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Dreiländertagung D-A-CH
24. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

28. - 30.09.2007, Innsbruck, Österreich

Megalin-Polymorphismen und individuelle Toleranz gegenüber dem ototoxischen Effekt von Cisplatin

Megalin genetic polymorphisms and individual sensitivity to the ototoxic effect of cisplatin

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Lars Riedemann - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, UKM, Münster, Deutschland
  • author Claudia Lanvers-Kaminsky - Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin - Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, UKM, Münster, Deutschland
  • author Dirk Deuster - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, UKM, Münster, Deutschland
  • Ulrike Peters - Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin - Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, UKM, Münster, Deutschland
  • author Jürgen Boos - Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin - Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, UKM, Münster, Deutschland
  • author Heribert Jürgens - Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin - Pädiatrische Hämatologie und Onkologie, UKM, Münster, Deutschland
  • author Antoinette am Zehnhoff-Dinnesen - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, UKM, Münster, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Sektion Phoniatrie der Österreichischen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirugie. Schweizerische Gesellschaft für Phoniatrie. Dreiländertagung D-A-CH, 24. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e.V.. Innsbruck, Österreich, 28.-30.09.2007. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2007. Doc07dgppV37

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/meetings/dgpp2007/07dgpp59.shtml

Published: August 28, 2007

© 2007 Riedemann et al.
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Zusammenfassung

Cisplatin wird in der pädiatrischen Onkologie mit Erfolg bei der Behandlung verschiedener Tumoren eingesetzt. Die hohe therapeutische Effektivität wird jedoch durch die Oto- und Nephrotoxizität limitiert.

Histologische Untersuchungen zeigen nach Cisplatin-Gabe eine vermehrte Akkumulation von Cisplatin-DNA-Addukten in den proximalen Tubuluszellen der Niere und den Marginalzellen der Stria vascularis des Innenohrs. In beiden Geweben wird der LDL-Rezeptor Megalin hoch exprimiert. Megalin ist verantwortlich für die Endozytose verschiedener Moleküle, unter anderem auch der ebenfalls oto- und nephrotoxischen Aminoglykoside. Ein Zusammenhang zwischen der Aminoglykosid-Toxizität und Megalin konnte bereits hergestellt werden.

Unter der Hypothese, dass Megalin an der Cisplatin-induzierten Ototoxizität beteiligt ist, untersuchten wir die Häufigkeit der Single-Nucleotide-Polymorphismen (SNP) rs2075252 und rs4668123 bei je 25 Patienten mit und ohne Entwicklung einer Hörstörung nach Cisplatin-Therapie. Eingeschlossen wurden nur Patienten ohne zusätzliche ototoxische Medikation, kranielle Bestrahlung oder vorbestehenden Hörschaden.

Das A-Allel des SNPs rs2075252 trat signifikant häufiger in der Gruppe mit als in der ohne Hörstörung auf (0.32 vs. 0.14) (χ2=5.83, p<0.02; OR 3.45; 95%CI 1.11-11.2). Diese Untersuchung läßt erstmals eine Beteiligung des Megalins an der Pathogenese der Cisplatin-Ototoxizität vermuten.


Text

Einleitung

Cisplatin wird in der pädiatrischen Onkologie mit großem Erfolg bei der Behandlung von Neuroblastomen, Osteosarkomen sowie Keimzell- und Hirntumoren eingesetzt. Die hohe therapeutische Effektivität der Verbindung wird jedoch durch seine Oto- und Nephrotoxizität limitiert. In Anbetracht der hohen Überlebensraten wiegt die Ototoxizität bei Kindern, die sich noch in ihrer sprachlichen Entwicklung befinden, besonders schwer. Die genauen Mechanismen der Hörschädigung sind bislang ungeklärt. Trotz der bekannten Dosisabhängigkeit der durch Cisplatin hervorgerufenen Ototoxizität zeigt sich in klinischen Studien eine bisher nicht geklärte interindividuell unterschiedliche Toleranz.

