gms | German Medical Science

34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP)
Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Bern, 14.09. - 17.09.2017

Spannungsregulierung des Musculus orbicularis oris

Poster

Search Medline for

  • corresponding author Carolin Peeters - Selbständiger Funktionsbereich für Phoniatrie und Pädaudiologie, Univ.- Klinikum Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland
  • Andreas Prescher - Institut für Molekulare und Zelluläre Anatomie, Sektion Makroskopische Anatomie, Präparationen, Körperspender, Univ.- Klinikum Aachen, Aachen, Deutschland
  • author presenting/speaker Wolfgang Angerstein - Selbständiger Funktionsbereich für Phoniatrie und Pädaudiologie, Univ.- Klinikum Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 34. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), Dreiländertagung D-A-CH. Bern, Schweiz, 14.-17.09.2017. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2017. DocP10

doi: 10.3205/17dgpp23, urn:nbn:de:0183-17dgpp231

Published: August 30, 2017

© 2017 Peeters et al.
This is an Open Access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution 4.0 License. See license information at http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/.


Zusammenfassung

Hintergrund: Die Spannungsregulierung des Musculus orbicularis oris (MOO) in Ober- und Unterlippe ist wichtig für Tonhöhenregulierung bzw. Intonationsgenauigkeit bei Blechbläsern und Flötisten. Sie wird durch fünf physiologische Mechanismen gesteuert, welche in diesem Beitrag vorgestellt werden.

Material und Methoden: Hierzu wurden 41 Literaturquellen aus dem Zeitraum von 1806 bis 2014 unter den Aspekten Curling und Twisting, partielle Muskelfaserkreuzungen in Ober- und Unterlippe, Buccinator-Modiolus-Komplex sowie Einstrahlung von Teilen des Platysma in die Lippen analysiert.

Ergebnisse: Das Drehen der Pars marginalis (PM) bzw. Randkante des MOO um die Pars peripheralis oder um sich selber wird als Twisting definiert. Das Ein- und Auswärtsrotieren (Umstülpen) der Randkante (PM) wird als Curling bezeichnet. Die Einstellung des Muskeltonus (und damit einhergehend die Tonhöhenregulierung) erfolgt an Mund- und Stimmlippen durch analoge Mechanismen (Curling und Twisting des MOO bzw. Torsion des M. vocalis).

Eine deutliche Überkreuzung der rechts- und linksseitigen Muskelfasern des MOO führt zu einer starken Anspannung. Im entspannten Zustand besteht hingegen nur eine geringe Überkreuzung.

Der Modiolus ist ein Muskelfaserknoten am Mundwinkel, der Insertionsstelle etlicher mimischer Muskeln ist. Der M. buccinator geht mit all seinen Fasern ansatzlos in den Modiolus über und von dort aus mit vielen Fasern weiter in den MOO, sodass er durch seinen Verlauf tonusregulierend auf den MOO wirkt.

Das Platysma beeinflusst aufgrund seiner Insertion im unteren Gesichtsbereich die Spannung der Unterlippe.

Diskussion: Klinisch relevant ist die Drehung und Umstülpung der PM bei Verletzungen, Kerben oder Tumorexzisionen am Lippenrand bzw. im Bereich des oralen Sphinkters: In diesen Fällen können Artikulationsstörungen der Labiallaute sowie bei Blechbläsern und Flötisten auch Intonationsprobleme (mangelnde Tontreffsicherheit) resultieren.

Fazit: Curling und Twisting, partielle Muskelfaserkreuzungen in Ober- und Unterlippe, Buccinator-Modiolus-Komplex sowie Einstrahlung von Teilen des Platysma in die Unterlippe dienen der Spannungsregulierung des Lippenmuskels und sind hauptverantwortlich für die Höhe jedes geblasenen Tones.

Diese verschiedenen Möglichkeiten der Spannungsregulierung des MOO sind wichtig für die Begutachtung von Lippenläsionen bei professionellen Blechbläsern und Flötisten. Tonusregulierung von MOO und M. vocalis weisen Analogien auf.


Text

Hintergrund

Die Spannungsregulierung des Musculus orbicularis oris (MOO) in Ober- und Unterlippe ist wichtig für die Tonhöhe (Frequenz) und Intonationsgenauigkeit jedes geblasenen Tones. Dies geschieht durch vier verschiedene physiologische Mechanismen, die wir anhand einer vergleichenden Literaturübersicht erläutern.

