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30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 22.09.2013, Bochum

Standards der Stimmdiagnostik in Klinik und Forschung: Pflicht und Kür

Hauptvortrag

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  • corresponding author Tadeus Nawka - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bochum, 20.-22.09.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocHV9

doi: 10.3205/13dgpp46, urn:nbn:de:0183-13dgpp464

Published: September 5, 2013

© 2013 Nawka.
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Zusammenfassung

Um die unterschiedlichen Aspekte zu erfassen, die zur Einschätzung der Stimmfunktion führen, ist eine Vielzahl von Untersuchungen möglich. Eine Mindestanzahl ist erforderlich. Sie sollte die grundlegenden Dimensionen erfassen: subjektive Einschätzung der Stimme, Viedolaryngostroboskopie, akustische und aerodynamische Parameter, Stimmumfangsprofil, Selbsteinschätzung der Stimmfunktion.

Aus praktischer Sicht sollten nur die Untersuchungen gemacht werden, deren Ergebnis zu einer unmittelbaren Aussage und möglicherweise Entscheidung führt. Die Bestimmung von Reliabilität und Validität für diagnostische Methoden ist der erste Schritt. Daran schließt sich die Anwendung der Methoden in klinischen Fällen, bei Krankheitsverläufen, für Therapievergleiche oder Eignungsprüfungen an. Das ist die Grundlage für evidenzbasierte Forschung.

Einige Standardverfahren sind etabliert und in der Praxis umgesetzt. Sie werden im Vortrag erläutert. Da das diagnostische Instrumentarium in der Phoniatrie aufwändig und teuer ist, muss von jeder Einrichtung eine Auswahl darüber getroffen werden, welches Zusatzinstrumentarium gekauft wird.

Die Verwendung verschiedener Systeme ist unvermeidlich. Deshalb muss darauf geachtet werden, dass die Algorithmen, die von diesen Systemen eingesetzt werden, genau bekannt sind, um dem Ziel einer Vergleichbarkeit von multizentrisch gewonnenen Ergebnissen näher zu kommen. Auf einer konsensfähigen Basis lässt sich die erweiterte Diagnostik, insbesondere für Stimmberufler, besser planen und abstimmen.


Text

Einleitung

Aus praktischer Sicht sollten für die Stimmdiagnostik nur die Untersuchungen gemacht werden, deren Ergebnis zu einer unmittelbaren Aussage und möglicherweise Entscheidung führt.

Für eine möglichst allseitige Beschreibung der Stimmleistung sind fünf Dimensionen wesentlich:

1.
Die Wahrnehmung der Stimme durch die Umgebung,
2.
Die anatomischen/pathologischen Gegebenheiten des stimmbildenden Apparates,
3.
Der Stimmumfang
4.
Die akustischen Eigenschaften des Stimmklanges und die Aerodynamik während der Stimmgebung und
5.
Die Selbsteinschätzung der Stimmfunktion [1].

Diese Dimensionen sind relativ unabhängig voneinander. Sie lassen sich inzwischen weitgehend numerisch auf Intervallskalenniveau erfassen und damit auch wissenschaftlich bearbeiten.

Wegen des Zusammenwirkens verschiedener Organsysteme ist ersichtlich, dass eine einzelne Untersuchung nicht den gesamten Vorgang erfassen kann.

Auditiv-perzeptive Stimmbeurteilung – (b3101)

Ein wesentliches Merkmal einer „kranken“ Stimme ist die Heiserkeit. Nach dem reduktionistischen Prinzip lassen sich mindestens zwei Grundphänomene der Heiserkeit pathophysiologisch erklären: die Rauigkeit (R) und die Behauchtheit (B). Daraus resultiert der Gesamteindruck der Heiserkeit (H).

Rauigkeit und Behauchtheit sind die wesentlichen Konstituenten der Heiserkeit, auch wenn ihr Gesamteindruck noch durch andere Eigenschaften bestimmt wird, wie z. B. Stimmschwäche, gepresste Stimmgebung, Stimmanstrengung, Näseln, Instabilität des Grundtones oder Klangminderung.

Die auditiv-perzeptive Beurteilung der Heiserkeit kann entweder auf einer Ordinalskala oder auf einer visuellen Analogskala quantifiziert werden (Tabelle 1 [Tab. 1]).

Beide Skalen lassen sich ineinander überführen.

Der Stimmumfang (b3100)

Das Stimmumfangsprofil ist ein Tonhöhen-Intensitäts-Diagramm. Es wird bisher vorwiegend qualitativ beurteilt.

Für einen Stimmberuf, in dem vorwiegend die Sprechstimme eingesetzt wird, ist die Größe des Singstimmfeldes zweitrangig. Deshalb wird zur Diagnostik auch das Sprechstimmprofil aufgezeichnet. Der Zusammenhang zwischen Lautstärke beim Sprechen und Tonhöhe kann durch die Steigung des Sprechstimmprofils ausgedrückt werden. Auch wenn die Sprechstimme im Beruf kaum mehr als 70 dB auf Dauer zu leisten hat, ist die Steigerungsfähigkeit über 90 dB als Zeichen einer Stimmreserve wichtig.

