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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Differentialdiagnostische Kriterien zur Unterscheidung verschiedener Formen der funktionellen velopharyngealen Insuffizienz (VPI)

Vortrag

  • author presenting/speaker Monika Brunner - HNO- Universitätsklinik Heidelberg, Abt. Stimm-und Sprachstörungen/ Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • Friederike Feldhusen - HNO- Universitätsklinik Heidelberg, Abt. Stimm-und Sprachstörungen/ Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • Sonja Dockter - HNO- Universitätsklinik Heidelberg, Abt. Stimm-und Sprachstörungen/ Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • Ute Pröschel - HNO- Universitätsklinik Heidelberg, Abt. Stimm-und Sprachstörungen/ Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppV35

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Published: September 9, 2004

© 2004 Brunner et al.
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Zusammenfassung

Die funktionelle velopharyngeale Insuffizienz erweist sich häufig als resistentes Störungsbild. Um das therapeutische Vorgehen optimal zu planen, ist nicht nur die Unterscheidung der funktionellen von der strukturell bedingten VPI notwendig, sondern auch die Bestimmung abgrenzbarer Erscheinungsformen innerhalb der funktionellen VPI.

In unseren Studien kristallisierten sich mehrere Formen heraus, die sich durch folgende diagnostische Kriterien kennzeichnen lassen:

1. VPI bei rückverlagerter Artikulation: Konstant geöffneter velopharyngealer Sphinkter bei den jeweils rückverlagerten Lauten, bei korrekt artikulierten Lauten jedoch VP-Verschluss.

2. VPI bei Koordinationsstörungen: Disharmonie zwischen Bewegungsimpuls und Phonationsbeginn. Unkoordinierte transitorische Öffnungs- und Verschlussbewegungen bei Übergang von Vokalen zu Konsonanten und vor dem Konsonanteneinsatz..

3. VPI bei oraler/verbaler Dyspraxie: Manifestiert sich als Suchbewegung auf pharyngealer Ebene und als Tonusregulationsschwäche. Die gezielte Ansteuerung der Laute als Willkürbewegung ist erschwert. Stimmlose Plosiva weisen hierbei häufiger Verschlussinsuffizienz auf als stimmhafte Plosiva.

Die therapeutische Beeinflussung erfordert ein jeweils spezifisches Vorgehen. Ansatzpunkte und Therapieergebnisse werden vorgestellt.


Text

Einleitung

Die funktionelle velopharyngeale Insuffizienz (VPI) bei Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte stellt häufig ein therapieresistentes Störungsbild dar. Sprechverbessernde Operationen und langjährige Sprachtherapien ohne befriedigende Symptomverbesserung sind keine Seltenheit. Für die Patienten bedeutet dies: der näselnde Stimmklang und die schlechte Verständlichkeit bleiben bestehen.

Endoskopisch ist eine VPI daran zu erkennen, dass die velopharyngealen Muskeln während des Sprechens keinen optimalen Abschluss zwischen Oro- und Nasopharynx erreichen. Es werden differentialdiagnostisch die strukturell bedingte VPI (z.B. zu kurzes Velum, geringe Motilität des Velums) von einer funktionellen VPI unterschieden. Bei der strukturell bedingten VPI ist der fehlende velopharyngeale Verschluss endoskopisch durchgängig zu beobachten, bei der funktionellen VPI zeigt sich die Verschlussinsuffizienz nur intermittierend, d.h. nicht durchgängig bei allen Sprachlauten und Sprechproben. Über das Klangbild ist eine strukturelle nicht immer von der funktionellen VPI zu unterscheiden. Beim Schlucken wird der velopharyngeale Abschluss sowohl bei der funktionellen als auch bei der strukturell bedingten VPI erreicht, d.h. auch wenn beim Sprechen durchgängig kein velopharyngealer Verschluss erzielt wird.

Während die Unterscheidung der strukturellen von der funktionellen VPI durch die endoskopische Beobachtung der velopharyngealen Motorik beim Sprechen eindeutig zu treffen ist, fehlt es bis jetzt an Untersuchungen, welche die vereinzelt beschriebenen unterschiedlichen Formen innerhalb des Störungsbildes der funktionellen VPI [1] kategorisieren und eindeutige differentialdiagnostische Kriterien bestimmen. Die differentialdiagnostische Abklärung verschiedener Untergruppen der funktionellen VPI ist entscheidend dafür, dass therapeutisch die richtige Strategie zur Veränderung der Funktion angewandt werden kann.

Das Ziel der Untersuchung war, die endoskopischen Videoaufzeichnungen von Sprechproben von Patienten mit funktioneller VPI, die an einer Therapiestudie teilnahmen [2], zu analysieren und nach unterscheidbaren Formen zu kategorisieren.

