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100 Jahre Phoniatrie in Deutschland
22. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
24. Kongress der Union Europäischer Phoniater

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

16. bis 18.09.2005, Berlin

Auditive Wahrnehmung: Normwerte für Klassenstufe 1

Sound discrimination: evaluation of standards for Grade 1

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Sonja Dockter - Universitäts Hals-Nasen-Ohrenklinik, Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • author Friederike Feldhusen - Universitäts Hals-Nasen-Ohrenklinik, Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • author Monika Brunner - Universitäts Hals-Nasen-Ohrenklinik, Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • author Ute Pröschel - Universitäts Hals-Nasen-Ohrenklinik, Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland

100 Jahre Phoniatrie in Deutschland. 22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, 24. Kongress der Union der Europäischen Phoniater. Berlin, 16.-18.09.2005. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2005. Doc05dgppV59

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Published: September 15, 2005

© 2005 Dockter et al.
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Zusammenfassung

Bei der Diagnostik einer auditiven Wahrnehmungsstörung werden neben dem Heidelberger Lautdifferenzierungstest (H-LAD) audiologische Testverfahren (Sprachaudiometrie im Störgeräusch, dichotische Diskriminationsfähigkeit, Mottier-Test) eingesetzt. Die Leistungen sind für alle Bewertungsinstrumente sehr altersabhängig, da die Nervenreifung einiger Teile des auditorischen Systems nicht vor dem 12. Lbsj. oder sogar erst später abgeschlossen ist. Altersgerechte Normwerte sind daher unbedingt erforderlich. Für Kinder der 1. Klasse verwendeten wir bisher Richtwerte in Relation zu den bei Zweitklässlern und Vorschulkindern gültigen Werten. Im Sinne einer Pilotstudie untersuchten wir, zur Erstellung von Normwerten, 4 erste Grundschulklassen (N=67, Durchschnittsalter=6;9 J) und errechneten Prozentränge für die angegebenen Tests. Für den H-LAD erstreckt sich der Durchschnittsbereich zwischen Rohwert (RW) 13 u. 19 (auditive Analyse), zwischen 7 u. 16 (kinästhetische A.) und zwischen 2 u. 9 (Anlauta.). Im Mottier-Test erstreckt er sich zwischen 10 u. 16 Wörtern, im Göttinger Sprachverständnistest II im Störgeräusch zwischen 40 u. 80%, im Freiburger Sprachverständnistest im Störgeräusch zwischen 20 u. 50%. Beim dichotischen Test nach Feldmann liegt der Durchschnittsbereich zwischen 10 u. 60%, für den Test nach Uttenweiler zwischen 80 u. 100%. Bei Vergleich der Werte mit den in früheren Jahren erhobenen Werten für Kinder der zweiten Klasse zeigt sich in allen Bereichen ein Lernzuwachs mit zunehmendem Alter.


Text

Einleitung

Bei der Diagnostik einer auditiven Wahrnehmungsstörung ist es wichtig, zu überprüfen, dass die Interpretation der Testergebnisse nicht durch andere Prozesse oder Funktionen beeinflusst wird. Sonst kann es bei fehlender Motivation, Aufmerksamkeit, Kooperation oder bei fehlendem Verstehen zu einer Fehl-Diagnose des auditiven Problems kommen. Der Heidelberger Lautdifferenzierungstest (H-LAD) findet seit 1998 breite Anwendung in der differenzialdiagnostischen Abklärung von auditiven Wahrnehmungsstörungen und Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten [1], [2]. Darüber hinaus werden audiologische Testverfahren, wie die Sprachaudiometrie im Störgeräusch und die Überprüfung der dichotischen Diskriminationsfähigkeit und der Mottier-Test als Bestandteil umfangreicher Testbatterien eingesetzt. Die erbrachten Leistungen sind für alle Bewertungsinstrumente sehr altersabhängig, da die Nervenreifung einiger Teile des auditorischen Systems nicht vor dem 12. Lebensjahr oder sogar erst später abgeschlossen ist. Altersgerechte Normwerte sind daher unbedingt erforderlich. Bisher lagen für Kinder der ersten Klasse keine eigenen Normwerte vor. Nur für den Mottier-Test lagen uns vorläufige Normwerte aus einer 1994 in der Bildungsberatungsstelle Heidelberg durchgeführten Untersuchung vor. Wir verwendeten somit Richtwerte in Relation zu den bei Zweitklässlern und bei Vorschulkindern gültigen Werten. Ziel unserer jetzigen Studie war es, Normwerte für Kinder der ersten Klasse zu erstellen.

