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29. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

21.09. - 23.09.2012, Bonn

Automatisierte Differenzierung von unterschiedlichen sprachlichen Betonungsmustern bei Kindern mit Cochlea Implantat

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  • corresponding author Niki Vavatzanidis - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaft & Sächsisches Cochlear Implant Centrum, HNO, Universitätsklinikum Dresden, Leipzig & Dresden, Deutschland
  • author presenting/speaker Anja Hahne - Sächsisches Cochlear Implant Centrum, HNO, Universitätsklinikum Dresden, Dresden, Deutschland
  • author Dirk Mürbe - Sächsisches Cochlear Implant Centrum, HNO, Universitätsklinikum Dresden, Dresden, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 29. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bonn, 21.-23.09.2012. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2012. Doc12dgppP1

doi: 10.3205/12dgpp05, urn:nbn:de:0183-12dgpp056

Published: September 6, 2012

© 2012 Vavatzanidis et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Das Erkennen des spezifischen Sprachrhythmus hilft in der Phase des Spracherwerbs Wortgrenzen zu definieren und stellt so eine wichtige Voraussetzung dar, um aus einem kontinuierlichen Sprachstrom Wörter herauszuhören. Normalhörende Kinder zeigen ab dem 4. Lebensmonat eine erhöhte Sensibilität für das Betonungsmuster der eigenen Muttersprache. Bislang ist jedoch unbekannt, ab wann Kinder nach einer Cochlea-Implantation Betonungsmuster sicher und automatisiert differenzieren.

Material und Methoden: 19 Kinder (4 weiblich), die ihr CI vor Vollendung des 4. Lebensjahres erhielten (Mittel: 1;9 J), wurden mittels EEG gemessen. Die Datenerhebung erfolgte mehrfach im Abstand von 2 Monaten und begann so früh wie möglich nach Implantation. In einem von zwei Blöcken unterbrach ein trochäisch betonter Zweisilber (Deviant) die kontinuierliche Präsentation von iambisch betonten Zweisilbern (Standardstimulus), während sich im anderen Block das Verhältnis umkehrte. Der Unterschied im evozierten Potential zwischen dem Devianten und dem Standardstimulus ergibt Aufschluss, ob der Wechsel zu einem anderen Betonungsmuster wahrgenommen und verarbeitet wird.

Ergebnisse: Ab 4 Monaten nach Erstanpassung unterscheidet sich in der deskriptiven Analyse das evozierte Potential des abweichenden Betonungsmusters von dem Potential des Standardmusters. Für die statistische Analyse wird ein gemischtes Modell mit „Stimulus“ (deviant/standard) und „Elektrode“ (frontal/zentral/parietal) als feste Effekte und „CI-Tragedauer“ (0/2/4/6/8/10+ Monate) und „Hörerfahrung“ als zufällige Effekte verwendet.

Diskussion: Der jetzige Datenstand impliziert, dass sich die Fähigkeit, Unterschiede im Betonungsmustern zu erkennen, ca. 4 Monate nach Erstanpassung ausprägt. Dies wäre ein nahezu paralleler zeitlicher Verlauf zu normalhörenden Kindern und würde nahelegen, dass cochleaimplantierte Kinder trotz des präoperativ fehlenden oder verminderten Höreindrucks in Hinsicht auf die basalen Ausprägungen gesprochener Sprache keinen Wahrnehmungsnachteil haben. Für eine statistische Aussage sind die zusätzlichen Datenerhebungen der fortlaufenden Studie abzuwarten.


Text

Einleitung und Hintergrund

Ein wichtiger Schritt beim Spracherwerb ist das Erkennen von regelhaften Mustern. So können beispielsweise Regeln in der Betonung einer Sprache Kindern das Erkennen von Wortgrenzen erleichtern. In der deutschen Sprache, in der das trochäische Betonungsmuster dominiert, markiert eine betonte Silbe meist den Wortanfang eines Zweisilbers. In jambisch geprägten Sprachen wie Französisch markieren betonte Silben das Wortende. Die Sensitivität für diesen Unterschied ist früh etabliert: In einer elektrophysiologischen Studie reagierten vier Monate alte französisch- und deutschsprachige Kinder jeweils unterschiedlich auf die beiden Sprachbetonungsmuster [1]. Dass die Sensitivität für Betonungsregeln tatsächlich eine relevante Rolle beim Spracherwerb spielt, zeigt sich in der Studie von Friedrich, Herold & Friederici [2]. Kindern, die später eine Sprachentwicklungsverzögerung aufweisen, verarbeiten bereits im Alter von vier bis fünf Monaten Betonungsmuster anders als Gleichaltrige mit einer regulären Sprachentwicklung.

Für Kinder mit prä- oder perinatal erworbener hochgradiger Schwerhörigkeit, die mit einem Cochlea-Implantat (CI) versorgt werden, stellt der Spracherwerb eine besondere Herausforderung dar. Auf eine längere Phase ohne oder mit nur unzureichender Hörwahrnehmung schließt sich eine elektrische Stimulation an, die trotz großer technischer Fortschritte das natürliche Hören nicht vollständig nachbilden kann. So ist unklar, ob CI-versorgte Kinder die für den Spracherwerb notwendigen Strukturen in vergleichbarem Maß wahrnehmen können. Mit dem Paradigma der oben zitierten Studien wurden darum früh CI-versorgte Kinder auf ihre Unterscheidungsfähigkeit von Sprachbetonungsmustern untersucht.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Mismatch Negativity (MMN), eine elektrophysiologische Komponente, die sich für Kleinkindstudien besonders eignet, da sie auch in Abwesenheit jeglicher Aufmerksamkeit ausgelöst wird. Sie tritt im elektrophysiologischen Potential als Negativierung auf, wenn in einer Reihe ansonsten identischer Stimuli eine Abweichung wahrgenommen wird. Das Auftreten der MMN ist also ein sicherer Indikator dafür, dass ein spezifischer Unterschied des Stimulus für den Hörer wahrnehmbar ist (z.B. in der Tonhöhe, -länge, etc.).

