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Pädaudiologische Diagnostik nicht-organischer Hörstörungen
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Published: | August 18, 2011 |
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Zusammenfassung
Hintergrund: Die Diskrepanz zwischen auffälligem Tonaudiogramm und regelrechten objektiven Hörbefunden kennzeichnet die nicht-organische (syn. funktionelle) Hörstörung. Die Hörwerte stehen im Widerspruch zur fehlenden Behinderung der sprachlichen Verständigung. Die Prävalenz des Störungsbildes ist unklar.
Material und Methoden: Insgesamt 1,9% der 1.699 Kinder, die im Zeitraum von 1999–2009 eine BERA erhielten, erfüllten die Kriterien einer nicht-organischen Hörstörung. Von den 32 Patienten (22 Mädchen, 10 Jungen, mittleres Alter 10,7 Jahre, Spannweite 5,6–16,6 Jahre) werden Anamnese, Hörbefunde und weitere Besonderheiten dargestellt.
Ergebnisse: Schulschwierigkeiten/Lernprobleme (n=12), Hörprobleme (n=11), V. a. Lese-Rechtschreib-Schwäche (n=9) und familiäre/soziale Konflikte (n=9) waren die häufigsten anamnestische Angaben. Die mittlere Luftleitungsschwelle lag rechts bei 47,0 dB, links bei 46,1 dB, die mittlere Klick-BERA Schwelle rechts bei 15,0 dB, links bei 13,8 dB. Im Sprachaudiogramm bei 50 dB wurden rechts durchschnittlich 72,5% der Wörter diskriminiert, links 88,2%. Zwei Kinder zeigten weitere dissoziative Symptome (Seh- bzw. Gangstörung), zwei eine dissoziative Verschlechterung einer vorbestehenden Schallempfindungsschwerhörigkeit. Allen wurde eine kinderpsychologische bzw. kinderpsychiatrische Weiterbehandlung empfohlen.
Diskussion: Die Diagnosestellung der nicht seltenen nicht-organischen Hörstörung erfordert Kenntnis typischer anamnestischer Faktoren, Erfahrung bei der Audiometrie, die zusammenhängende Bewertung subjektiver und objektiver Befunde einschließlich ERA sowie Einfühlungsvermögen bei Diagnosemitteilung und Vermittlung der weitergehenden Abklärung. Differentialdiagnostisch abzugrenzen sind geringgradige Schallempfindungsschwerhörigkeiten, auditive Selektionsstörungen, auditorische Synaptopathien/Neuropathien und verzögerte tonaudiometrische Angaben z.B. bei Entwicklungsverzögerung, Autismus und geistiger Behinderung.
Text
Einleitung
Bei der nicht-organischen Hörstörung (NOH, syn. funktionelle Hörstörung, Pseudohypakusis, z.T. auch psychogene oder dissoziative Hörstörung) ist eine Diskrepanz zwischen auffälligem Tonaudiogramm und regelrechten objektiven Hörbefunden [1] charakteristisch. Auffällige Hörwerte stehen im Widerspruch zur fehlenden Behinderung der sprachlichen Verständigung [2]. Es liegt keine krankhafte Symptomatik im peripheren und/oder zentralen Hörsystem vor [3]. Abzugrenzen sind Simulation, das Vortäuschen von nicht vorhandenen Symptomen eines Krankheitsbildes, und Aggravation, bewusstes übertriebenes Betonen vorhandener Symptome, beide mit dem Ziel des Krankheitsgewinns. Die retrospektive Betrachtung der eigenen Patienten soll anamnestische, klinische und audiologische Besonderheiten dieses Krankheitsbildes darstellen.
Patienten und Methoden
32 Kinder, insgesamt 1,7% der Kinder, die im Zeitraum von 1999–2009 eine BERA erhielten, erfüllten die audiologischen Kriterien einer nicht-organischen Hörstörung. Dies waren 22 Mädchen und 10 Jungen. Das mittlere Alter der Kinder bei Erstvorstellung lag bei 10,7 Jahren, die Spannweite zwischen 5,6 und 16,6 Jahren. Anamnestische Angaben, Hörbefunde sowie weitere Besonderheiten werden im Folgenden dargestellt.
Ergebnisse
Die mittlere Luftleitungsschwelle in unserer Patientengruppe lag rechts bei 47,0 dB, links bei 46,1 dB. Die Knochenleitungsschwellen wurden beidseits besser angegeben (rechts 38,5 dB und links 38,4 dB). Die mittlere Klick-BERA-Schwelle (Luftleitung) lag rechts bei 15,0 dB, links bei 13,75 dB (bei Erreichen einer nachweisbaren Schwelle von 15 dB wurde die Messung meist beendet). Im Sprachaudiogramm bei 50 dB wurden rechts durchschnittlich 72,5% der Wörter diskriminiert, links 88,2%, bei 65 dB rechts 85,5%.
Die häufigsten anamnestische Angaben der Kinder waren allgemeine Schulschwierigkeiten/Lernprobleme (n=12), Hörprobleme auch im häuslichen Rahmen: z.B. schlechte Reaktion auf Ansprache/Fernseher laut (n=11), (V.a.) Lese-Rechtschreib-Schwäche (n=9), Trauma/familiärer/sozialer Konflikt (n=9), Hörprobleme nur in der Schule (n=8) und Schwerhörigkeit in der Familie (n=4).
Zwei Kinder zeigten weitere dissoziative Symptome (Seh- bzw. Gangstörung). Zusätzlich fanden wir zwei Kinder mit V.a. nicht-organische Verschlechterung einer vorbestehenden Schallempfindungsschwerhörigkeit. Allen Kindern wurde eine kinderpsychologische bzw. kinderpsychiatrische Weiterbehandlung empfohlen, Befunde hierzu liegen jedoch nicht vor.
Diskussion
Die Diagnose der nicht seltenen nicht-organischen Hörstörung erfordert Kenntnis typischer anamnestischer Faktoren, Erfahrung bei der Audiometrie, die zusammenhängende Bewertung subjektiver und objektiver Befunde einschließlich ERA sowie Einfühlungsvermögen bei Diagnosemitteilung und Vermittlung der weitergehenden Abklärung. Differentialdiagnostisch abzugrenzen sind u.a. geringgradige Schalllempfindungsschwerhörigkeiten mit teilweise erhaltenen otoakustischen Emissionen und zum Teil nur geringen Auffälligkeiten im Sprachaudiogramm, auditive Selektionsstörungen mit Hörproblemen vor allem im Störschall, auditorische Synaptopathien/Neuropathien (hier aber typischerweise schlechteres Sprach- als Tonaudiogramm) und verzögerte tonaudiometrische Angaben z.B. bei Entwicklungsverzögerung, Autismus und geistiger Behinderung.
Literatur
- 1.
- Morita S, Suzuki M, Iizuka K. Non-organic hearing loss in childhood. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2010;74(5):441-6. DOI: 10.1016/j.ijporl.2010.01.003
- 2.
- Feldmann H. Das Bild der psychogenen Hörstorung heute. Laryngo-Rhino-Otologie. 1989;68:249-58. DOI: 10.1055/s-2007-998329
- 3.
- Böhme G. Nichtorganische (funktionelle) Hörstörungen im Kindesalter. Laryngo-Rhino-Otologie. 1984;63:147-50.
- 4.
- Streppel M, Brusis T. Simulation und Aggravation in der ärztlichen Begutachtung. HNO. 2007;55(Suppl 1): e7-e14. DOI: 10.1007/s00106-006-1433-4