Methode

Wir führten die Studie im Sinne einer Pilotstudie durch. An der Untersuchung nahmen 67 Kinder aus 4 ersten Klassen teil. An 4 Vormittagen wurde jeweils eine erste Klasse in den Räumen der Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie der Univ.-HNO-Klinik untersucht. In unterschiedlicher Reihenfolge wurde bei den Kindern eine Ohrinspektion, eine audiologische Diagnostik mit Tympanometrie, Tonaudiometrie, Sprachaudiometrie im Störgeräusch (Göttinger II, Freiburger) und Überprüfung der dichotischen Diskriminationsfähigkeit (Uttenweiler) durchgeführt, die Lautdifferenzierung mit dem H-LAD überprüft und die Hör-Merk-Spanne mit dem Mottier-Test getestet. Im ersten Teil der Auswertung wurden Mittelwert und Standardabweichung der Rohwerte (RW) des H-LAD und seiner Untertests, der audiologischen Tests und des Mottier-Tests bestimmt und diese in Prozentränge (PR) umgerechnet. Im zweiten Teil der Auswertung wurden die entsprechenden Werte mit denen von Zweitklässlern aus früheren Studien unserer Arbeitsgruppe verglichen [3], [4].

Ergebnisse

In die Auswertung wurden 67 Kinder einbezogen. Diese waren im Mittel 6;9 Jahre alt. Das jüngste Kind war 6;1 Jahre alt, das älteste 8;3 Jahre alt. Die Geschlechtsverteilung war mit 37 (55,2%) Jungen und 30 (44,8%) Mädchen ausgeglichen. Zur Testnormierung wurden Prozentrang(PR)-Normen ermittelt. Gemäß teststatistischer Grundannahmen wird der Bereich von PR 15 bis 85 als Durchschnittsbereich definiert. Wie aus Tabelle 1 [Tab. 1] ersichtlich, erstreckt sich der Durchschnittsbereich für Kinder der ersten Klasse im H-LAD zwischen Rohwert (RW) 13 u. 19 (=Anzahl der richtigen Angaben) (auditive Analyse), zwischen 7 u. 16 (kinästhetische Analyse) und zwischen 2 u. 9 (Anlautanalyse). Im Göttinger Sprachverständnistest II (Tabelle 2 [Tab. 2]) im Störgeräusch liegt der Durchschnittsbereich zwischen 40% u. 80% richtig nachgesprochener Wörter und im Freiburger Sprachverständnistest im Störgeräusch liegt er zwischen 20% u. 50% richtig nachgesprochener Wörter. Beim dichotischen Diskriminationstest (dD) nach Uttenweiler liegt der Durchschnittsbereich zwischen 80% u. 100% richtig nachgesprochener Wortpaare. Lediglich für den Vergleich der Ergebnisse im Mottier-Test (Tabelle 1 [Tab. 1]) wurde die Einteilung der in 2001 durchgeführten Untersuchung gewählt und die den PR entsprechenden T-Werte mit denen von Seibert A et al. [5] verglichen. Als Durchschnittsbereich wurde hier der häufig in klinischen Diagnosen verwendete Rahmen von T-Wert 43-56 gewählt. Legen wir diese teststatistisch strengere Bemessungsgrenze zugrunde (Auffälligkeitsbereich <PR 27) erstreckt sich der Durchschnittsbereich im Mottier-Test zwischen 11 und 15 nachgesprochenen Wörtern. Werten wir nach den, den anderen Untersuchungen zugrundegelegten Grundannahmen aus, erstreckt sich der Durchschnittsbereich für den Mottier-Test zwischen 10 u. 16 richtig nachgesprochenen Wörtern.

