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28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
2. Dreiländertagung D-A-CH

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.
Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie; Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie

09.09. - 11.09.2011, Zürich, Schweiz

Dysphagie-Management beim alten Patienten – eine Herausforderung

Vortrag

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 28. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP), 2. Dreiländertagung D-A-CH. Zürich, 09.-11.09.2011. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2011. Doc11dgppR02

doi: 10.3205/11dgpp84, urn:nbn:de:0183-11dgpp847

Published: August 18, 2011

© 2011 Denk-Linnert.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Dysphagie tritt in allen Altersgruppen auf, ihre Prävalenz ist jedoch beim alten Menschen am höchsten und wird in der Literatur zwischen 15% und 51% angegeben [1], [2]. Für die Lebenserwartung des alten Menschen sind der Ernährungszustand, die Fähigkeit zur selbständigen oralen Ernährung und eine Vermeidung aspirationsbedingter pulmonaler Komplikationen von großer prognostischer Bedeutung.

Altersbedingte Veränderungen des Schluckaktes müssen nicht zwangsläufig zu einer Dysphagie führen. Man unterscheidet eine sogenannte primäre Presbyphagie (Schluckakt im Alter) ohne Krankheitswert von einer sekundären Presbyphagie mit Krankheitswert.

Management der sekundären Presbyphagie: Um der Komplexität des gestörten Schluckaktes gerecht zu werden, ist eine interdisziplinäre Kooperation von unterschiedlichen medizinischen und therapeutischen Fachdisziplinen erforderlich.

Da eine Aspiration nur durch direkte Visualisierung bewiesen oder ausgeschlossen werden kann, kommen zur Diagnostik die komplementären instrumentellen dynamischen Untersuchungsmethoden der Videoendoskopie des Schluckaktes (FEES – fiberoptic endoscopic evaluation of swallowing, FEESST – fiberoptic endoscopic evaluation of swallowing with sensory testing) und der Röntgen-Videokinematographie zum Einsatz.

Sofern keine kausale chirurgische Therapie erforderlich ist, erfolgt u.a. eine funktionelle logopädische Schlucktherapie. Überdies müssen psychische, kognitive und soziale Faktoren Berücksichtigung finden [3].

Fazit für die Praxis: Für den dysphagischen geriatrischen Patienten ist das möglichst frühzeitige Erkennen einer Aspiration sowie die Sicherstellung einer suffizienten aspirationsfreien Ernährung nicht nur für die Lebensqualität, sondern auch für die Lebenserwartung von entscheidender Bedeutung. Somit wird der Phoniater/HNO-Arzt in Zukunft zunehmend gefordert sein, ein interdisziplinär ausgerichtetes adäquates diagnostisches und therapeutisches Management vorzunehmen bzw. zu koordinieren.


Text

Einleitung und Hintergrund

Dysphagie tritt in allen Altersgruppen auf, ihre Prävalenz ist jedoch beim alten Menschen am höchsten und wird in der Literatur zwischen 15% und 51% angegeben [1], [2]. Für die Lebenserwartung des alten Menschen sind der Ernährungszustand, die Fähigkeit zur selbständigen oralen Ernährung und eine Vermeidung aspirationsbedingter pulmonaler Komplikationen von großer prognostischer Bedeutung. Die Bevölkerungsentwicklung lässt einen immer größeren Anteil alter Menschen erwarten: während derzeit etwa 23% der Bevölkerung 60 Jahre und älter sind, werden dies 2030 mehr als 30% sein (Statistik Austria). Diese Zahlen unterstreichen die große individuelle und sozio-ökonomische Bedeutung einer adäquaten HNO-ärztlichen/phoniatrischen Versorgung schluckgestörter Patienten.

Altersspezifische Veränderungen des Schluckaktes

Zahnverlust, Schleimhauttrockenheit und -atrophie, Muskelatrophie, Bindegewebsschwäche oder verminderte Gewebselastizität zählen zu den altersbedingten Veränderungen im Bereich des oberen Atem- und Schluckweges. Außerdem können Störungen der Atmung, Stimme, der Sinne (Riechen, Schmecken, Sehen), des Bewegungsapparates sowie neurodegenerative Veränderungen mit Abnahme der synaptischen Vernetzungen die Schluckfunktion beeinträchtigen. In Tabelle 1 ([Tab. 1]) sind altersspezifische Veränderungen des Schluckaktes (nach [4]) zusammengestellt.

