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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Subjektive Betroffenheit der Mütter von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen

Poster

  • author presenting/speaker Michaela Wink - Universitätsklinikum Erlangen, Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie, Erlangen, Deutschland
  • Elmar Gräßel - Universitätsklinikum Erlangen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Erlangen, Deutschland
  • Ulrich Hoppe - Universitätsklinikum Erlangen, Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie, Erlangen, Deutschland
  • Ulrich Eysholdt - Universitätsklinikum Erlangen, Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie, Erlangen, Deutschland
  • author Frank Rosanowski - Universitätsklinikum Erlangen, Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie, Erlangen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppP23

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/meetings/dgpp2004/04dgpp69.shtml

Published: September 9, 2004

© 2004 Wink et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: In der Phoniatrie und Pädaudiologie hat die Einbindung von Angehörigen besonders in der Arbeit mit Kindern einen hohen Stellenwert („Ko-Therapeuten“). In dieser Studie wurde das subjektive Belastungsgefühl der Mütter gemessen und einer parallelen Erhebung zu emotionalen Störungen gegenüber gestellt.

Probanden und Methoden: 89 Mütter (Alter: 33;3 ± 5;5 Jahre) von 89 noch nicht beschulten Kindern mit einer isolierten Sprachentwicklungsstörung (23 Mädchen, 66 Jungen; Alter: 3;9 ± 1;5 Jahre) wurden mit der Häuslichen Pflegeskala HPS und der deutsche Version der Hospital Anxiety and Depression Scale HADS-D untersucht.

Ergebnisse: 11% (28%) hatten auffällige Depressivitäts- (Ängstlichkeits-) Werte; der Anteil ist gegenüber der Norm erhöht (p<0,001). Die Gegenüberstellung mit den Werten der HPS ergab Korrelationen von 0,75 (Depressivität) und 0,59 (Ängstlichkeit).

Schlussfolgerungen: Emotionale Störungen sind bei Müttern von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen häufig. Das Ausmaß der dazu bestimmten Indizes korreliert mit der Messung der subjektiv empfundenen Belastung. Die Daten legen für die klinische Praxis nahe, die subjektive Betroffenheit der Mütter grundsätzlich zum Gegenstand einer konkreten Diagnostik zu machen, um den für die Therapie bedeutsamsten Bezugspersonen ganzheitlich gerecht zu werden. Die eingesetzten Tests sind aussagekräftig und einfach anzuwenden und somit für diesen Zweck geeignet.


Text

Einleitung

In der Medizin haben in den letzten Jahren subjektive Aspekte wie das Wohlbefinden und die Zufriedenheit mit Behandlungs- und Therapiemaßnahmen in der Forschung und in der Praxis an Bedeutung gewonnen. Diese Parameter waren Gegenstand vieler Studien sowohl bei Patienten mit organischen als auch bei solchen mit funktionellen Störungen. Auch die Frage nach dem subjektiven Erleben von Angehörigen chronisch Kranker hat bei Erwachsenen, so z.B. im Zusammenhang mit Alzheimer-Patienten, und bei Eltern von Kindern mit Entwicklungsstörungen unterschiedlicher Art, Ausprägung und Genese einen großen Stellenwert erlangt, weil das Erleben der Angehörigen ein relevanter prognostischer Ko-Faktor für den von der Störung Betroffen ist.

Bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen hat zwar die Einbindung der Eltern in die Förderung und Therapie einen großen Stellenwert, das subjektive Erleben der Eltern wurde aber bisher nur wenig untersucht, wenn auch mit bedeutsamen Resultaten: In einer früheren Studie an Müttern sprachentwicklungsauffälliger Kinder fanden wir eine eingeschränkte gesundheitsbezogene Lebensqualität und eine im Vergleich mit der Normalbevölkerung größere Häufigkeit emotionaler Störungen, nämlich insbesondere der Depressivität.

Gegenstand dieser Studie war die Frage nach dem Zusammenhang zwischen emotionalen Auffälligkeiten i.e. Ängstlichkeit und Depressivität und der subjektiv empfundenen Belastung der Mütter sprachentwicklungsauffälliger Kinder.

Probanden und Methode

In dieser Studie wurden 89 muttersprachlich deutsche Mütter im Alter von 19;6 bis 43;8 Jahren (33;3 ± 5;5 Jahren) untersucht, deren Kinder zum Untersuchungszeitpunkt eine isolierte Sprachentwicklungsstörung aufwiesen: Es handelte sich dabei um 23 Mädchen und 66 Jungen im Alter von 1;6 bis 7;1 Jahren (Alter: 3;9 ± 1;5 Jahren), die zum Zeitpunkt der Befragung noch nicht beschult waren. Syndromale Erkrankungen oder komplexe Entwicklungsstörungen wurden u.a. nach der Erhebung des kindlichen Entwicklungsstandes anhand der „essentiellen Meilensteine der Entwicklung" ausgeschlossen. Mütter von Kindern mit einer physiologischen „Entwicklungsdyslalie", isoliertem Stottern, einer Rhinophonie und / oder einer sensorineuralen Schwerhörigkeit wurden nicht in die Studie aufgenommen.