Diskussion

Für den H-LAD liegen jetzt vorläufige Normwerte für die erste Klasse vor. Wir planen eine Fortführung der Untersuchungen, um die Anzahl der Probanden zu erhöhen. Bei Vergleich der Werte mit denen bei Kindern der zweiten Klasse (Werte siehe Tabelle 1 [Tab. 1]) zeigt sich im Untertest auditive Analyse ein deutlicher Zuwachs von der ersten zur zweiten Klasse während im Bereich kinästhetische Analyse und Anlautanalyse von der ersten zur zweiten Klasse nur ein minimaler Zuwachs zu verzeichnen ist. In diesen beiden Teilen war, wie wir letztes Jahr darstellen konnten, ein großer Zuwachs von der zweiten zur dritten Klasse zu verzeichnen (Tabelle 1 [Tab. 1]). Entsprechend den Ergebnissen im H-LAD konnten wir für den Mottier-Test ebenfalls einen Zuwachs von der ersten zur zweiten Klasse verzeichnen (Tabelle 1 [Tab. 1]). Im Bereich auditive Selektionsfähigkeit konnte im Göttinger Sprachverständnistest II ein deutlicher Unterschied von der ersten zur zweiten Klasse aufgezeigt werden (Tabelle 2 [Tab. 2]). Während in der zweiten Klasse bei 85% der Kinder das Sprachverstehen im Störschall im unauffälligen Bereich von 70%-100% lag, somit also Werte unter 70% als grenzwertig angesehen werden müssen, sind bei Kindern der ersten Klasse erst Werte von unter 40% als grenzwertig zu bezeichnen. Darüber hinaus zeigt der Durchschnittsbereich, der zwischen 40% und 80% liegt eine höhere Varianz als bei Kindern der zweiten Klasse bei denen er zwischen 70% u. 90% liegt. Die Hörbahnreifung scheint gerade in dieser Altersklasse noch sehr unterschiedlich ausgebildet. Beim Freiburger Sprachverständnistest im Störgeräusch (Tabelle 2 [Tab. 2]) zeigte sich kaum ein Unterschied von der ersten zur zweiten Klasse. Wie unsere Arbeitsgruppe bereits 2004 [4] aufzeigen konnte, ist das Sprachmaterial für Kinder der zweiten Klasse und jünger zu schwierig. Bei der Überprüfung der dichotischen Diskriminationsfähigkeit beschränkten wir uns auf dD nach Uttenweiler, da ebenfalls in der oben genannten Studie [4] schon bei Kindern der zweiten Klasse gezeigt werden konnte, dass das Sprachmaterial des dD nach Feldmann, entgegen der Untersuchungen von Feldmann selber, für diese Altersgruppe zu schwierig ist. Darüber hinaus korrelierten die Ergebnisse des dD nach Feldmann eng mit den erreichten Ergebnissen im dD nach Uttenweiler, so dass dies zusätzlich dafür spricht, in dieser Klassenstufe nur den dD nach Uttenweiler zu verwenden. Auch für die dichotische Diskriminationsfähigkeit (Tabelle 2 [Tab. 2]) zeigt sich ein deutlicher Lernzuwachs von Kindern der ersten Klasse, bei denen ein Ergebnis von <80% richtig nachgesprochener Wortpaare als unterduchschnittlich zu werten ist, zu Kindern der zweiten Klasse, die regulär alle Wortpaare richtig nachsprechen sollten. Somit bestätigt auch der Test der dichotischen Diskriminationsfähigkeit, dass die Hörbahnreifung bei Kindern der ersten Klasse noch nicht abgeschlossen ist.


Literatur

1.
Brunner M, Seibert A, Dierks A, Körkel B. Heidelberger Lautdifferenzierungstest (H-LAD): Wertingen: Westra Elektroakustik, 1998
2.
Dierks A, Seibert A, Brunner M, Körkel B, Haffner J, Strehlow U, Parzer P, Resch F: Test construction, analysis and trial of the Heidelberger Sound Discrimination Test for measuring auditory-kinesthetic perceptual discrimination acuity. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. 27(1):29-36, 1999 Feb.
3.
Dockter S, Feldhusen F, Brunner M, Pröschel U: Heidelberger Lautdifferenzierungstest (H-LAD); Ermittlung von Normen für Klassenstufe 3. Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2004/2005 (Hrsg: Gross M, Kruse E), Verlag videel OHG, Niebüll Bd. 12: 352-354
4.
Feldhusen F, Möhring L, Brunner M, Troost J, Spielberger C, Braun-Frank L, Schoenfelder D, Pröschel U: Audiologische Diagnostik bei Kindern. Verwendbarkeit von unterschiedlichem Sprachmaterial. HNO 2004 Feb; 52: 156-161
5.
Seibert A, Dierks A, Strehlow U, Haffner J, Parzer P, Resch F: Der Mottier Test als computergestütztes Screeningverfahren bei der Legastheniediagnostik. Zeitschrift für Differenzielle und Diagnostische Psychologie, 2001; 22(2): 118-126
6.
Mottier G: Mottier-Test. Über Untersuchungen zur Sprache lesegestörter Kinder. Folia Phoniatrica (1951) 3; 170-177