Histologische Untersuchungen zeigten nach Cisplatin-Gabe eine vermehrte Akkumulation von Cisplatin-Addukten in den proximalen Tubuluszellen der Niere und den Marginalzellen der Stria vascularis des Innenohres. Diese selektive Akkumulation lässt eine Membranpumpe oder einen Rezeptor vermuten, der die Aufnahme von Cisplatin vermittelt. In beiden Geweben wird der Low-Density-Lipoprotein-Rezeptor Megalin hoch exprimiert. Megalin ist verantwortlich für die Endozytose verschiedener Moleküle, unter anderem auch Aminoglykosiden, die wie Cisplatin oto- und nephrotoxisch wirken. Ein Zusammenhang zwischen der Aminoglykosid-Toxizität und Megalin konnte bereits in mehreren Publikationen hergestellt werden. Eine große Anzahl verschiedener Megalin-Polymorphismen ist bekannt. Insbesondere die Single Nucleotide Polymorphisms (SNPs), die zu einem Aminosäureaustausch führen, können die Funktionen der Proteine beeinflussen.

Material & Methode

Die DNA von 74 Patienten wurden auf das Vorhandensein der SNPs rs2075252 und rs4668123 im Megalin-Gen untersucht. Beide SNPs treten mit einer Frequenz von ca. 30% auf, führen zu einem Aminosäureaustausch und sind in einer Proteinstruktur lokalisiert, die der A-Kette der extrazellulären Domäne des LDL-Rezeptors zugehört (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/blast).

Um andere Einflüsse außer der Cisplatin-Gabe auf eine Hörverschlechterung auszuschließen, wurden Patienten mit zusätzlicher ototoxischer Medikation und kranieller Bestrahlung ausgeschlossen. Auch eine vorbestehende Hörschädigung oder Nierenfunktionsstörung, eine zu geringe Cisplatin-Gesamtdosis und ein Lebensalter <5 Jahre führte zum Ausschluss. Die Audiogramme der verbleibenden 50 Patienten vor, während und nach der Therapie wurden nach der Münsteraner Klassifikation zur Einteilung von ototoxischen Hochtonschwerhörigkeiten ausgewertet.

Die Genotypisierung wurde mit den validierten Assays C_16165996_10 und C_3017531_1_ (Applera Deutschland GmbH, Darmstadt, Germany) durchgeführt. Die Identifizierung der SNPs erfolgte nach Amplifikation des entsprechenden Genabschnittes mittels PCR über SNP-spezifische fluoreszenzmarkierte Sonden. Wegen fehlenden Materials konnte die DNA eines Patienten ohne Entwicklung einer Hörstörung nur auf den SNP rs2075252 genotypisiert werden.

Unterschiede zwischen den einzelnen Markern beider Megalin-Varianten wurden mittels Chi-Quadrat-Test bzw. Fischer’s exact test mit einem Signifikanzniveau von p<0,05 durchgeführt. Odds ratio und 95%-Intervalle wurden für die zwei Marker der Kontingenztabelle berechnet. Die Daten zur Allelverteilung der Referenzgruppe entstammten der Datenbank http://www.hapmap.org.

Ergebnisse

25 Patienten zeigten unter Therapie einen Hörverlust (Grad ≤2, Gruppe S), 25 zeigten keine Hörstörung (Grad ≤1, Gruppe 0) (s. Tabelle 1 [Tab. 1]).

SNP rs2075252: Die Allelverteilung des SNPs rs2075252 zeigte einen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen: das A-Allel trat in Gruppe S (0,32) häufiger als in Gruppe 0 (0,14), der Gesamtgruppe (0,22) und der Referenzgruppe (0,26) auf. Dies entspricht einem signifikanten Gruppenunterschied 0 zu S (χ2=5.83; p<0.02). Zusätzlich zeigten sich Unterschiede des SNPs rs2075252-Genotyps: A/A-Homozygoten fanden sich in Gruppe 0 nicht, in Gruppe S jedoch drei. Dieser Unterschied war nicht signifikant (Fischer’s exact test). Die Verteilung des G/C-Genotyp gegenüber des G/A+A/A-Genotyp zeigte einen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen 0 und S (χ2=4.14, p=0.041).

