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26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

11.09. - 13.09.2009, Leipzig

Basiserhebung einer Kohorte von Kindern mit angeborener Hörstörung bei der Schuleingangsuntersuchung

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Uta Nennstiel-Ratzel - Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, München-Oberschleißheim, Deutschland
  • author Inken Brockow - Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, München-Oberschleißheim, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 11.-13.09.2009. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2009. Doc09dgppV03

doi: 10.3205/09dgpp06, urn:nbn:de:0183-09dgpp068

Published: September 7, 2009

© 2009 Nennstiel-Ratzel et al.
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Zusammenfassung

Einleitung: Seit 2003 wird in 2 Regionen Bayerns ein universelles Neugeborenenhörscreening (NHS) als Modellprojekt durchgeführt. Um das Langzeitoutcome der im Modellprojekt entdeckten Kinder evaluieren zu können, wurden bei der Schuleingangsuntersuchung Eltern von Kindern mit beidseits angeborenen Hörstörungen der Geburtsjahrgänge 1999–2003 als Kontrollgruppe befragt.

Methoden: Die Eltern erhalten im Alter von 6, 8 und 10 Jahren jeweils einen Fragebogen zur Versorgung und Entwicklung ihrer Kinder, zu Hören (MAIS) und Sprache (MUSS).

Ergebnisse: Ausgewertet wurden mit 6 Jahren 217, davon zusätzlich mit 8 Jahren 101 Fragebögen. Die Verteilung der Schweregrade der Hörstörung (15% leichte, 40% mittelgradige, 45% hochgradige), der Geschwisterzahl, der Ethnizität waren repräsentativ. 42% der Kinder besuchen einen Regelkindergarten, 45% eine Regelschule. Auf Grund der Elternantworten verfügen über ein gutes Hörvermögen nur 54%, über ein gutes Sprachvermögen nur 45% der 8-jährigen Kinder unabhängig von Schweregrad der Hörstörung, dem Alter bei Therapiebeginn sowie mütterlicher Bildung. Das Alter bei Diagnosestellung (Median 26/31 Monate) wurde durch das NHS (ohne systematisches Programm) nicht vorverlegt. Im Modellprojekt mit systematischem Tracking liegt der Median für das Diagnosealter hingegen bei 4,6 Monaten.

Fazit: Die Ergebnisse zeigen, dass ein positiver Effekt auf das Alter bei Diagnosestellung nur durch ein Hörscreening im Rahmen eines Programms erzielt werden kann.


Text

Einleitung

Seit 2003 wird in 2 Regionen Bayerns ein universelles Neugeborenenhörscreening (NHS) als Modellprojekt durchgeführt. Dabei wurden die beim Neugeborenenscreening auf endokrine und metabole Erkrankungen erfolgreich eingesetzten logistischen Strukturen an die Bedürfnisse des Hörscreenings adaptiert, um die Sicherstellung der Vollständigkeit und insbesondere die rasche Abklärung aller auffälligen Befunde und einen frühzeitigen Therapiebeginn gewährleisten zu können [1]. Ziel ist es, eine bessere sprachliche, emotionale sowie psychosoziale Entwicklung und daraus folgend schulische Bildungchancen der betroffenen Kinder zu ermöglichen. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) hat vor Einführung eines universellen Neugeborenen-Hörscreenings den Nachweis der Effektivität des Hörscreenings hinsichtlich des Langzeit-outcomes der betroffenen Kinder gefordert. Die erste Zwischenauswertung einer vom Screeningzentrum des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) durchgeführten Langzeitstudie zur Beantwortung dieser Fragen wird vorgestellt.

Material: Die Eltern werden mit einem Fragebogen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung, des Therapiebeginns sowie zur Versorgung mit Hörhilfen, zur Frühförderung, Hör- und Sprachentwicklung sowie der psychomotorischen Entwicklung befragt. Als Instrument zur Beurteilung des Sprach- bzw. Hörvermögens wurden die ins Deutsche übersetzten Versionen von MUSS und MAIS eingesetzt [2], [3]. Die Diagnose, evtl. zusätzliche Behinderungen oder Erkrankungen sowie der Schweregrad der Hörstörung werden dem Arztbrief entnommen.

Methoden

Die Eltern der im Rahmen des Modellprojektes entdeckten Kinder werden nach Diagnosestellung um ihre Einwilligung zur Teilnahme an der Studie gebeten. Sie erhalten jährlich – erstmals zum ersten Geburtstag des Kindes – einen an das Alter des Kindes angepassten Fragebogen. Als Kontrollgruppe wurden bei der Schuleingangsuntersuchung Kinder mit beidseits angeborenen Hörstörungen der Geburtsjahrgänge 1999–2003 rekrutiert. Die Eltern dieser Kinder erhielten bei der Schuleingangsuntersuchung durch die Mitarbeiter des Gesundheitsamtes eine Einwilligungserklärung und den ersten Fragebogen (6 Jahre). Zusätzlich wurden den Kindern (identische Geburtsjahrgänge) in allen Förderschulen für Hörgeschädigte in Bayern Einwilligungen und Fragebögen für die Eltern mitgegeben. Doppelt rekrutierte Kinder wurden nur einmal berücksichtigt. Die Eltern erhalten im Alter von 8 und 10 Jahren erneut einen Fragebogen zur Versorgung und Entwicklung ihrer Kinder, zu Hören (MAIS) und Sprache (MUSS).

