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23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

15. - 17.09.2006, Heidelberg

Klinische Evaluation von Dysphagien: Der Bogenhausener Dysphagiescore (BODS) – Entwicklung und Validierung

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Ulrike Hartmann - Städtisches Klinikum München GmbH, Klinikum Bogenhausen, Klinik für Neuropsychologie, Klinik für Frührehabilitation und physikalische Medizin, München, Deutschland
  • author Gudrun Bartolome - Städtisches Klinikum München GmbH, Klinikum Bogenhausen, Klinik für Neuropsychologie, Klinik für Frührehabilitation und physikalische Medizin, München, Deutschland
  • author Heidrun Schröter-Morasch - Städtisches Klinikum München GmbH, Klinikum Bogenhausen, Klinik für Neuropsychologie, Klinik für Frührehabilitation und physikalische Medizin, München, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Heidelberg, 15.-17.09.2006. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2006. Doc06dgppV26

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Published: September 5, 2006

© 2006 Hartmann et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Für die Dysphagie existieren bislang keine validen Skalen, welche die Schluckfunktion bezüglich Speichel und Nahrung erfassen. Desweiteren ist die Berücksichtigung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) sowie qualitativ hochwertiger, wenn möglich evidenzbasierter Methoden und Assessmentverfahren in der Rehabilitation in Deutschland von gesetzlicher Seite vorgeschrieben (Sozialgesetzbuch V und IX). Mit dem Bogenhausener Dysphagiescore BODS (Bartolome, Schröter-Morasch, Hartmann, 2005) wurde ein Assessment neu entwickelt, welches die Funktionsfähigkeit des Schluckens von Speichel und Nahrung/Flüssigkeit erfasst (ICF Komponente Körperfunktionen) und eine Einschätzung des Schweregrades einer Dysphagie ermöglicht.

Fragestellung: Ist der BODS ein inhaltlich valides Assessment zur Erfassung des Schweregrades einer Schluckstörung?

Methode: Bestimmung der Inhaltsvalidität des BODS mittels einer schriftlichen Expertenbefragung.

Ergebnis: Es konnte eine Stichprobe von 107 Teilnehmern erhoben werden. Die Auswahl der beiden Skalen, deren verbale Anker sowie die Praktikabilität und Ökonomie des BODS wurden voll bestätigt. Revisionsbedarf bestand bei der Einteilung der Skala BODS-2 „orale Nahrungsaufnahme“ und des Summenscores.

Konsequenz der Untersuchung/Diskussion: Der BODS wurde um jeweils zwei Stufen erweitert. Ergänzend wurde ein Manual entwickelt. Der modifizierte BODS muss nun klinisch erprobt und weiter psychometrisch abgesichert werden. Die große Resonanz auf die Untersuchung zeigt, dass an der Einführung eines solchen klinischen Dysphagiescores im klinischen Alltag großes Interesse und hoher Bedarf besteht.


Text

Einleitung

Für die Dysphagie existieren bislang keine validen Skalen, welche die Schluckfunktion bezüglich Speichel und Nahrung erfassen. Bisher veröffentlichte Dysphagieskalen sind meist auf den Status der oralen Nahrungsaufnahme beschränkt (vgl. „Functional oral intake scale“, Crary et al. 2005 [5], „Outcome – Skala Schluckbeeinträchtigung“, Prosiegel et al., 2002). Desweiteren ist in der Rehabilitation in Deutschland die Berücksichtigung der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) sowie die Anwendung qualitativ hochwertiger, wenn möglich evidenzbasierter Methoden und Assessmentverfahren von gesetzlicher Seite vorgeschrieben (Sozialgesetzbuch V und IX). Mit dem Bogenhausener Dysphagiescore BODS (Bartolome, Schröter-Morasch, Hartmann, 2005; Tabelle 1 [Tab. 1]) wurde ein Assessment neu entwickelt, welches die Funktionsfähigkeit des Schluckens von Speichel und Nahrung/Flüssigkeit erfasst (ICF Komponente Körperfunktionen) und eine Einschätzung des Schweregrades einer Dysphagie ermöglicht. Der BODS besteht aus zwei Skalen: „BODS-1 Speichelschlucken“ und „BODS-2 orale Nahrungsaufnahme“ sowie einem Summenscore. Die Skalen können einzeln oder als Summe zur Bestimmung des Schweregrades einer Dysphagie herangezogen werden.

Als erste psychometrische Eigenschaft wurde die Inhaltsvalidität des BODS überprüft. Das Konzept der Inhaltsvalidität war in diesem Fall anwendbar, da der BODS die zu evaluierenden Merkmale Speichelschlucken und Nahrungsaufnahme direkt erfasst (vgl. [2]).

Methoden und Material

Der Grad der Inhaltsvalidität ist allein durch subjektive Einschätzungen zu bestimmen, er kann nicht numerisch angegeben werden (vgl. [2]). Als Untersuchungsmethode wurde deshalb eine schriftliche Expertenbefragung gewählt. Hierfür wurde ein Fragebogen nach den üblichen Kriterien für schriftliche Befragungen mit elf geschlossenen Fragen und Antwortvorgaben konstruiert. Mittels einer fünfstufigen Bewertungsskala waren folgende Parameter zu beurteilen: Relevanz der beiden Skalen im Rahmen der Dysphagietherapie, Angemessenheit der Schweregradeinteilung, Verständlichkeit der sprachlichen Anker, Angemessenheit der Einteilung des Summenscores, Eindeutigkeit der sprachlichen Anker des Summenscores, Ökonomie, praktischer Nutzen und Vollständigkeit.