Material und Methode

15 hochgradig hörgeschädigte Kinder, die in den ersten vier Lebensjahren implantiert wurden, nahmen an der Studie teil. Zwei Kinder wurden wegen CI-induzierter Artefakte bzw. eines vorzeitigen Abbruchs des Experiments von der weiteren Analyse ausgeschlossen. Von den verbleibenden Kindern (vier weiblich) betrug das Alter zum Messzeitpunkt im Mittel 2;4 Jahre (0;11–4;10). Gemessen wurde 3–4 Tage nach Erstanpassung des CIs (0 Monate) und nach zwei, vier, sechs und acht Monaten. Nicht jedes Kind konnte zu allen Zeitpunkten gemessen werden.

Für das Auslösen der MMN wurde das Oddball-Paradigma von Weber, Hahne, Friedrich & Friederici [3] verwendet. Erst- und zweitbetonte Silben (/ba:ba/ und /baba:/) wurden in zwei Blöcken à 600 Trials präsentiert (ISI = 855 ms), in denen jeweils einmal die trochäische und einmal die jambische Silbe den Standardstimulus darstellte (Standardstimulus: P=5/6, devianter Stimulus: P=1/6). Während der Messung saßen die Kinder auf dem Schoß eines Elternteils und sahen sich einen stumm geschalteten Animationsfilm an.

Die EEG-Aufzeichnung erfolgte mit nach dem internationalen 10-20-System angeordneten Ag-AgCl--Elektroden. Die Elektroden Fz, Cz, Pz, F3, F4, C3, C4, P3 und P4 sowie zwei Mastoidelektroden und vier Augenelektroden wurden mit einer Samplingrate von 500 Hz abgeleitet. Es wurde möglichst auf das Mittel beider Mastoidelektroden rereferenziert – bei zu starker Artefaktbehaftung z.B. durch ein CI-Artefakt auf nur ein Mastoid. Die Daten passierten einen Bandpassfilter von 0.3–15 Hz. Trials, in denen innerhalb eines sliding windows von 200 ms die Standardabweichung auf den Mittelelektroden 80 µV überschritt, wurden verworfen. Die Mittelung der ERPs erfolgte in einem Zeitfenster von 0–1000 ms zum Stimulusonset. Da die Stimuli in den ersten 100 ms identisch sind, wurde die Baseline auf –100 bis 100 ms gesetzt. Die Ergebnisse beschränken sich zunächst auf eine deskriptive Analyse der EKPs der Elektrode Fz, auf der der Effekt am stärksten zu sehen ist. Eine statistische Analyse erfolgt mit Erhöhung der Probandenzahl im Studienverlauf.

Ergebnisse

Der trochäische Stimulus weist bereits ab 0 Monaten einen sehr ähnlichen Verlauf zwischen der devianten und der Standardbedingung auf mit einer prominenten Positivierung bei 500 ms. Ab zwei Monaten gleichen sich auch die Verläufe beider Bedingungen des jambischen Stimulus einander an. Die Differenzierung zwischen trochäischem und jambischem Stimulus wird mit zunehmender Tragedauer um die 500 und um die 700 ms am deutlichsten. Auffällig ist die Positivierung bei 150 ms, die sich erst ab zwei Monaten Tragedauer andeutet und in den folgenden Monaten unabhängig vom Stimulustyp stark hervortritt (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Diskussion

Am auffälligsten ist die frühe Positivierung, die bei einer Tragedauer von wenigen Tagen fehlt und später prominent hervortritt. Sie lässt darauf schließen, dass selbst die basalere physiologische Verarbeitung des akustischen Stimulus nicht automatisch mit Einschalten des CIs erfolgt. Die komplexere Differenzierung zwischen jambischem und trochäischem Muster ist deskriptiv ebenfalls ab einer Tragedauer von zwei Monaten zu sehen. Die Differenzierung nimmt jedoch nicht die Form der klassischen MMN an, sondern spiegelt möglicherweise eine Mismatch Positivity wider, wie sie in den Vergleichsstudien mit normalhörenden Kindern beschrieben wird. Sollte diese Differenzierung sich als stabiler Effekt erweisen, wäre er ein Hinweis, dass Kinder mit einem CI eine ähnliche Lernentwicklung hinsichtlich des Sprachbetonungsmusters aufweisen wie normalhörende Kinder.


Literatur

1.
Friederici AD, Friedrich M, Christophe A. Brain responses in 4-month-old infants are already language specific. Curr Biol. 2007 Jul;17(14):1208-11. DOI: 10.1016/j.cub.2007.06.011 External link
2.
Friedrich M, Herold B, Friederici AD. ERP correlates of processing native and non-native language word stress in infants with different language outcomes. Cortex. 2009 May;45(5):662-76. DOI: 10.1016/j.cortex.2008.06.014 External link
3.
Weber C, Hahne A, Friedrich M, Friederici AD. Discrimination of word stress in early infant perception: electrophysiological evidence. Brain Res Cogn Brain Res. 2004 Jan;18(2):149-61. DOI: 10.1016/j.cogbrainres.2003.10.001 External link