Akustische Eigenschaften des Stimmklanges und Aerodynamik (b3101)

Objektive Maße zur Beschreibung der Stimmleistung sind die maximale Tonhaltedauer (MPT); die minimale Intensität (ILow); der höchste Ton (F0–High), der im Kehlkopf erzeugt werden kann; der Jitter, die mittlere Abweichung von der mittleren Frequenz in Prozent.

Diese Maße führten zur Bildung des Dysphonia Severity Index (DSI) [2].

DSI = 0,13·MPT(s) + 0,0053·F0–High – 0,26 ·ILow (dB) – 1,18·Jitter(%) + 12,4

Mit diesem Wert lassen sich Stimmfunktionsdaten statistisch bearbeiten. Da ein Zahlenwert ohne Erklärungen keine verwertbare Aussage darstellt, wurde der DSI klassifiziert (Tabelle 2 [Tab. 2]).

Laryngoskopie und Bewegungsanalyse der Glottis (s340)

Die wichtigsten Parameter bezüglich der Reliabilität und der Validität bei der Bewertung der Stimmlippenschwingung sind die Randkantenverschiebung, der nicht vibrierende Anteil der Stimmlippen, ihre Geradheit, die Form des Glottisschlusses, die Relation von Offen- zu Schlussphase und anderer Bewegungsmuster als Folge der Stimmlippenkonsistenz und des Anblasedrucks. Tabelle 3 [Tab. 3] zeigt einen Versuch, die Mindestzahl stroboskopischer Befunde nach dem Schweregrad einzuordnen. Die möglichst einfache, aber aussagekräftige zusammenfassende quantitative Beschreibung von Parametern der Bewegungsanalyse muss durch klinische Untersuchungen noch gefunden werden.

Die Selbsteinschätzung der Stimmfunktion (d330, d350)

Die Selbsteinschätzung ist eine genuine subjektive Größe, die unterschiedlich weit von einer Einschätzung der mit dem Patienten kommunizierenden Umgebung entfernt ist. Sie muss ernst genommen werden, weil sie zur Einschätzung des Krankheitsempfindens beiträgt (Tabelle 4 [Tab. 4]).

Für Sänger sind diese Fragebögen nicht geeignet. Deshalb wurde ein spezieller Singing Voice Handicap Index entwickelt und auch als deutschsprachige Version validiert [3]. In diesem Fragebogen werden sängerspezifische Probleme angesprochen.

Diskussion

Die Bestimmung von Reliabilität und Validität für diagnostische Methoden ist der erste Schritt. Daran schließt sich die Anwendung der Methoden in klinischen Fällen, bei Krankheitsverläufen, für Therapievergleiche oder Eignungsprüfungen an. Das ist die Grundlage für evidenzbasierte Forschung. In den vorstehend beschriebenen Methoden sind die Validierungsprozesse in unterschiedlich ausgedehntem Maße bereits beschritten worden. Vor allem in der Schwingungsanalyse der Glottis fehlen noch Evidenzen, wie die verschiedenen Variablen (Anblasedruck, Konsistenz der Stimmlippen und Glottisform) typischen Bewegungsmustern systematisch zugeordnet werden können.

Die Verwendung von verschiedenem diagnostischem Instrumentarium ist unvermeidlich. Deshalb müssen multizentrisch gewonnene Ergebnisse vergleichbar gemacht werden. Auch hierzu ist noch Forschungsarbeit nötig. Da das diagnostische Instrumentarium in der Phoniatrie aufwändig und teuer ist, muss von jeder Einrichtung eine Auswahl darüber getroffen werden, welches Zusatzinstrumentarium gekauft wird.

Beispiele für weitere Untersuchungen der Stimmfunktion sind Hochgeschwindigkeitsvideo, Sonographie, MRT, CT, EGG, automatisierte Bild- und Schallanalysen, aerodynamische Messungen, Mechanik, Histologie und Biochemie der Stimmlippen.

Auf einer konsensfähigen Basis lässt sich die erweiterte Diagnostik, insbesondere für Menschen mit Stimmberuf, besser planen und abstimmen.


Literatur

1.
Dejonckere PH, Bradley P, Clemente P, et al. A basic protocol for functional assessment of voice pathology, especially for investigating the efficacy of (phonosurgical) treatments and evaluating new assessment techniques. Guideline elaborated by the Committee on Phoniatrics of the European Laryngological Society (ELS). Eur Arch Otorhinolaryngol. 2001 Feb;258(2):77-82. DOI: 10.1007/s004050000299 External link
2.
Wuyts FL, De Bodt MS, Molenberghs G, Remacle M, Heylen L, Millet B, Van Lierde K, Raes J, Van de Heyning PH. The dysphonia severity index: an objective measure of vocal quality based on a multiparameter approach. J Speech Lang Hear Res. 2000 Jun;43(3):796-809.
3.
Lorenz A, et al. Validierung des Singing Voice Handicap Index in der deutschen Fassung. HNO. 2013. Im Druck.