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26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

11.09. - 13.09.2009, Leipzig

Über Zungenfertigkeiten hinaus: Taktil-kinästhetische Responsivität bei sprachentwicklungsgestörten Kindern und Kindern mit entwicklungsbedingten Artikulationsstörungen

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  • corresponding author presenting/speaker Christiane Kiese-Himmel - Universitätsmedizin, Göttingen, Deutschland
  • Katja Maaß - Universitätsmedizin, Göttingen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 11.-13.09.2009. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2009. Doc09dgppP17

doi: 10.3205/09dgpp55, urn:nbn:de:0183-09dgpp551

Published: September 7, 2009

© 2009 Kiese-Himmel et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Taktil-kinästhetische Responsivität (TKR) ist wesentlich sowohl für die Sprachlautbildung (kinästhetische Differenzierung, bei der oral-taktile Sensitivität sowie die Feinmotorik von Lippen und Zunge involviert sind) als auch für die Sprachentwicklung (Wortbedeutungserwerb). Es fehlen Studien, die die TKR an Kindern mit Sprachentwicklungs- resp. isolierten entwicklungsbedingten Artikulationsstörungen untersuchen.

Fragestellung: Vermag TKR zwischen Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (SSES) und gesunden Kindern bzw. solchen mit isolierten Artikulationsstörungen (AS) und gesunden Kindern zu differenzieren und vermag TKR die klinischen Gruppen voneinander zu trennen?

Methode: Diagnostischer Elternfragebogen zur TKR (Kiese-Himmel, 2000).

Studienkollektiv: Kinder mit SSES (n=50), mit entwicklungsbedingten AS (n=27), gesunde Kinder (n=87).

Ergebnisse: Kinder mit SSES (M=13,3; SD 8,3) zeigten im Vergleich zu gesunden Kindern (M=8,6; SD 5,1) einen statistisch signifikant höheren (tendenziell auffälligen) mittl. DEF-TK-Gesamtscore (t (70.80)=3.607; p=.001); Kinder mit entwicklungsbedingten AS (M=10,3; SD 7,4) unterschieden sich diesbezüglich nicht statistisch bedeutsam von gesunden Kindern (t (112)=1.372, p=.173). Zwischen den klinischen Gruppen bestand ebenfalls keine statistisch signifikante Differenz (t (75)=1.539, p=.128).

Fazit: Für die Sprachentwicklung spielt offenbar die gesamtkörperliche TKR eine Rolle, die der DEF-TK zu erfassen vermag. Der DEF-TK erfasst nicht artikulationsspezifische TKR.


Text

Einleitung

Studien, welche die taktil-kinästhetische Responsivität (TKR), meint das Antwortmuster, in täglichen Routinen auf entsprechende sensorische Informationen zu reagieren, von sprachentwicklungs- mit artikulationsgestörten Kindern vergleichen, sind rar. Daher gingen wir folgenden Fragen nach:

1.
Differenziert TKR zwischen Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen und normalgesunden Kindern (Kontrollgruppe) resp. solchen mit entwicklungsbedingten Artikulationsstörungen und normalgesunden Kindern (Kontrollgruppe)?
2.
Trennt TKR die klinischen Gruppen?

Ad 1: Kinder mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (SSES) weisen vor allem in komplexen taktil-kinästhetischen Anforderungen Defizite im Vergleich zu gesunden Kindern auf (z. B. [5], [6]). Daher wurde folgende Hypothese abgeleitet: Kinder mit SSES haben im Vergleich zu gesunden Kindern eine tendenziell auffällige TKR.

Studien zur TKR von Kindern mit entwicklungsbedingten Aussprachestörungen (AS) beschränken sich – konform zu der früheren Auffassung als rein phonetische Störung – meist auf die Untersuchung von Abweichungen innerhalb des oralen Bereichs (z. B. [3], [10]. Debuschewitz et al. [1] konnten für Kinder mit entwicklungsbedingten AS eine statistisch signifikant auffällige TKR gegenüber gesunden Kindern nachweisen. Daher lautete die zu prüfende Hypothese: Kinder mit entwicklungsbedingten AS haben im Vergleich zu gesunden Kindern eine tendenziell auffällige TKR.