Material und Methoden

Hierzu wurden 45 Literaturquellen aus dem Zeitraum von 1732 bis 2014 unter folgenden Aspekten analysiert:

1.
Curling und Twisting
2.
(Partielle) Muskelfaserkreuzungen in Ober- und Unterlippe
3.
Buccinator-Modiolus-Komplex
4.
Einstrahlung von Teilen des Platysma in die Lippen

Die anatomischen Darstellungen, die diese Mechanismen der Tonusregulierung verdeutlichen, wurden für jeden der vier Punkte jeweils chronologisch aufgetragen, so dass insgesamt vier Zeitstrahlen resultieren. Auswahlkriterium der Abbildungen war eine detaillierte und verständliche Präsentation des jeweiligen Mechanismus.

Ergebnisse

Sowohl der M. vocalis als auch der MOO besteht aus zwei Kompartimenten: siehe Tabelle 1 [Tab. 1].

1. Curling und Twisting

Curling und Twisting sind zwei Mechanismen bei der Tonuseinstellung der Mundlippen, die eng zusammenhängen und nicht isoliert ausgeführt werden können. Sie stellen einen komplexen Bewegungsablauf dar, der aus zwei Komponenten besteht: Indem die PM sich um die PP (6,11,12) oder um sich selber (11,13) dreht (Twisting), wird die PM entweder nach außen („eversion“; 6,12,13) oder nach innen rotiert („turning inward“; 14,15). Das Ein- und Auswärtsrotieren der Randkante (PM) wird dabei als Curling bezeichnet. – Diesen komplexen Bewegungsablauf haben verschiedene Autoren in unterschiedlicher Weise immer wieder beschrieben. Dabei wurden wechselnde Termini benutzt, um den komplizierten dreidimensionalen Mechanismus zu benennen: „leichte Umkrempung der Innenzone“ des MOO (7); „Curling“ und „Everting“ (13); „Umstülpung“ der PM des MOO (16); „curled border …like the lip of a jug“ (12); „turning inward of the red portion of the lips” (14,15); „everted red of the lip“ (6); „two groups of fibres which twist completely round one another” (11).

Die beim Curling sichtbare Randkante (PM) der Mundlippen existiert analog auch am freien Rand der Stimmlippen. Die Sinusschwingungen dieser Randkante werden als Randkantenverschiebungen (mucosal waves/Schleimhautwellen) bezeichnet. Sie sind sowohl an den Stimmlippen als auch an den Mundlippen vorhanden (17,18).

Wustrow beschreibt eine „schraubenförmige Verdrehung“ der beiden Anteile (Portio thyreovocalis, Portio thyreomuscularis) des M. vocalis (1,2). Er stellt eine „Torsion“ dieser beiden Muskelanteile in Adduktionsstellung der Stimmlippen fest, wodurch die Muskelspannung sehr fein eingestellt werden kann. Eine Tonerhöhung wird somit laut Wustrow durch eine Erhöhung der Spannung des M. vocalis bei weitgehend isometrischer Kontraktion erreicht. Wird die Tonhöhe hingegen abgesenkt, dann entspannt sich der M. vocalis (ebenfalls weitgehend isometrisch), indem seine beiden Anteile weniger stark zopfartig miteinander verwoben sind. Auf diese Weise kann die Spannung des Stimmlippenmuskels und damit die Tonhöhe (Grundfrequenz der Stimme) exakt moduliert werden („Feintuning“).

Die Einstellung des Muskeltonus (und damit einhergehend die Tonhöhenregulierung) erfolgt somit an Mund- und Stimmlippen durch analoge Mechanismen (Curling und Twisting des MOO bzw. Torsion des M. vocalis).

2. (Partielle) Muskelfaserkreuzungen

Eine deutliche Überkreuzung (engl. „interdigitation“) der rechts- und linksseitigen Muskelfasern des MOO führt zu einer starken Anspannung. Im entspannten Zustand besteht hingegen nur eine geringe Überkreuzung. Die Faserkreuzung in der Oberlippe steht in engem Zusammenhang mit der Bildung des Philtrums.

