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28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
2. Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie; Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie

09.09. - 11.09.2011, Zürich, Schweiz

Meilensteine der Stimmwissenschaft – Rückbesinnung eines Zeitzeugen

Vortrag

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), 2. Dreiländertagung D-A-CH. Zürich, 09.-11.09.2011. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2011. Doc11dgppR06

doi: 10.3205/11dgpp88, urn:nbn:de:0183-11dgpp888

Published: August 18, 2011

© 2011 Wendler.
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Der Weg durch ein 50-jähriges Berufsleben führt an zahlreichen Meilensteinen vorbei. Einige von ihnen sollen ausgewählt und hier noch einmal in Erinnerung gerufen werden.

Dazu gehören aus dem Bereich der Physiologie die Auseinandersetzungen mit der Hussonschen neurochronaxischen Theorie der Stimmerzeugung Anfang der 60er Jahre. Die Behauptung, dass die Schwingungen der Stimmlippen nicht durch Anblasen entstehen, sondern dass ihnen aktive Muskelzuckungen zugrundeliegen, löste eine Vielzahl von Studien aus, die letzten Endes die Kenntnisse über die aerodynamisch-myoelastischen Prinzipien nicht nur überzeugend bestätigten, sondern auch maßgeblich erweiterten. Raoul Hussons Werk war alles andere als wertlos, im Gegenteil, seinen ungewöhnlichen Vorstellungen verdanken wir einen bis dahin nie dagewesenen Aufschwung der Stimmwissenschaft. Einige Beispiele sollen das illustrieren. Völlig neue Perspektiven der Stimmproduktion eröffneten die Computermodelle von Ingo Titze gegen Ende des vorigen Jahrhunderts.

Für die Diagnostik besonders bedeutsam war die Einführung der Stroboskopie in die klinische Praxis, die Elimar Schönhärl durch seine Monographie 1960 eingeleitet hatte. Auch wenn sich seine Hoffnungen, damit vor allem eine präzisere Einordnung der funktionellen Dysphonien erreichen zu können, nicht erfüllt haben, so war damit doch einer erweiterten funktionellen Betrachtung des Stimmgenerators der gebührende Platz zugewiesen, mit weitreichenden Konsequenzen und der Etablierung von neuen Methoden zur objektiven Darstellung der glottischen Schwingungsvorgänge, wie Videokymographie und Hochgeschwindigkeits-Glottographie.

Die Entwicklung der Larynxmikroskopie Mitte des letzten Jahrhunderts als Grundlage der endolaryngealen Mikrochirurgie durch Oskar Kleinsasser, aufbauend auf der mikroskopischen Untersuchung des Kehlkopfs mit Hilfe eines Kolposkops durch Rosemarie Albrecht, führte zu einer neuen Verknüpfung von Diagnostik und Therapie und erwies sich als ideale Basis für die sich herausbildende Phonochirurgie. Hans von Leden muss hier als einer der Pioniere genannt werden, Minoru Hirano leistete dazu wichtige Beiträge, und Nobuhiko Isshiki erweiterte das Spektrum wesentlich durch die systematische Ausarbeitung der Rahmenchirurgie. Die Phonochirurgie, zunächst von psychologisierenden Positionen aus als mechanistisch und dem 19. Jahrhundert verhaftet heftig abqualifiziert, hat heute ihren festen Platz im Rahmen der Stimmtherapie und gewinnt ständig an Bedeutung.

Die Bemühungen um einen effektiven Ansatz zur Behandlung der lange Zeit als rein psychogen definierten spasmodischen Dysphonie brachten Herbert Dedo Mitte der 70er Jahre zu einem spektakulären Entschluss: Er durchtrennte mutwillig den von allen Operateuren stets außerordentlich respektvoll gehüteten Nervus recurrens mit verblüffenden Erfolgen. Das Verfahren wurde dann, etwa 10 Jahre später, durch einen nicht minder kühnen Eingriff weitgehend abgelöst, als Andrew Blitzer damit begann, ein schon in geringen Dosen tödliches Nervengift, das Botulinumtoxin, in die Kehlkopfmuskulatur einzuspritzen. Keine kausale, kurative Therapie, aber eine beglückende Wohltat für die betroffenen Patienten.

Begegnungen mit Hinterlassenschaften aus dem Umgang mit extrem hochmögenden Patienten: Carl Otto von Eicken, Direktor der HNO-Klinik der Berliner Charité von 1922 bis 1951 und weltweit als führend anerkannter Vertreter seines Faches, entfernte bei Hitler einen Stimmlippenpolypen. Sein untadeliges Verhalten in dieser heiklen Situation wird konterkariert von der äußerst zwielichtigen Rolle, die ein halbes Jahrhundert zuvor Morell Mackenzie (von dessen Telegrammadresse sich die Bezeichnung unseres Fachgebietes herleitet) spielte, als er den an Kehlkopfkrebs erkrankten preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, den späteren 99-Tage-Kaiser Friedrich III., behandelte – Intrigen und Quälerei.

Den Abschluss bilden einige Überlegungen zur Wandlung des öffentlichen Stimmideals. Lange Zeit war es geprägt von Reinheit und Klarheit, kurz, von Wohlklang. Mit großem Unbehagen muss man heute als Stimmfreund zur Kenntnis nehmen, dass mehr und mehr geräuschhaft überlagerten, heiseren Stimmen der Vorzug gegeben wird. Sogenannte rauchige Stimmen gelten als besonders attraktiv. Stimmen, die früher zumindest als unangenehm auffallend, wenn nicht als krankhaft galten, werden heute mit Beifall angenommen und von Akteuren unterschiedlichster Provenienz bewusst gepflegt. Der alte Stimmarzt wendet sich mit Grausen.