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27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

17.09. - 19.09.2010, Aachen

Entspannung als Wirkfaktor in der manuellen Stimmbehandlung

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Bernhard Lehnert - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen/Medizinische Fakultät der RWTH Aachen University, Aachen, Deutschland
  • author Hannah Schlasze - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen/Medizinische Fakultät der RWTH Aachen University, Aachen, Deutschland
  • author Sarah Siebertz - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen/Medizinische Fakultät der RWTH Aachen University, Aachen, Deutschland
  • author Christiane Neuschaefer-Rube - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen/Medizinische Fakultät der RWTH Aachen University, Aachen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 27. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Aachen, 17.-19.09.2010. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2010. Doc10dgppV32

doi: 10.3205/10dgpp47, urn:nbn:de:0183-10dgpp479

Published: August 31, 2010

© 2010 Lehnert et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Verschiedene Studien sprechen für eine Wirksamkeit der Manuellen Therapien (z. B. Osteopathie) nicht nur bei der sog. „Zervikogenen Dysphonie“, sondern auch bei hyperfunktionellen Dysphonien.

Unsere klinische Erfahrung zeigt, dass Patienten eine manuelle Behandlung der HWS als sehr entspannend empfinden. Uns sind keine Arbeiten bekannt, die den Anteil dieser allgemeinen Entspannung am Behandlungserfolg der Manuellen Therapien untersuchen. Wir stellen eine erste Studie zum Vergleich der Wirksamkeit einer osteopathischen und der einer Entspannungsmethode (Progressive Muskelrelaxation (PMR)) vor.

Material und Methoden: 8 Patientinnen mit hyperfunktioneller Dysphonie wurden im Abstand von einer Woche 2x behandelt. Einmal mit PMR, einmal osteopathisch über je 45 Min. Vorher und nachher wurde die Stimme verblindet beurteilt und eine Stimmlippenstroboskopie wurde verblindet ausgewertet. Die Patientinnen füllten Fragebögen zu Missempfindungen im Vokaltrakt aus und gaben das durch die Behandlungen erzielte Maß an Entspannung auf einer Visuellen Analogskala an.

Ergebnisse:

  • Entspannung wurde durch die Osteopathie stärker als durch die PMR erreicht (p=0,04).
  • Unangenehme Empfindungen im Vokaltrakt nahmen durch Osteopathie stärker ab als durch PMR (p=0,02).
  • Im Stroboskopiescore wurde durch die Osteopathie eine signifikant höhere Verbesserung erreicht (p<0,001).

Diskussion:

  • Wir konnten zeigen, dass allgemeine Entspannung eine wesentliche Größe in der Manuellen Stimmtherapie darstellt. Sie darf in Studien nicht weiter vernachlässigt werden.
  • Trotz unserer kleinen Fallzahl war die osteopathische einer reinen Entspannungstherapie in verschiedener Hinsicht überlegen. Dies ermutigt zu einer weiteren Untersuchung dieser Verfahren in größeren Studien.

Text

Einleitung und Hintergrund

Manuelle Behandlungsmethoden wie z.B. die Chirotherapie und die sog. parietale Osteopathie haben sich zur Behandlung funktioneller Störungen des Bewegungsapparates etabliert. Ihre Anwendung bei funktionellen Störungen der Stimme ist nicht neu aber noch unzureichend untersucht. Da die Standardverfahren zur Behandlung funktioneller Stimmstörungen eine oft unbefriedigende Wirksamkeit und Effizienz aufweisen, erscheint es sinnvoll, manuelle Behandlungsmethoden auch im Rahmen der Stimmtherapie zu evaluieren.

Die wenigen bisher publizierten Arbeiten machen Hoffnung: So hat Hülse [1], [2] von guten Erfolgen bei der Behandlung „zervikogener Dysphonien“ durch Deblockierungen an der HWS berichtet und Stuhrmann und Schade [3] haben 2007 auf der DGPP-Jahrestagung von guten Erfolgen in der Behandlung von Dysphonien durch HWS- und Kiefergelenksbehandlungen in Verbindung mit Ohrakupunktur berichtet. International scheint man den Fokus weniger auf der Behandlung der HWS zu legen und den Weichteilen des vorderen Halses größere Bedeutung beizumessen. Roy et al. [4], [5] konnten in mehreren prospektiven Untersuchungen über eine „zirkumlaryngeale“ manuelle Behandlung wiederholt eine Verbesserung der Stimmqualität sowohl perzeptuell als auch elektroakustisch beobachten. Auch Mathieson et al. [6] beschreiben eine Behandlung der Halsweichteile ohne gezielte Berücksichtigung der Zwischenwirbelgelenke die trotz einer kleinen Fallzahl zu einer signifikanten Besserung der Stimmqualität sowohl perzeptuell als auch elektroakustisch führte. Die Mehrzahl der Arbeiten weisen aber methodische Schwächen auf. Insbesondere fehlen kontrollierte Studien.