Es existieren verschiedene Ansichten darüber, welche Fasern des MOO kreuzen und welche nicht: Alle Autoren (5,8,9,13,19–21) sind sich einig, dass in der PM keine Kreuzung der Fasern stattfindet. Dalla Rosa und Toldt (22) sind der Meinung, dass es gar keine Faserkreuzung im MOO gibt, abgesehen von der Überkreuzung im Modiolus. Die restlichen Autoren (3,5–10,13,16,19,23–26) weisen darauf hin, dass nur in der PP des MOO von Ober- und Unterlippe Fasern kreuzen: Lightoller (6), Roy (9), Latham und Deaton (16) sowie Bo und Ningbei (19) sind der Auffassung, dass alle Fasern der PP in der Oberlippe über die Mittellinie auf die kontralaterale Seite kreuzen und mit ihrem Ansatz auf der Gegenseite das Philtrum bilden. Nicolau (13) sowie Briedis und Jackson (3) geben an, dass nur eine partielle Kreuzung in der Oberlippe stattfindet: Die äußeren, längeren Fasern der PP in der Oberlippe kreuzen auf die kontralaterale Seite und bilden die Philtrumkante der Gegenseite. Die inneren, kürzeren Fasern kreuzen nicht und bilden die Philtrumkante der ipsilateralen Seite.

In der Unterlippe existiert kein Philtrum. Eisler (7) erläutert, dass auch in der Unterlippe eine „mediane Durchkreuzung“ der Fasern des MOO existiert. Bildlich stellen Gray (26) sowie Charpy und Nicolas (24) ebenfalls eine solche mediane Überkreuzung von Fasern in der Unterlippe dar, ohne diese jedoch im Text zu erwähnen. Spalteholz (27) und Virchow (28) hingegen zeigen auf ihren Abbildungen keine Muskelfaserkreuzungen in der Unterlippe.

3. Buccinator-Modiolus-Komplex

Der Modiolus ist ein Muskelfaserknoten am Mundwinkel, der als Insertionsstelle von vielen verschiedenen mimischen Muskeln dient. Der lateinische Begriff „Modiolus“ lautet übersetzt: Nabe eines Rades („hub of a wheel“) (11) mit seinen sternförmigen Radspeichen („radiating spokes“). Diese Bedeutung lehnt sich an den topographisch-anatomischen Aufbau des Gebildes an, welches aus einem muskulären Zentrum inmitten von einstrahlenden mimischen Muskeln besteht. - Eisler (7) beschreibt den Modiolus als „Knoten“, der „in nächster Nachbarschaft zum Mundwinkel eine innige gegenseitige Durchflechtung“ von mimischen Muskeln aufweist.

Der M. buccinator geht mit all seinen Fasern ansatzlos in den Modiolus über (11,12,20,24,29). Seine äußeren Fasern (sowohl die von oben einstrahlenden als auch die von unten einstrahlenden) kreuzen nicht (9,22,25,29–31). Die inneren Faserzüge hingegen kreuzen (7,23,24,26,30–39): Die von oben einstrahlenden inneren Fasern kreuzen in Richtung Unterlippe, die von unten einstrahlenden inneren Fasern kreuzen in Richtung Oberlippe. - Einige Autoren (7,23,26,31,32,35–37) schreiben, dass die Fasern des M. buccinator in den MOO einstrahlen. Andere Autoren (9,23,24) hingegen erklären, dass die Fasern des M. buccinator in die Haut und/oder Schleimhaut von Ober- und Unterlippe einstrahlen. Henle (36) ist sogar der Meinung, dass der Sphincter oris nur aus den Fasern besteht, „welche die beiden Mm. buccinatores einander in den Lippen entgegenschicken. Während die Fasern von beiden Seiten her in der Mittellinie zusammenfliessen…“. Cruveilhier (35) erklärt, dass der MOO kontinuierlich in die Fasern des M. buccinator übergeht. Im anatomischen Lehrbuch von Rauber und Kopsch wird in der 10. Aufl. (37), in der 13. Aufl. (33) und in der 20. Aufl. (30) beschrieben, dass diejenigen Muskelfasern („zahlreiche“ Fasern, d.h. nicht alle) des M. buccinator, die in die Lippen eintreten und sich mit dem MOO „durchflechten“, sogar einen eigenen Namen tragen: M. bucco-labialis. In der 10. und 13. Aufl. (37,33) steht zu lesen: „Diese Muskelfasern (…) führen den Namen M. bucco-labialis und bilden die Hauptgrundlage des Orbicularis oris.“

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der M. buccinator eine enge anatomische Beziehung zum MOO hat und durch seine Insertion im Modiolus auf den MOO tonusregulierend wirkt: Wenn sich beide Mm. buccinatores kontrahieren, „werden die Mundwinkel nach lateral gezogen“ (30), wodurch die Spannung im MOO erhöht wird. Dies erläutern Landeck und Döll (40): Für sie bildet der M. buccinator die „seitliche muskuläre Verlängerung der geschlossenen Lippen“, er könne die Lippen spannen und zugleich „das Vestibulum oris (…) luftdicht abschließen“.