SNP rs4668123: Die Allelverteilung des SNP rs4668123 zeigte keinen signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen 0 und S. Zwar trat das T-Allel in Gruppe S (0,34) häufiger auf als in Gruppe 0 (0,21), der Gesamtgruppe (0,26) und der Referenzgruppe (0,28), allerdings ohne statistische Signifikanz (0 versus S: χ2=2.92; p=0.087). Die Häufigkeit des T/T-Genotyp unterschied sich in den Gruppen 0 (0) und S (0,20) signifikant (Fischer’s exact test p=0.049). Die Häufigkeit des C/C-Genotyps gegenüber des C/T+T/T-Genotyps zeigte dagegen keinen signifikanten Unterschied (s. Tabelle 2 [Tab. 2]).

In der Gruppe 0 zeigten sich weder T/T-Homozygote des SPN rs4668123, noch A/A-Homozygote des SPN rs2075252, während sich in Gruppe S fünf T/T- und drei A/A-Homozygote fanden. Alle A/A-Homozygote waren gleichzeitig auch für T/T homozygot.

In der Haplotyp-Analyse zeigte sich der AT Haplotyp bei 23,8% der Fälle gegenüber 9,9% der Kontrollen. Dieser Unterschied ist allerdings nicht signifikant (Haploview-Analyse, χ2=3.472; p=0.0624). Die Kopplungsanalyse mittels Haploview zeigte einen LOD-Score (logarithmic odds ratio) von 10,6 für rs2075252 und rs4668123.

Diskussion

Unsere Untersuchung ergab, dass das A-Allel von rs2075252, die AG+AA-Genotypen von rs2075252 und der T/T-Genotyp von rs4668123 mit einem höheren Risiko zur Entwicklung einer Cisplatin-induzierten Hörstörung verbunden sind. A/A-Homozygote des SNP rs2075252 und T/T-Homozygote des SNP rs4668123 traten nur in der Gruppe mit Entwicklung einer Hörstörung auf. Diese Ergebnisse lassen einen Einfluss des Megalins auf die Pathogenese der Cisplatin-induzierten Ototoxizität vermuten. Die funktionellen Zusammenhänge zwischen Megalin-Polymorphismen und die Auswirkungen auf die Cisplatin-Akkumulation und -Toxizität sind derzeit Gegenstand weiterer Untersuchungen.

Die Kenntnis von relevanten Polymorphismen im Megalin-Gen, die die interindividuelle Empfindlichkeit gegenüber Cisplatin beeinflussen, können dazu betragen, Patienten mit einem erhöhten Risiko für Cisplatin-induzierte Hörschädigungen im Vorfeld zu identifizieren und einer nebenwirkungsärmeren Therapie zuzuführen. Die geringe Anzahl an Patienten in dieser Studie erfordert eine Validierung an einem größeren Patientenkollektiv zur Erhöhung der Power.


Literatur

1.
Riedemann L, Lanvers C, Deuster D, Peters U, Boos J, Jurgens H, Zehnhoff-Dinnesen AA. Megalin genetic polymorphisms and individual sensitivity to the ototoxic effect of cisplatin. Pharmacogenomics J. Epub 2007 Apr 24 (ahead of print).
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Schmidt CM, Bartholomaus E, Deuster D, Heinecke A, Dinnesen AG. The "Muenster classification" of high frequency hearing loss following cisplatin chemotherapy. HNO. 2007;55(4):299-306.
3.
Lanvers-Kaminsky C, Krefeld B, Dinnesen AG, Deuster D, Seifert E, Wurthwein G, et al. Continuous or repeated prolonged cisplatin infusions in children: a prospective study on ototoxicity, platinum concentrations, and standard serum parameters. Pediatr Blood Cancer. 2006;47:183-93.
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Thomas JP, Lautermann J, Liedert B, Seiler F, Thomale J. High accumulation of platinum-DNA adducts in strial marginal cells of the cochlea is an early event in cisplatin but not carboplatin ototoxicity. Mol Pharmacol. 2006;70(1):23-9. Epub 2006 Mar 28.
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Mizuta K, Saito A, Watanabe T, Nagura M, Arakawa M, Shimizu F, et al. Ultrastructural localization of megalin in the rat cochlear duct. Hear Res. 1999;129:83-91.