Der Fragebogen wurde an 136 Experten auf dem Gebiet Diagnostik und Therapie von Dysphagien verschickt. Der Versand der Fragebögen erfolgte per Email, die Antwort war auch per Fax oder postalisch möglich.

Zur näheren Beschreibung der Befragten wurden die drei Merkmale Berufsgruppe, Berufserfahrung und Tätigkeitsbereich erhoben. Folgende für Ordinalskalen zulässige Berechnungen wurden durchgeführt: Bestimmung der Häufigkeiten, des Modalwerts, des Medians und der Quartile. Zur Überprüfung der statistischen Signifikanz der unterschiedlichen Bewertungen der einzelnen Variablen wurde der Wilcoxon-Test durchgeführt.

Ergebnisse

Es konnte eine Stichprobe von 107 Antworten erhoben werden, was einer Rücklaufquote von 77% entspricht. Zum Großteil lagen Antworten von Logopäden und Sprachtherapeuten (n=77) vor, gefolgt von Ärzten (n=18) und Ergotherapeuten (n=7).

Die Globalfrage „Würden Sie einen solchen Score in Ihrer Abteilung einführen?“ wurde zu 80% positiv beantwortet. Die sprachlichen Anker des Summenscores wurden signifikant schlechter beurteilt als die sprachlichen Anker der Skala BODS-2 und die der Skala BODS-1. Die Einteilung des Summenscores schnitt signifikant schlechter ab als die Einteilung der Skala BODS-1, jedoch nicht schlechter als die der Skala BODS-2. Die Einteilung der Skala BODS-2 wurde signifikant schlechter bewertet als die Relevanz derselben Skala. Bei Skala BODS-1 traf dies nicht zu. 48% aller teilnehmenden Befragten hielten den Score für ergänzungsbedürftig. 19% vermissten eine explizite Aufführung des Status der Diätanpassung und forderten eine Revision der Skala BODS-2.

Diskussion

Der BODS hat sich in dieser Befragung als praktikabel und sehr ökonomisch erwiesen. Die Auswahl der beiden Skalen und deren verbale Anker wurden voll bestätigt, ebenso wie die Einteilung der Skala BODS-1. Als Mangel betrachteten relativ viele Beurteiler, dass der Grad der Konsistenzeinschränkung nicht explizit erfasst wird. Die Sensitivität der Skala BODS-2 sollte durch die Hinzunahme der Konsistenz gesteigert werden. Die vergleichsweise negative Bewertung des Summenscores hängt auch mit der mangelnden Sensitivität der Skala BODS-2 zusammen. Durch eine Modifikation dieser Skala sollte auch der Summenscore mehr überzeugen.

Konsequenz der Untersuchung: Modifikation des BODS

Beide Skalen wurden um zwei Stufen ausgebaut. In Skala BODS-1 wurden die Stufen mit Trachealkanüle von denen ohne Trachealkanüle getrennt. Die möglichen Entblockungszeiten wurden weiter differenziert. Innerhalb der Skala BODS-2 wurde der voll oralen Ernährung mehr Gewicht eingeräumt, Konsistenzeinschränkungen wurden explizit erfasst. Bei der neu entwickelten Einteilung des Summenscores wurde verstärkt darauf geachtet, dass die jeweilige Summe den tatsächlichen Schweregrad der Dysphagie widerspiegelt.

In Ergänzung zum Evaluationsbogen wurde ein Manual erstellt, welches Hintergründe und nähere Informationen rund um den BODS zur Verfügung stellt.

Ausblick

Die neuen achtstufigen Skalen müssen nun an einer ausreichend großen Patientenstichprobe klinisch erprobt und weiter psychometrisch abgesichert werden, etwa auf eine Korrelation mit den Beeinträchtigungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens oder der Einstufung des Aspirationsgrades. Wenn es gelingt den BODS in dieser Art weiter zu fundieren, hat er gute Chancen, sich als klinisches Assessment im Rahmen der Diagnostik und Therapie von Dysphagien zu etablieren. Zahlreiche Rückmeldungen der Befragten belegen, dass an der Einführung eines solchen Scores im klinischen Alltag großes Interesse und hoher Bedarf besteht.


Literatur

1.
Bartolome, G. (2004). Neurogene Dysphagie - Zur Frage des Zusammenhangs zwischen neurogener Dysphagie und Beeinträchtigungen nichtsprachlicher, parasprachlicher und sprechmotorischer Willkürfunktionen. 2004, Marburg, Tectum Verlag
2.
Bortz, J., Döring, N. (2003). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, 3. Aufl., Berlin, Heidelberg, New York, Springer-Verlag
3.
Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation, BAR: www.bar-frankfurt.de/Gemeinsame_Empfehlungen. BAR 2005
4.
Cieza, A., Geyh, S. et al. (2005). ICF linking rules: an update based on lessons learned. J Rehabil Med 2005 (37), 212-218
5.
Crary, M.A., Carnaby Mann, G.D., Groher M.E. (2005). Initial psychometric assessment of a functional oral intake scale for dysphagia in stroke patients. Arch Phys Med Rehabil 2005 (86), 1516-1520
6.
Prosiegel, M. et al. (2004), Neurogene Dysphagien - Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Gesellschaft für Neurotraumatologie und Klinische Neuropsychologie in Diener, H.C. (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, 2005, 3. Aufl., 746 ff, Georg Thieme Verlag, Stuttgart
7.
Rosenbek, J.C., Robbins J.A., Roecker E.B., Coyle, J.L., Wood, J.L. (1996). A Penetration – Aspiration Scale. Dysphagia 1996 (11), 93-98
8.
World Health Organisation (2001). International Classification of Functioning, Disability and Health. World Health Organization, Geneva, 2001