4. Platysma

Das Platysma trägt viele Namen: Oft wird es einfach als Platysma bezeichnet (11,23,27,41,42). Bell (43) und Eisler (7) nennen es Platysma myoides. Quain (31) gibt noch weitere Namen an: M. subcutaneus colli oder M. latissimus colli. Henle (36) verwendet ebenfalls den Begriff M. subcutaneus colli. Charpy und Nicolas (24) erwähnen auch den französischen Terminus: M. peaucier (peaucier/Hautmuskel).

Viele Autoren berichten, dass das Platysma Fasern besitzt, die zum unteren Teil des Gesichtes bzw. in die Unterlippe und den Modiolus ziehen (11,23,24,26,27,31,36,42–45). Gray (44), Eisler (7), Morris (23) sowie Olszewski et al. (41) geben an, dass das Platysma direkt in den MOO einstrahlt. Henle (36) spricht allgemein davon, dass Bündel des Platysma „in der Muskulatur der Unterlippe“ enden. Bluntschli (42) sowie Burkitt und Lightoller (11) vertreten die Ansicht, dass das Platysma zweigeteilt ist: Pars aberrans und Pars labialis. Die Pars labialis teile sich wiederum in drei Teile auf: Portio modiolaris, Portio labialis und Portio mandibularis. Gray (44) beschreibt ebenfalls einen modiolaren, einen labialen und einen mandibulären Teil. Eisler (7) unterscheidet beim Platysma oberste Bündel, die im Mundwinkel und der Unterlippe inserieren, mittlere Bündel, die „teilweise steil über jene aufwärts in die Haut des Mundwinkels und in die Oberlippe“ ziehen, und unterste Bündel „wieder in die Haut der Unterlippe“. Eisler ist der einzige Autor, der einen Zusammenhang zwischen Platysma und Oberlippe herstellt.

Funktionell wirkt das Platysma gemäß seiner Insertionsstellen auf die Lippen und damit auf den MOO: Quain (31) erklärt allgemein, das Platysma beteilige sich an den mimischen Bewegungen des Gesichtes. Für Olszewski et al. (41) ist das Platysma Teil der dilatatorischen Muskeln des Mundes. Morris (23) wird spezifischer und sieht im Platysma einen Niederzieher des Mundwinkels, etwa beim Ausdruck von Traurigkeit, Schreck oder Leiden. Bluntschli (42) erkennt die mimische Funktion des Platysma, indem er schreibt: „Es ist in erster Linie ein Öffner des Unterkiefers und ein Herabzieher der Unterlippe.“ Das Spannen und Weiten der Lippen sehen Charpy und Nicolas (24) als Aufgabe des Platysma im Gesicht.

Diskussion

Während der MOO zur Produktion höherer Töne seine schwingende Masse reduziert (Curling und Twisting), wird der gleiche Effekt beim M. vocalis durch eine Erhöhung der Spannung erreicht (Torsion).

Klinisch relevant ist die Umstülpung/Drehung der PM bei Verletzungen, Kerben oder Tumorexzisionen am Lippenrand bzw. im Bereich des oralen Sphinkters: In diesen Fällen können Artikulationsstörungen der Labiallaute (lautsprachliche Artikulation betroffen) sowie bei Blechbläsern und Flötisten auch Intonationsprobleme mit mangelnder Tontreffsicherheit (bläserische Artikulation betroffen) resultieren.

Für medizinische Gutachter, die solche Verletzungen bei Berufsmusikern bewerten, spielt das Wissen über die verschiedenen Mechanismen der Tonusregulierung des MOO eine wichtige Rolle.

Fazit

Curling und Twisting, Muskelfaserkreuzungen des MOO in Ober- und Unterlippe, Buccinator-Modiolus-Komplex, sowie Einstrahlung des Platysma in die Lippen dienen der Spannungsregulierung des Lippenmuskels und sind deshalb hauptverantwortlich für die Tonhöhenregulierung beim Spielen auf Blechblasinstrumenten und Flöten.

Die verschiedenen Möglichkeiten der Tonusregulierung des MOO sind wichtig für die Begutachtung von Lippenläsionen professioneller Bläser und Flötisten. Sie weisen Analogien zur Tonusregulierung des M. vocalis auf.

Literatur bei den Verfassern