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26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

11.09. - 13.09.2009, Leipzig

Aphasie bei Kindern – die unerkannten Aphasien

Vortrag

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 11.-13.09.2009. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2009. Doc09dgppV36

doi: 10.3205/09dgpp52, urn:nbn:de:0183-09dgpp521

Published: September 7, 2009

© 2009 Kubandt.
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Zusammenfassung

Schädel-Hirn-Trauma ist zu 80% die Hauptursache für Aphasien im Kindesalter. Vaskuläre Ursachen, Gehirntumore, entzündliche Prozesse und Hypoxien sind weitere Ätiologien. Konzentrations-, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen treten begleitend auf. Wissenschaftlich gesicherte Zahlen zu Inzidenz und Prävalenz fehlen. Der Bundesverband Aphasie e.V. spricht von einer Inzidenzrate von ca. 3000 Kindern und Jugendlichen bis 15 Jahren. Im Unterschied zu Aphasie im Erwachsenenalter wird die Aphasie im Kindesalter häufig nicht rechtzeitig erkannt. Es wird vermutet, dass viele Sprachentwicklungsstörungen unerkannte Aphasien sind.

Fachleute sprechen ab ca. dem 2. Lebensjahr von einer kindlichen Aphasie, wenn der Spracherwerb auf Wortebene bereits eingesetzt hat. Die Symptomatik reicht von einem posttraumatischen Mutismus, der Reduktion von Spontansprache, über Sprachverständnisstörungen bis hin zu komplexen Beeinträchtigungen der Schriftsprache. Entgegen langjähriger Meinungen ist die Prognose nicht gut. Aphasische Symptome treten teils erst lange nach dem Akutereignis auf und werden dann häufig nicht erkannt. Kinder wachsen sozusagen erst in ihr endgültiges Defizit hinein („Growing into the Deficit“). Daher sind wiederholte Begutachtungen erforderlich, die die Entwicklung des Kindes bzw. Jugendlichen nach Unfall oder Erkrankung begleiten. Der Bundesverband Aphasie e.V. hat es sich zur Aufgabe gemacht, in Fachkreisen für dieses Phänomen zu sensibilisieren.


Text

Hintergrund

Aphasie bei Kindern ist lange Zeit weder in der wissenschaftlichen Forschung noch in Rehabilitation und Nachsorge ausreichend berücksichtigt worden. Im Vergleich zu Aphasien bei Erwachsenen bedarf es zu Aphasien im Kindesalter nach wie vor ausgeprägter Grundlagenforschung. In den letzten Jahren haben sich veränderte Sichtweisen ergeben, die im nationalen Aphasiediskurs kaum Beachtung finden. Daher sind Aphasien bei Kindern und ihre Folgen selbst Fachleuten kaum bekannt. Nach einer Schätzung des Bundesverbands Aphasie e.V. erleiden in Deutschland etwa 3000 Kinder und Jugendliche bis zum 15. Lebensjahr eine Aphasie neu. Wissenschaftlich gesicherte Zahlen zur Inzidenz und Prävalenz fehlen. Oftmals handelt es sich bei den kindlichen Aphasien um ein nicht erkanntes bzw. wenig berücksichtigtes Phänomen. Eine Ursache dafür ist, dass es sich dabei selten um ein isoliertes Phänomen handelt. Bleiben die aphasischen Kinder unerkannt, erhalten die betroffenen Kinder nicht die notwendige Versorgung und Rehabilitation.

Aphasien bei Kindern – die unerkannten Aphasien

Spencer [11] sieht im Schädel-Hirn-Trauma (SHT) mit ca. 80% die Hauptursache der Aphasien im Kindesalter. Dabei werden hauptsächlich diffuse, meist sogar bilaterale Schädigungen beobachtet, die in unterschiedlichem Ausmaß vielfältige Begleiterscheinungen nach sich ziehen. Weitere Ursachen für Aphasien bei Kindern sind unter anderem Schlaganfälle, Hirntumore, Hypoxien, Enzephalitiden und Epilepsien [2]. Kindliche Aphasien unterscheiden sich im Erscheinungsbild, im Verlauf und in den pathogenetischen Bedingungen erheblich von denen bei Erwachsenen [8].

Bei einer Aphasie handelt es sich um den Verlust bzw. die Beeinträchtigung einer bereits erworbenen Sprachfähigkeit. In der Praxis werden hirngeschädigte Kinder vor Abschluss der Sprachentwicklung von den meisten Autoren demnach erst ab etwa eineinhalb bis zwei Jahren als aphasisch eingestuft, d.h. wenn der Spracherwerb auf Wortebene bereits eingesetzt hat [12], [6], [9]. Darin zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zu Sprachentwicklungsstörungen, da kindliche Aphasien nach bzw. während eines zunächst normal verlaufenden Spracherwerbs eintreten und die Folge eines klar umschriebenen Ereignisses sind. In diesem Zusammenhang wird vermutet, dass viele Sprachentwicklungsstörungen eigentlich unerkannte Aphasien sind [4], [3].

