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25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12.09. - 14.09.2008, Düsseldorf

Auswirkungen des Neugeborenen-Hörscreenings auf das Versorgungsalter hörgeschädigter Kinder in Mecklenburg-Vorpommern

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Gabriele Witt - Universität Rostock, HNO-Klinik, Abt. Phoniatrie-Pädaudiologie, Rostock, Deutschland
  • Angela Dethloff - Helios-Kliniken Schwerin, HNO-Klinik, Schwerin, Deutschland
  • Dagmar Kayser - D.-Bonhoeffer-Klinikum Neubrandenburg, HNO-Klinik, Neubrandenburg, Deutschland
  • Karin Winter - E.-M.-Arndt-Universität Greifswald, HNO-Klinik, Abt. Phoniatrie-Pädaudiologie, Greifswald, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Düsseldorf, 12.-14.09.2008. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2008. Doc08dgppV17

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/meetings/dgpp2008/08dgpp18.shtml

Published: August 27, 2008

© 2008 Witt et al.
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Zusammenfassung

In Mecklenburg-Vorpommern wurde 2003 ein flächendeckendes Neugeborenen-Hörscreening (NHS) auf der Basis von TEOAE-Messungen eingeführt. Es beruht auf der freiwilligen und engen Kooperation von Gynäkologen, Neonatologen, Pädiatern, HNO-Ärzten und Pädaudiologen und hat das Ziel, das Erfassungs- und Versorgungsalter hörgeschädigter Kinder wesentlich zu senken. Die Dokumentation und Nachverfolgung der im NHS erfassten Kinder erfolgt in einem Screening-Zentrum.

In der vorliegenden Arbeit wurden die Erfassung und die Versorgung hörgeschädigter Kinder in den Jahren 1999–2002, als noch kein landesweites NHS durchgeführt wurde, und in den Jahren 2003–2007, als das Neugeborenen-Hörscreening stattfand, verglichen. Es wurden das Alter der Kinder bei Verdachtsäußerung, bei Diagnosestellung und bei effektiver Versorgung einer Hörminderung in Abhängigkeit vom Grad der Schwerhörigkeit in beiden Zeiträumen gegenübergestellt.

Es zeigte sich der Erfolg des NHS in dem deutlich niedrigeren Alter der Kinder zum Zeitpunkt der Diagnostik und Versorgung.


Text

Einleitung

Die Erkennung und Versorgung hörgeschädigter Kinder in Deutschland erfolgt nicht früh genug. Eine bundesweite Studie von Hartmann und Hartmann [1] zeigte, dass bei den 1998 geborenen Kindern die Hörstörung durchschnittlich erst im Alter von 33 Monaten diagnostiziert und mit 36 Monaten hörtechnisch versorgt wurde. In Mecklenburg betrug 1992–1996 das Alter bei Diagnosestellung geringgradiger Schwerhörigkeiten 73 Monate, mittelgradiger Schwerhörigkeiten 54 Monate, hochgradiger Schwerhörigkeiten 51 Monate und für praktische Taubheiten 64 Monate [2].

In den Jahren 2000–2002 wurde in den Medien und in den regionalen medizinischen und pädagogischen Fachgremien eine intensive Aufklärungsarbeit über die Notwendigkeit der Früherfassung von Hörschäden bei Kindern durchgeführt. Es wurde unter Leitung des Ministeriums für Soziales und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern eine Arbeitsgruppe gebildet, in der sich Gynäkologen, Neonatologen, Pädiater, HNO-Ärzte und Pädaudiologen für die Einführung eines Neugeborenen-Hörscreening (NHS) einsetzten. Seit 1.11.2002 wird flächendeckend bei allen Neugeborenen im Land die Messung von otoakustischen Emissionen (TEOAE) und die Nachverfolgung in drei Stufen durchgeführt. Das Erstscreening und das Nachscreening erfolgen in den geburtshilflichen Einrichtungen, das ambulante Kontrollscreening bei niedergelassenen HNO-Ärzten und die Konfirmationsdiagnostik in den vier klinischen pädaudiologischen Einrichtungen des Landes. Im Hörscreening-Zentrum an der Universität Greifswald werden die erhobenen Daten erfasst und ausgewertet. Die Eltern der im Test auffälligen Kinder werden nach 6 Wochen schriftlich zur Nachuntersuchung aufgefordert.

Die vorliegende Studie hatte das Ziel, die Auswirkungen des NHS auf das Erfassungs- und Versorgungsalter der hörgeschädigten Kinder in Mecklenburg-Vorpommern (M.-V.) zu untersuchen.

Material und Methode

In die Studie aufgenommen wurden alle Kinder, bei denen in den Jahren 1999–2007 in den vier pädaudiologischen Zentren des Landes M.-V. eine bleibende Hörschädigung diagnostiziert wurde. Es handelte sich um 271 Kinder, die nach dem Grad der Hörminderung (geringgradige, mittelgradige, hochgradige Schwerhörigkeit bzw. Resthörigkeit/Taubheit) aufgegliedert wurden (Abbildung 1 [Abb. 1]). Die Anzahl der Kinder pro Jahr war in Übereinstimmung mit den Geburtenzahlen im Land leicht rückläufig.