Ad 2: Vergleich der klinischen Gruppen (SSES vs. entwicklungsbedingte AS): Während für SSES-Kinder Evidenz für Defizite komplexer taktil-kinästhetischer Leistungen wie der haptischen Formdiskrimination besteht, liegen für Kinder mit AS nur Angaben für den oralen Bereich vor, wie eben genannt. Die zu prüfende Hypothese war: SSES-Kinder haben im Vergleich zu Kindern mit entwicklungsbedingten AS eine tendenziell auffällige TKR.

Methodik

Es wurde der Diagnostische Elternfragebogen zur Taktil-Kinästhetischen Responsivität im frühen Kindesalter eingesetzt [4]. Auffällige TKR wird durch einen großen Gesamtscore operationalisiert (gem. Manual für 4;0–7;11-Jährige: ab Wert 16). Für die Vergleiche der mittleren DEF-TK-Gesamtscores wurde je ein t-Test für unabhängige Stichproben durchgeführt. Um der Kumulierung des α-Fehlers aufgrund der multiplen Vergleiche entgegen zu wirken, wurde die gewählte Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% adjustiert (Bonferroni-Korrektur: α=.02).

Studiengruppen

Kinder mit SSES (n=50; mittl. Lebensalter: 51,8 Monate; SD 15,0), Kinder mit entwicklungsbedingten AS (n=27; mittl. Lebensalter: 62,7 Monate; SD 9,9), normalgesunde Kinder (n=87; mittl. Lebensalter: 56,3 Monate; SD 18,9). AS-Kinder waren statistisch signifikant älter als SSES-Kinder (t (74.86)=3.93, p<.05) und gesunde Kinder (t (89.84)=2.22, p<.05). Da sich in keiner Gruppe statistisch signifikante Korrelationen zwischen dem Lebensalter und dem DEF-TK-Gesamtscore zeigten, blieb die Variable „Alter“ unberücksichtigt.

Ergebnisse

1.
Mittelwertsvergleich klinische Gruppen – Kontrollgruppe:
SSES-Kinder (M=13,3; SD=8,3) unterschieden sich in ihrem mittleren DEF-TK-Gesamtscore von den Gesunden (M=8,6; SD=5,1) statistisch signifikant zu Gunsten letztgenannter (t (70.80)=3.607, p=.001). Da der Wert der empirischen (d emp) über der vorher festgelegten kritischen Effektgröße (δkrit) lag, sprach dies für die Annahme der Hypothese. Kinder mit entwicklungsbedingten AS (M=10,3; SD=7,4) und gesunde Kinder (M=8.6; SD=5.1) unterschieden sich in ihrem mittleren DEF-TK-Gesamtscore nicht statistisch bedeutsam (t (112)=1.372, p=.173), was zur Hypothesenablehnung führte.
2.
Mittelwertsvergleich zwischen den klinischen Gruppen:
SSES-Kinder (M=13,3; SD=8,3) zeigten tendenziell einen größeren mittleren DEF-TK-Gesamtscore als Kinder mit entwicklungsbedingten AS (M=10,3; SD=7,4). Die Differenz war jedoch statistisch insignifikant (t (75)=1.539, p=.128), so dass die Hypothese abgelehnt wurde.