Daneben wird in der bisherigen Literatur der folgende Aspekt nicht beachtet:

Wir konnten beobachten, dass nahezu alle von uns manuell im Bereich der HWS behandelten Patienten nach der Behandlung von einer erheblichen Entspannung berichten. Allein die Entspannung kann aber bereits zu einer Stimmverbesserung bei hyperfunktionellen Dysphonien führen. Unter diesem Aspekt stellt sich die Frage, ob die durch manuelle Behandlungen erzielte Stimmverbesserung vollständig durch die Entspannung zu erklären ist oder ob darüber hinaus eine spezifische Wirksamkeit der manuellen Behandlungsmethoden vorliegt.

Material und Methode

Wir stellen eine prospektive, kontrollierte Studie zum Vergleich der Soforteffekte eines Manuellen Verfahrens mit den Soforteffekten eines Entspannungsverfahrens vor.

Als Manuelles Verfahren wurde eine osteopathische Behandlung gewählt. Wir kürzen diese Behandlung im Folgenden mit „OMT“ (für Osteopathische Manipulative Therapie) ab. Die Behandlung erfolgte immer durch denselben HNO-Facharzt der neben der Zusatzbezeichnung Manuelle Medizin über eine Zusatzqualifikation als Osteopath verfügt. Angewendet wurden je nach Tastbefunden Massagen, Dehnungen, „Entspannung durch Lagerung“, sog. „Still-Techniken“ und aktive Muskelkontraktionen sowohl am Hals als auch an Wirbelsäule und Hüftmuskulatur. Auf Techniken des sog. „Einrenkens“ wurde im Rahmen der Studie verzichtet.

Als Entspannungsverfahren wurde die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson gewählt. Diese kürzen wir im Folgenden mit „PMR“ ab. Die Probandinnen wurden zur PMR durch eine Psychologin angeleitet. Dies erfolgte als Einzelbehandlung im Liegen. Beide Behandlungen erfolgten im selben Raum und über jeweils 45 Minuten. Zwischen beiden Behandlungen lag je mindestens eine Woche „wash-out“-Phase. Die Reihenfolge der Methoden war randomisiert.

8 Patientinnen mit hyperfunktioneller Dysphonie wurden aus Logopädiepraxen und HNO-Arzt-Praxen rekrutiert um einen möglichen Bias durch ein selektiertes Patientengut unserer universitären Einrichtung zu vermeiden. Die Diagnose wurde durch eine phoniatrische Anamnese und Untersuchung durch uns bestätigt. Die Altersspanne der Probandinnen reichte von 21 bis 43 (Ø 29,4) Jahren, der VHI bei Einschluss in die Studie von 17 bis 59 (Ø 32,1).

Vor und nach jeder Behandlung erfolgte eine Stroboskopie und es wurden durch einen Fragebogen Dysästhesien im Vokaltrakt erfragt. Hierzu erstellten wir einen sehr stark an den VTD von Mathieson [6] angelehnten Score (8 Items mit einer 7 stufigen Likertskala), der ebenso wie sein englischsprachiges Vorbild nicht testtheoretisch validiert wurde. Die gefühlte Entspannung wurde nach jeder Behandlung auf einer visuellen Analogskala von 10 cm Länge abgefragt.

Ergebnisse

In der Visuellen Analogskala für die gefühlte Entspannung gaben die Patientinnen nach OMT durchschnittlich 9,15, nach PMR durchschnittlich 7,9 von 10 an. Der Unterschied war mit p=0,04 signifikant. Der durchschnittliche Score im Fragebogen zu Vokaltraktdysästhesien wurde durch die OMT von 20,9 auf 6,6 und durch die PMR von 15,5 auf 7,75 gesenkt. Beide Behandlungen senkten den Score signifikant (p<0,03), die OMT Behandlung führte zu einer ausgeprägteren Vorher-Nachher-Differenz als die PMR (p=0,02).

