. Die Diagnose wurde im Mittel mit 6,4 Monaten gestellt.

Diskussion

Insgesamt ist die Umsetzung des Neugeborenen-Hörscreenings in Deutschland erfolgreich. Im Jahr 2012 konnte bundesweit bereits für 82,4% der lebendentlassenen Kinder ein Hörscreening dokumentiert werden. Die Belastung durch das Screeningprogramm auf individueller und Populationsebene ist von der Höhe der Refer-Rate abhängig. Eine niedrigere Refer-Rate kann insbesondere durch ein konsequent durchgeführtes Rescreening erreicht werden. Der Anteil von Rescreenings (70%) sollte erhöht werden.

Seit der Einführung des bundesweiten Neugeborenen-Hörscreenings konnte der Zeitpunkt der Diagnosestellung und Therapieeinleitung deutlich gesenkt werden. Gleichzeitig konnten die angestrebten Zeitfenster bislang nur bei der Hälfte der Kinder erreicht werden. Für 40% der Kinder mit auffälligem Screening kann keine Aussage zum weiteren Verlauf und zur Diagnose gemacht werden.

Optimierungsbedarf besteht insbesondere in der Prozessqualität des Hörscreenings durch weitere Verbesserung der Vollständigkeit, Senkung der Refer-Rate und die vollständige Abklärung auffälliger Befunde mit Rückmeldung der Ergebnisse. Notwendig ist hierbei auch die vollständige und einheitliche Dokumentation des Screeningprozesses und der weiteren Diagnostik. Hierzu sollte die flächendeckende Einrichtung von zentralen koordinierenden und dokumentierenden Stellen und eine Verbesserung der Dokumentationsmöglichkeiten im Kinderuntersuchungsheft (Gelbes Heft) angestrebt werden.

Schlussfolgerung

Insgesamt ist die Umsetzung des Neugeborenen-Hörscreenings erfolgreich. Durch eine flächendeckende Anbindung aller Leistungserbringer an Hörscreening-Zentralen, welche die Vollständigkeit sicherstellen und auffällige Befunde bis zur Abklärung tracken sollten, könnten die Qualität des Neugeborenen-Hörscreenings und der Zeitpunkt der Diagnosestellung einer Hörstörung im Bundesgebiet weiter verbessert werden.


Literatur

1.
Endbericht der Evaluation des Neugeborenen-Hörscreenings 2011/2012. Available from: https://www.g-ba.de/downloads/40-268-4395/2017-05-18_Kinder-RL_Annahme_Endbericht_NHS-Bericht.pdf External link
2.
Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres (Kinder-Richtlinie), Fassung von 18 Juni 2015, in Kraft getreten am 1. September 2016 (veröffentlicht im Bundesanzeiger AT 18.08.2016 B1).