Symptomatik der kindlichen Aphasien

Die Symptomatik bei Kindern ist vielfältig und reicht von einem initialen Mutismus, der Reduktion der Spontansprache, über Sprachverständnisstörungen bis hin zu komplexen Beeinträchtigungen der Schriftsprache, die sich oftmals erst lange nach Schädigungszeitpunkt offenbaren [5], [9], [10]. Eine Intelligenzminderung liegt in der Regel nicht vor. Aufgrund der erworbenen Hirnschädigung sind neben der Aphasie häufig Begleitsymptome wie Hemiplegien anzutreffen. Auch Epilepsien, Dysphagien sowie Sprechapraxien können auftreten. Ist das Frontalhirn mitbetroffen, kommt es nicht selten zu Konzentrations-, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen [11]. Miller et al. [7] haben festgestellt, dass kindliche Aphasien häufig mit Verstehensproblemen einhergehen und sprechen unter anderem davon, dass viele betroffene Kinder wie taub erscheinen und sich entsprechend verhalten.

Prognose und Verlauf

Ein wichtiger Aspekt, der vielfach unberücksichtigt bleibt, ist die Tatsache, dass bei Kindern aphasische Symptome teils erst lange nach dem Akutereignis auftreten können und dann häufig nicht erkannt werden. Dies kann eine weitere Ursache dafür sein, dass viele Aphasien im Kindesalter unerkannt bleiben. Benz und Ritz [1] sprechen davon, dass Kinder sozusagen erst in ihr endgültiges Defizit hineinwachsen („Growing into the Defizit“). Daher sind wiederholte Begutachtungen erforderlich, die die Entwicklung nach Unfall oder Erkrankung begleiten. Für die Rehabilitation aphasischer Kinder und Jugendlicher gilt damit, dass sie früh beginnen und zudem über einen ausreichenden Zeitraum erfolgen muss. Im Unterschied zu erwachsenen Patienten reicht es im Kindesalter nicht, den prämorbiden Entwicklungsstand zu erreichen.

Ausblick

Die Früherkennung von aphasischen Kindern bedarf zukünftig vielfältiger Verbesserungen. Daneben spielt die Systematisierung der vorhandenen Hilfen und deren Ausbau eine Rolle. Wünschenswert ist auch eine (bessere) Vernetzung der stationären mit den ambulanten Rehabilitationseinrichtungen, sowie mit schulischen Institutionen. Neben differenzierter Grundlagenforschung sollte im Sinne der Teilhabe die Problematik der speziellen Rehabilitation und Nachsorge aphasischer Kinder wissenschaftlich untersucht werden.


Literatur

1.
Benz B, Ritz A. Besonderheiten bei der neurologischen Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen. Seminarbericht "Neurologische Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen", 07.-09.10.2003. Bremen; 2003.
2.
Fabbro F, Hrsg. Neurogenic language disorders in children. Amsterdam: Elsevier; 2004
3.
Grimm H. Störungen der Sprachentwicklung. 2. überarb. Aufl. Göttingen: Elsevier; 2003.
4.
Hécaen H. Acquired Aphasia in Children and the Ontogenesis of Hemispheric Functional Specialization. Brain and Language 1976;3:114-34.
5.
Loew M, Böhringer K. Kindliche Aphasie. Beiträge zur neurologischen Rehabilitation von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Gailingen: Schriftreihe Jugendwerk; 2002.
6.
Martins IP. Persistent acquired childhood aphasia. In: Fabbro F, Hrsg. Neurogenic language disorders in children. Amsterdam: Elsevier; 2004.
7.
Miller JF, Campbell TF, Chapman RS, Weismer SE. Language Behaviour in Acquired Childhood Aphasia. In: Holland A. Language Disorders in Children. San Diego: College Hill Press; 1984.
8.
Poeck K, Hacke W. Neurologie. 12. erw. Aufl. Berlin-Heidelberg-New York: Springer; 2006.
9.
Rother A. Kindliche Aphasien. LOGOS Interdisziplinär. 2005;2:90-2.
10.
Spencer PG, Möhrle C. Kinder und Jugendliche mit Aphasie. Forum Logopädie. 2007;6:6-12.
11.
Spencer PG. Kindliche Aphasie. Hintergründe und Praxis. Not. 2006;3:24-6.
12.
Van Hout A. Acquired Aphasia in Children. In: Segalowitz SJ; Rapin I, Hrsg. Handbook of Neuropsychology. Band.7. Amsterdam: o. A.; 1992.