Altersbedingte Veränderungen des Schluckaktes führen nicht zwangsläufig zu einer Dysphagie, da ein individuell unterschiedliches Kompensations- bzw. Adaptationspotential (sog. "funktionelle Reserve") zu beobachten ist. Letzteres hängt vom Allgemeinzustand des Patienten, seiner kognitiven Kompetenz und psychischen Befindlichkeit sowie von sozialen Faktoren ab. Man unterscheidet daher eine sogenannte primäre Presbyphagie (Schluckakt im Alter) ohne Krankheitswert von einer sekundären Presbyphagie mit Krankheitswert. Letztere wird durch zusätzlich zum Alterungsprozess auftretende Erkrankungen, wie z.B. zerebralen Insult, der die häufigste Dysphagie-Ursache darstellt, manifest. Zu beachten ist überdies, ob eine Schluck- und/oder Essstörung vorliegt.

Management der sekundären Presbyphagie

Um der Komplexität des gestörten Schluckaktes alter Menschen gerecht zu werden, bedarf es einer interdisziplinären Kooperation von unterschiedlichen medizinischen und therapeutischen Fachdisziplinen, u.a. HNO-Heilkunde/Phoniatrie, Radiologie, Neurologie, Innere Medizin (v.a. Geriatrie, Pulmologie, Gastroenterologie), Chirurgie, Zahnmedizin, Orthopädie, Psychiatrie, Logopädie, Physiotherapie, Diätetik,... .

Diagnostik

Da eine Aspiration (Abbildung 1 [Abb. 1]) nur durch direkte Visualisierung mittels endoskopischer und/oder Röntgen-videokinematographischer Untersuchung bewiesen oder ausgeschlossen werden kann, ist eine ausschließliche klinische Schluck-Beobachtung für diagnostische Zwecke insuffizient und hat nur in Screening-Protokollen ihre Berechtigung.

Die phoniatrische/HNO-ärztliche Untersuchung des schluckgestörten Patienten umfasst neben einer schluckzentrierten Anamnese (Erfragen von indirekten (Gewichtsverlauf!) und direkten Hinweisen auf eine Dysphagie/Aspiration; Medikamentenanamnese!) und klinischen Schluck-Beobachtung eine Video-Endoskopie des Schluckaktes (FEES – fiberoptic endoscopic evaluation of swallowing; FEESST – fiberoptic endoscopic evaluation of swallowing with sensory testing), die den pharyngealen Schluckakt sowohl morphologisch (Malignom-Ausschluss!) als auch funktionell analysiert [5], [6], [7], [8], [9]. Komplementär dazu ermöglicht die Röntgen-Videokinematographie den gesamten Schluckakt von der Mundhöhle bis in den Magen morphologisch und dynamisch darzustellen [10]. Bei Bedarf kommen weiterführende diagnostische Verfahren (z.B. 24-Stunden-pH-Metrie, Ösophago-Gastro-Duodenoskopie oder Ösophagus-Manometrie) zum Einsatz.

Therapie

Falls keine kausale chirurgische Therapie möglich/erforderlich ist (z.B. Operation eines Zenker Divertikels) kommt bei oropharyngealer Dysphagie die funktionelle logopädische Schlucktherapie zum Einsatz. Zusätzlich kann eine medikamentöse Therapie (z.B. bei Morbus Parkinson oder gastro-ösophagealem Reflux) zur Besserung einer Schluckstörung beitragen.

Die funktionelle Schlucktherapie ist ein an die jeweilige Schluckstörung individuell angepasstes Funktionstraining, das dem Patienten eine aspirationsfreie und suffiziente orale Ernährung ermöglichen soll und die speziellen Bedürfnisse des alten Patienten berücksichtigen muss. Sie umfasst kausale, kompensatorische und adaptierende Verfahren [11], [12]. Gerade alte Patienten profitieren von einer funktionellen Dysphagie-Therapie, selbst wenn sie – bei entsprechender Indikation möglichst frühzeitig – über eine PEG-Sonde ernährt werden müssen [3].