Nach anamnestischen Angaben wurde eruiert, ob die Diagnostik durch die Familie, einen Kinderarzt, einen HNO-Arzt, einen Pädagogen oder ab 2003 durch das NHS veranlasst worden war. Es wurde das Alter der Kinder bei Äußerung des Verdachts auf eine Hörminderung und bei Sicherung der Diagnose ermittelt. Außerdem wurde das Alter bei effektiver hörtechnischer Versorgung errechnet, das vor allem bei hochgradig hörgeschädigten Kindern mitunter vom Alter bei Erstversorgung abweicht, aber hinsichtlich des rehabilitativen Ergebnisses ausschlaggebend ist. Es wurden die Jahre 1999–2002 vor der Einführung des NHS mit den Jahren 2003–2007, in denen das NHS durchgeführt wurde, verglichen (Abbildung 2 [Abb. 2]).

Ergebnisse

In den Jahren 1999–2002 wurden durchschnittlich 35 Kinder mit einer bleibenden Schwerhörigkeit diagnostiziert, während es in den Jahren 2003–2007 nur noch durchschnittlich 26 Kinder waren.

Bei Kindern mit geringgradiger Schwerhörigkeit trat nach Einführung des NHS eine Reduktion des Alters bei Verdachtsäußerung um 8 Monate, bei Diagnosestellung um 16 Monate und bei hörtechnischer Versorgung um 24 Monate ein. Bei Kindern mit mittelgradiger Schwerhörigkeit wurde in den beiden beobachteten Zeiträumen das Alter bei Verdachtsäußerung um 5 Monate, das Alter bei Diagnosestellung um 1 Monat und das Alter bei hörtechnischer Versorgung um 12 Monate gesenkt. Deutlich war auch die Altersreduktion bei hochgradig schwerhörigen Kindern, die für die Verdachtsäußerung 8 Monate und für die Diagnosestellung sowie die hörtechnische Versorgung 12 Monate betrug. Praktisch taube Kinder wurden bereits vor Einführung des NHS mit herkömmlichen diagnostischen Methoden überwiegend früh erkannt. Die Veränderungen in den Jahren 2003–2007 waren gering. Sie betrugen hinsichtlich der Verdachtsäußerung eine Vorverlagerung um 1 Monat, bezüglich der Diagnosestellung eine Verzögerung um 1 Monat und die hörtechnische Versorgung erfolgte 4 Monate früher als in den Vorjahren.

Eine dem Alter entsprechende befriedigende Versorgung der Kinder wurde in den Jahren 2003–2007 durchschnittlich bei geringgradiger Schwerhörigkeit mit 4;11 Jahren, bei mittelgradiger Schwerhörigkeit mit 3;01 Jahren, bei hochgradiger Schwerhörigkeit mit 1;10 Jahren und bei praktischer Taubheit mit 1;06 Jahren erreicht.

Diskussion

Die Anzahl der in den einzelnen Jahren erfassten Kinder ist insbesondere in den Gruppen mit hochgradiger Schwerhörigkeit und Taubheit sehr klein. Dadurch sind die Altersschwankungen in einigen Gruppen groß. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass auch Kinder mit progredientem Verlauf der Hörminderung registriert wurden, die im NHS noch unauffällig waren. Die Entwicklung über die Jahre zeigt jedoch insgesamt eine klare Tendenz zu einem geringeren Alter der Kinder.

Bei Betrachtung des Alters bei effektiver hörtechnischer Versorgung fällt auf, dass die Kinder umsomehr von dem NHS profitieren, je geringer der Grad ihrer Hörminderung ist. Allerdings nimmt die Bedeutung einer Frühversorgung mit dem Grad der Hörminderung zu. So ist es als ein großer Gewinn für die kindliche Entwicklung von Hören und Sprache zu werten, wenn hochgradig Hörgeschädigte statt zuvor mit 2;10 Jahren nun seit Einführung des NHS mit 1;10 Jahren über optimal angepasste Hörgeräte verfügen. Die Zielstellung, mittel- und höhergradig hörgeschädigte Kinder im Alter von 6–12 Monaten hörtechnisch zu versorgen, wurde bisher nicht erreicht. Praktisch gehörlose Kinder erhielten durchschnittlich mit 18 Monaten ein Cochlea-Implantat, so dass in dieser Gruppe das angestrebte Versorgungsalter erreicht wurde.

Die vorliegenden Daten zeigen, dass die flächendeckende Einführung des NHS in M.-V. eine frühere Erfassung und Versorgung hörgeschädigter Kinder bewirkt hat. Eine weitere Verbesserung ist vor allem für mittel- und hochgradig hörgeschädigte Kinder notwendig. Möglichkeiten dafür bestehen in einer Verkürzung der Diagnostikdauer nach Verdachtsäußerung und in einer umgehenden und zügigen Hörgeräteanpassung.


Literatur

1.
Hartmann H, Hartmann K. Nach wie vor Späterkennung. Erste Ergebnisse der 8. bundesweiten Befragung zur Früherkennung hörgeschädigter Kinder in Deutschland. Spektrum Hören 2005: 20-2.
2.
Engbertz M. Die Erfassung kindlicher Hörstörungen in M.-V. von 1992 bis heute unter besonderer Berücksichtigung der Zeiträume 1992-96 und 1999/2000. Inauguraldissertation 2003 Universität Rostock.