Diskussion

1.
Die Ergebnisse von Kiese-Himmel & Kiefer [4] mit dem DEF-TK konnten repliziert werden und reihen sich auch ansonsten in die Literatur ein, welche beeinträchtigte taktil-kinästhetische Leistungen bei SSES-Kindern belegt (z. B. [7], [5]). Kinder mit entwicklungsbedingten AS unterschieden sich in der Höhe ihres mittleren DEF-TK-Gesamtscores nicht von gesunden Kindern. Möglicherweise ist die Ausprägung der TKR Ausdruck des Schweregrads der AS, wie die Studie von Debuschewitz et al. [1] nahe legt; sie wies für Kinder mit multiplen Artikulationsstörungen eine statistisch signifikant auffällige TKR nach (im Vergleich zu gesunden Kindern).
2.
SSES-Kinder hatten einen größeren (tendenziell auffälligen) DEF-TK-Gesamtscore als Kinder mit entwicklungsbedingten AS (n.s.), allerdings war bei ihnen die Zahl der fehl artikulierten Laute größer. Das könnte einen fließenden Übergang zwischen diesen klinischen Klientelen andeuten. Die DEF-TK-Items operationalisieren die qualitativen taktil-kinästhetischen Merkmale, die aus der dinglichen Umwelt, von anderen Personen sowie aus dem eigenen Körper rezipiert werden und deren Verarbeitung die sog. „sensomotorische Welterfahrung“ bildet. Sensomotorische Welterfahrung ist die Grundlage für den Erwerb von Wortbedeutungen, deren Inhalte erst später versprachlicht werden und bei SSES-Kindern möglicherweise beeinträchtigt sind.
Der DEF-TK besitzt demnach differentielle Validität für spezifisch sprachentwicklungsgestörte Kinder.

Literatur

1.
Debuschewitz A, Winkler U, Günther T, Kiese-Himmel C. Die Bedeutung der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung bei Kindern mit Aussprachestörungen. Sprache-Stimme-Gehör 2004;28:171-7.
2.
Fischera M, Hoppe U, Eysholdt U, Rosanowski F. Taktil-kinasthetische Responsivitat bei Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten. Laryngorhinootologie. 2005;84(4):239-45.
3.
Fucci D, Petrosino L, Underwood G, Clark H. Differences in lingual vibrotactile threshold shifts during magnitude-estimation scaling between normal-speaking children and children with articulation problems. Percept Mot Skills. 1992;75:495-504.
4.
Kiese-Himmel C, Kiefer S. Taktil-kinästhetische Responsivität und handmotorische Kontrolle bei sprachentwicklungsgestörten und sprachauffälligen Kindern. In: Gross M, Hrsg. Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 1998/99. Bd 6. Heidelberg: Median-Verlag von Killisch-Horn; 1999. S. 339-42.
5.
Kiese-Himmel C, Kruse E. Höhere taktile und kinästhetische Funktionen bei ehemals sprech-/sprachentwicklungsgestörten Kindern: Eine neuropsychologische Studie. Folia Phoniatr Logop. 1998;50:195-204.
6.
Kiese-Himmel C, Schiebusch-Reiter U. Haptische Formdiskrimination. Gruppenvergleich von sprachunauffälligen und ehemals sprachentwicklungsgestörten Kindern. HNO. 1998;47:45-50.
7.
Kiese-Himmel C, Schiebusch-Reiter U. Taktil-kinästhetisches Erkennen bei sprachentwicklungs-gestörten Kindern. Sprache & Kognition 1995;14:126-37.
8.
Kiese-Himmel C. Diagnostischer Elternfragebogen zur Taktil-Kinästhetischen Responsivität im frühen Kindesalter (DEF-TK). Göttingen: Beltz; 2000
9.
Kiese-Himmel C. Zur Bedeutung der Taktil-Kinästhetik für die Sprachentwicklung. Poster auf der 71. Jahrestagung der Dtsch. Gesellschaft für Stimm- und Sprachheilkunde in Berlin. HNO. 1999;47:852.
10.
Speirs RL, Maktabi MA. Tongue skills and clearance of toffee in two age-groups and in children with problems in speech articulation. J Dent Child. 1990;57:356-60.