Wesentlich ist das Erkennen einer ev. zusätzlichen ösophagealen Dysphagie, die Schluckstörung verschlechternder Medikamenten-Nebenwirkungen bzw. kognitiver Defizite (M. Alzheimer!) und sozial beeinträchtigender Aspekte. Überdies helfen Maßnahmen zur Reduktion der Gebrechlichkeit („Frailty“) und eine umfassende Patientenbetreuung den Allgemeinzustand zu verbessern.

Fazit

Für den dysphagischen geriatrischen Patienten ist das möglichst frühzeitige Erkennen einer Aspiration sowie die Sicherstellung einer suffizienten aspirationsfreien Ernährung nicht nur für die Lebensqualität, sondern auch für die Lebenserwartung von entscheidender Bedeutung. Gerade alte Menschen sind durch Malnutrition und Aspirationsfolgen besonders gefährdet. Überdies müssen psychische (z.B. Altersdepression), kognitive (z.B. Demenz) und soziale Faktoren Berücksichtigung finden. Somit wird der HNO-Arzt/Phoniater in Zukunft zunehmend gefordert sein, ein interdisziplinär und holistisch ausgerichtetes adäquates diagnostisches und therapeutisches Management vorzunehmen bzw. zu koordinieren.


Literatur

1.
Chen PH, Golub JS, Hapner ER, Johns MM 3rd. Prevalence of perceived dysphagia and quality-of-life impairment in a geriatric population. Dysphagia. 2009;24(1):1-6. DOI: 10.1007/s00455-008-9156-1 External link
2.
Lin LC, Wu SC, Chen HS, Wang TG, Chen MY. Prevalence of impaired swallowing in institutionalized older people in taiwan. J Am Geriatr Soc. 2002;50(6):1118-23. DOI: 10.1046/j.1532-5415.2002.50270.x External link
3.
Becker R, Nieczaj R, Egge K, Moll A, Meinhardt M, Schulz RJ. Functional Dysphagia therapy and PEG treatment in a clinical geriatric setting. Dysphagia. 2011;26(2):108-16. DOI: 10.1007/s00455-009-9270-8 External link
4.
Schindler JS, Kelly JH. Swallowing disorders in the elderly. Laryngoscope. 2002;112(4):589-602. DOI: 10.1097/00005537-200204000-00001 External link
5.
Langmore SE. Endoscopic Evaluation and Treatment of Swallowing Disorders. New York, Stuttgart: Thieme; 2001.
6.
Aviv JE, Kim T, Sacco RL, Kaplan S, Goodhart K, Diamond B, Close LG. FEESST: a new bedside endoscopic test of the motor and sensory components of swallowing. Ann Otol Rhinol Laryngol. 1998;107(5 Pt 1):378-87.
7.
Bigenzahn W, Denk DM. Oropharyngeale Dysphagien. Ätiologie, Klinik, Diagnostik und Therapie von Schluckstörungen. New York, Stuttgart: Thieme; 1999.
8.
Denk DM, Schöfl R. Endoscopy of the Pharynx and Esophagus. In: Ekberg O, ed. Medical Radiology – Diagnostic Imaging. Radiology of the Pharynx and Oesophagus. Springer; 2004.
9.
Denk DM, Bigenzahn W. Management oropharyngealer Dysphagien. Eine Standortbestimmung. HNO. 2005;53(7):661-72.
10.
Pokieser P, Schober E, Schima W. Videocinematographie des Schluckaktes: Indikation, Methodik und Befundung. Radiologe. 1995;35(10):703-11.
11.
Bartolome G, et al. Schluckstörungen. Diagnostik und Rehabilitation. 3. Aufl. München, Jena: Urban & Fischer; 2006.
12.
Logemann JA. Evaluation and treatment of swallowing disorders. Austin: Pro-ed; 1998.