Als Erhebungsinstrumente für emotionale Störungen einerseits und für die subjektive Belastung andererseits kamen Selbstbewertungsfragebögen zur Anwendung, nämlich die deutsche Version der Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS-D) und die häusliche Pflegeskala HPS. Die Befragung der Mütter wurde in allen Fällen vor der abschließenden ärztlichen Befundbesprechung durchgeführt.

Zur Auswertung und Berechnung der Ergebnisse wurden die Programme Microsoft Excel® und Matlab® verwendet. Die statistische Bewertung erfolgte mittels des t - Tests bzw. des Vierfeldertests.

Ergebnisse

HADS: Angstskala: Auf der Angstskala beträgt der Mittelwert aller Mütter 7,9 ± 3,7. Insgesamt werden n = 25 Mütter (28%) nach dem HADS-Kriterium (Summenwert Σ 11) als auffällig bewertet. Im aus der Literatur entnommenen Vergleichskollektiv von Frauen der gleichen Altersgruppe erfüllen 9,6% der Frauen dieses Kriterium. Dieser Unterschied ist statistisch signifikant (p = 0,00026). Depressivitätsskala: Auf der Depressivitätsskala beträgt der Mittelwert aller Mütter 4,5 ± 3,1. Insgesamt werden n = 10 der Mütter (11%) nach dem HADS-Kriterium (Summenwert Σ 9) als auffällig bewertet. Im aus der Literatur entnommenen Vergleichskollektiv von Frauen der gleichen Altersgruppe erfüllen 2,5% der Frauen dieses Kriterium. Dieser Unterschied ist statistisch signifikant (p = 0,0079).

HPS: Nach den Ergebnissen der HPS wurden 6 Mütter (7%) als „positiv" eingestuft, 18 (20%) als „grenzwertig" und 65 (73 %) als „negativ", unabhängig vom individuellen HADS-Resultat.

Zusammenhang HADS - HPS: Die Depressionsskala des HADS und der HPS koprrelieren mit r=0,75. Die Ängstlichkeitsskala des HADS und der HPS korrelieren mit r=0,59.

Diskussion

Sowohl eine Einschränkung der Lebensqualität, also eines multidimensionalen Konstruktes mit körperlichen, seelischen und sozialen Facetten, als auch die subjektiv empfundene Belastung sind zwar nach früherer Sicht keine Kriterien für das Vorliegen einer Störung im Sinne der RVO, haben jedoch aufgrund ihrer hohen Relevanz in den letzten Jahren neben herkömmlichen klinischen Parametern an praktischer Bedeutung gewonnen: Dies bildet sich jetzt auch in Krankheitsklassifikationssystemen, in Versorgungsleitlinien und in Disease Management Programmen ab.

Diese subjektiven Aspekte von Krankheiten und Störungen betreffen auch die Angehörigen chronisch kranker Menschen: Pflegende Familienangehörige beschreiben eine verminderte Lebensqualität. Sie klagen gehäuft über körperliche Beschwerden, und zwar unabhängig vom Grad der Pflegebedürftigkeit ihres Angehörigen. Ihr Risiko für psychosomatische Erkrankungen ist erhöht. Auch zwischenmenschliche Bereiche werden beeinflusst: So haben sie vermehrt interpersonelle Konflikte, auch mit ihren pflegebedürftigen Angehörigen. Außerdem ist das Ausmaß der subjektiv empfundenen Belastung des Pflegenden für das Behandlungsergebnis prognostisch relevant.

Die geschilderten Auffälligkeiten aus der Erwachsenenmedizin spiegeln sich auch in der Beziehung z.B. zwischen Eltern und ihren entwicklungsgestörten Kindern wider. Diese Eltern haben eine verminderte Lebensqualität und erleben verstärkt eine subjektive Belastung. Sie klagen vermehrt über körperliche Beschwerden und fühlen sich auch in ihrem psychischen Wohlergehen beeinträchtigt. Die Prävalenz (spezifischer) emotionaler Störungen ist erhöht. Die klinische Relevanz dieses Befundes liegt in der Bedeutung des mütterlichen Befindens für die (Sprach-) Entwicklung ihres Kindes: Depressive Mütter sprechen weniger mit ihren Kindern; und diese haben sowohl einen geringen Wortschatz als auch eingeschränkte grammatikalische Fertigkeiten.

Die nach den Ergebnissen dieser Studie große Zahl emotionaler Störungen und das stark ausgeprägte Beeinträchtigungsgefühl der Mütter sind für die phoniatrisch-pädaudiologische Praxis relevant: Dies sollte bei der inhaltlichen Strukturierung des Arztgesprächs beachtet werden.