Ergebnisse

Im Rahmen des Modellprojektes wurden 51 Kinder mit einer therapiebedürftigen Hörstörung entdeckt. 40 Eltern wurden um eine Teilnahme an der Studie gebeten (4 Kindern ausgeschlossen wegen Mehrfachbehinderung, 7 Kinder noch kein Jahr alt). 29 Eltern (72%) haben einen oder mehrere Fragebögen zurückgeschickt. Bei der Rekrutierung der Kontrollgruppe konnten bislang auch unter Einbeziehung der Kinder aus Förderschulen nur ca. ein Drittel der erwarteten Fälle erreicht werden. Ausgewertet wurden mit 6 Jahren 217, davon zusätzlich mit 8 Jahren 101 Fragebögen. Die Verteilung der Schweregrade entspricht mit 15% leichten (20–40 dB), mit 40% mittelgradigen (40–60 dB) und 45% hochgradigen (>60 dB) Hörstörungen den Angaben aus der Literatur [4]. Hinsichtlich Geschwisterzahl, Ethnizität und Bildungsstand der Eltern ist die Kohorte repräsentativ für die bayerische Bevölkerung [5]. 42% der Kinder besuchen einen Regelkindergarten, 45% eine Regelschule. Auf Grund der Elternantworten verfügen über ein gutes Hörvermögen nur 54%, über ein gutes Sprachvermögen nur 45% der 8-jährigen Kinder unabhängig von Schweregrad der Hörstörung, dem Alter bei Therapiebeginn sowie der mütterlichen Bildung. Das Alter bei Diagnosestellung (Median 26 Monate mit NHS / 31 Monate ohne NHS) wurde durch das NHS (ohne systematisches Programm) nicht vorverlegt. Im Modellprojekt mit systematischem Tracking liegt der Median für das Diagnosealter hingegen bei 4,6 Monaten. In der Kontrollgruppe konnten weiter Probleme identifiziert werden: Bei Kindern mit einem erhöhten Risiko für Hörstörungen wurde die Diagnose nicht früher gestellt. Dies wäre jedoch unabhängig vom Hörscreening bei einer sorgfältigen Erhebung und Bewertung der Familien- bzw. Risikoanamnese zu erwarten gewesen [6]. Nur bei 11 Kindern (12%) wurde bis zum Alter von 6 Monaten bei 19 Kindern (20%) bis zum Alter von einem Jahr die Therapie begonnen. 36 Kinder aus der Kontrollgruppe wurden mit einem Cochlea Implantat (CI) versorgt, nur drei im ersten Lebensjahr (Median der CI Implantation: 24 Monate).

Diskussion

Ein Vergleich der betroffenen Kinder aus dem Modellprojekt (Interventionsgruppe) mit den Kindern aus der Kontrollgruppe zeigt (auch bei durchgeführtem Screening) eine Differenz des Altersmedian bei Diagnosestellung und Therapiebeginn von über 2 Jahren. Dieser positive Effekt ist nur durch ein Hörscreening im Rahmen eines Programms mit einem Tracking der kontrollbedürftigen Befunde erreichbar. Weitere Parameter sind in der ersten Zwischenauswertung noch nicht vergleichbar, da die Kinder aus der Interventionsgruppe noch zu jung sind. Für die Rekrutierung einer Kontrollgruppe bietet die Schuleingangsuntersuchung in Bayern als Vollerhebung die Möglichkeit einer populationsbasierten Erfassung für das gesamte Bundesland. Die Rekrutierung wird über die nächsten Jahre fortgeführt werden. Die Teilnahmerate scheint im derzeitigen Einschulungsjahrgang deutlich höher zu liegen. Diese Daten können jedoch erst nach Ende des Untersuchungszeitraumes Ende Juli 2009 ausgewertet werden. Trotz der relativ niedrigen Erfassungsquote kann die Kontrollgruppe im Hinblick auf die Verteilung der Schweregrade der Hörstörung sowie einiger soziodemographischer Faktoren als repräsentativ angesehen werden. Ein Einfluss des Zeitpunktes des Therapiebeginns auf das Hör- bzw. Sprachvermögen kann aus den Daten bislang – vermutlich auf Grund der wenigen im ersten bzw. im ersten halben Jahr therapierten Kinder – nicht gezeigt werden. Hier müssen die Ergebnisse der Analyse größerer Fallzahlen sowie der Vergleich mit den Kindern aus dem Modellprojekt abgewartet werden.


Literatur

1.
Nennstiel-Ratzel U, Arenz S, von Kries R, Wildner M, Strutz J. Modellprojekt Neugeborenen-Hörscreening in der Pfalz. HNO. 2007;55:128-34.
2.
Weichbold V, Anderson I, D'Haese P. Validation of three adaptations of the Meaningful Auditory Integration Scale (MAIS) to German, English and Polish. Int J Audiol. 2004;43(3):156-61.
3.
Lamprecht-Dinnesen et al. Evaluationsset zur Hör-/Sprachentwicklung nach Cochlea-Implantation bei Kindern. Laryngorhinootologie. 2002;81(10):690-5.
4.
Probst R, Grevers G, Iro H. Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Stuttgart: Thieme Verlag; 2000
5.
Morlock G, Hachmeister A, Petzold J, Kuhn J, Nennstiel-Ratzel U. Gesundheit der Vorschulkinder in Bayern: Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchung zum Schuljahr 2004/2005 Statistisch-epidemiologischer Bericht. Erlangen: Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit; 2006.
6.
Kennedy C, McCann D, Campbell MJ, Kimm L, Thornton R. Universal newborn screening for permanent childhood hearing impairment: an 8-year follow-up of a controlled trial. Lancet. 2005;366:660-6.