Die Auswertung der Stroboskopievideos erfolgte verblindet. Die Videos einer Patientin konnten wegen unzureichender Beurteilbarkeit nicht einbezogen werden. Durch die OMT wurden die Scores von durchschnittlich 6,3 auf 3,6 gesenkt (p=0,01), durch die PMR von 3,86 auf 4,29 nicht signifikant verändert (p=0,68).

Diskussion

Unsere erste Hypothese, dass auch die osteopathische Behandlung zu einer allgemeinen Entspannung führt, wurde mehr als bestätigt: Die Entspannung war sogar stärker ausgeprägt als nach der PMR. Auch die zweite Hypothese, dass der Entspannung eine nennenswerte Bedeutung für die Stimmqualität zukommt, wurde bestätigt: Nach beiden Behandlungsmethoden zeigte sich jeweils eine signifikante Verbesserung des Vokaltrakt-Dysästhesie-Scores. Der Entspannungsaspekt darf daher in zukünftigen Studien nicht weiter unbeachtet bleiben.

Die Befragung nach Dysästhesien im Vokaltrakt erfolgte mit einem nicht validierten Fragebogeninstrument. Keine der Probandinnen gab Probleme beim Ausfüllen der Bögen an. Die Überlegenheit der OMT gegenüber der PMR war signifikant. Ob dies durch eine spezifische Wirksamkeit der OMT oder unspezifisch durch die größere durch die OMT erzielte Entspannung zu erklären ist, bleibt dabei zunächst offen. Folgestudien werden daher zum einen nach effektiveren Entspannungsmethoden für die Kontrollgruppe suchen müssen.

Eine Verbesserung des Stroboskopie-Scores war nur nach der OMT, nicht aber nach der PMR nachweisbar. Bei nochmals verringerter Fallzahl im Stroboskopie-Score auf n=7 muss dies vorsichtig gewertet werden, deutet aber eine spezifische Überlegenheit dieses Behandlungsmodus' an.

Neben anderen Vergleichsgruppen wird in Folgestudien zu prüfen sein, ob den manuellen Behandlungsverfahren neben den hier untersuchten Soforteffekten auch eine nachhaltige Langzeitwirkung zukommt. Bisher vorliegende Studien ohne Kontrollgruppe legen dies nahe.

Unser subjektiver Eindruck war, dass die Probandinnen durch die schnell erzielten Soforteffekte eine Verbesserung der Selbstwahrnehmung erfuhren die sich in klassischer Stimmtherapie eher langsamer einstellt. Sollte sich dies bestätigen lassen, würde sich hier ein Platz für die manuellen Verfahren innerhalb einer multimodalen Stimmtherapie abzeichnen.


Literatur

1.
Hülse M. Die funktionelle Dysphonie nach Halswirbeltrauma. Laryngo-Rhino-Otol. 1991;70(11):599-603. DOI: 10.1055/s-2007-998105 External link
2.
Hülse M, Hölzl M. Effektivität der manuellen Medizin in der HNO. HNO. 2004;52(3):227-34.
3.
Stuhrmann N, Schade G. Manualtherapeutische Intervention bei zervikogener Dysphonie. In: Dreiländertagung D-A-CH, 24. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e.V. Innsbruck, Österreich, 28.-30.09.2007. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2007. Doc07dgppP03. Available from: http://www.egms.de/static/en/meetings/dgpp2007/07dgpp13.shtml External link
4.
Roy N, et al. Manual circumlaryngeal therapy for functional dysphonia: an evaluation of short- and long-term treatment outcomes. J Voice. 1997;11(3):321-31. DOI: 10.1016/S0892-1997(97)80011-2 External link
5.
Roy N, et al. Articulatory changes in muscle tension dysphonia: evidence of vowel space expansion following manual circumlaryngeal therapy. J Commun Disord. 2009;42(2):124-35. DOI: 10.1016/j.jcomdis.2008.10.001 External link
6.
Mathieson L, et al. Laryngeal manual therapy: a preliminary study to examine its treatment effects in the management of muscle tension dysphonia. J Voice. 2009;23(3):353-66. DOI: 10.1016/j.jvoice.2007.10.002 External link