Methode

Qualitative Analyse der motorischen Insuffizienzmuster

Es wurden die velopharyngealen Verschlussbewegungen während des Sprechakts von 12 Patienten mit funktioneller VPI (Alter: zwischen 6 und 35 Jahren) endoskopisch aufgezeichnet. Die Sprechsequenzen bestanden sowohl aus Einzellauten als auch aus Wörtern und Sätzen. Jede Sprechprobe musste fünf mal artikuliert werden. Die auf Video festgehaltenen sprechmotorischen Muster wurden inhaltsanalytisch ausgewertet, d.h. die motorischen Bewegungsmuster beschrieben und kategorisiert.

Bestimmung der Reliabilität der Kategorien: Die Zuordnung zu den Kategorien erfolgte durch drei in der Auswertung von Nasopharygoskopiebildern geschulte Rater. Die prozentuale Übereinstimmung hinsichtlich der Zuordnung diente als Maß der Reliabilität.

Ergebnisse

Es ließen sich folgende kategorial abgrenzbare motorische Muster der VPI nachweisen:

1. VPI bei Koordinationsstörungen

• Disharmonie zwischen Bewegungsimpuls und Phonationsbeginn, bzw. -dauer: z.B.: Der Bewegungsimpuls setzt nicht gleichzeitig mit dem Phonationsbeginn ein. z.B. Absinken des Velums, bevor die Phonation des Lautes oder Wortes beendet ist.

• Unkoordinierte transitorische Öffnungs- und Verschlussbewegungen beim Übergang von Vokalen zu Konsonanten und vor dem Konsonanteneinsatz.

• Nachlassen der velopharyngealen Verschlussaktivität bei Lautsequenzen.

2. VPI bei rückverlagerter Artikulation

• Konstant geöffneter velopharyngealer Sphinkter nur bei den Lauten, die mit fehlerhafter Rückverlagerung der Artikulationsbasis gebildet werden.

• Bei korrekt artikulierten Lauten vollständiger VP-Verschluss.

• Auf pharyngeal-laryngealer Ebene wird die Rückverlagerung der Zunge mit hochgewölbtem Zungenrücken/ Zungengrund sichtbar. In Abhängigkeit vom fehlgebildeten Laut und vom Ausmaß der Rückverlagerung wird die Reibung des Zungenrückens oder der Epiglottis an der Rachenwand sichtbar, bei laryngealer Lautfehlbildung die Adduktion der Stimmlippen und/oder der supraglottischen Strukturen.

3. VPI bei verbaler Dyspraxie

• Manifestiert sich als motorische Suchbewegung auf velopharyngealer Ebene und als unpräzise Regulation des Muskeltonus. Die gezielte Ansteuerung der Laute als Willkürbewegung ist erschwert.

• Bei stimmhaften Plosiva (/b/d/g/) zeigt sich ein besserer velopharyngealer Verschluss als bei stimmlosen Plosiva (/p/t/k/).

4. Phonemspezifische VPI

• Offener Sphinkter nur bei einzelnen Lauten (häufig /s/, /sch/, /z/), ohne dass diese mit Rückverlagerung der Artikulationsbasis gebildet werden.

• Diese Kategorie ist im Sinne einer Ausschlussdiagnostik definiert: d.h. wenn keine der anderen Kategorien zutrifft, keine Rückverlagerung beobachtet wurde und dennoch einzelne Laute keinen Verschluss erzielen, liegt eine phonemspezifische Insuffizienz vor.

Die Einteilung in Kategorien wurde in Bezug auf die betroffenen Laute durchgeführt, und nicht bezüglich der Personen, da ein und die selbe Person bei verschiedenen Lauten verschiedene Insuffizienzmuster aufweisen konnte, die differenten Kategorien zuzuordnen waren. So kam es z. B. vor, dass ein Patient eine VPI aufgrund der fehlerhaften Artikulationsrückverlagerung für den Laut /sch/ aufwies, und gleichzeitig eine phonemspezifische VPI für den Laut /t/, d.h. dieser Laut erzielte keinen velopharyngealen Verschluss ohne dass auf mesopharyngealer oder laryngealer Ebene eine Rückverlagerung vorlag. Bei einem anderen Patienten wurden für die meisten Laute dyspraktische Suchbewegungen beobachtet, und zusätzlich kam für einen Laut die VPI durch Rückverlagerung der Artikulationsbasis zustande.

Es zeigte sich eine gute Reliabilität der Kategorienzuordnung. Zwischen den Ratern konnte eine Übereinstimmung der Einordnung in die Kategorien bei 38 der 40 Laute erzielt werden. Bei zwei Lauten war in einem zweiten Auswertungsdurchgang eine Konsensusbildung zu erzielen.

Tabelle 1 [Tab. 1] gibt wieder, wie häufig die einzelnen Kategorien bei 40 Lauten, deren VPI-Muster analysiert wurde, vorkamen: Die VPI bei Rückverlagerung und die VPI bei Koordinationsstörungen waren am häufigsten vertreten, die VPI bei Dyspraxie und die phonemspezifische kamen in dem Kollektiv seltener vor.

Diskussion

Es konnten vier Kategorien von motorischen Insuffizienzmustern gefunden werden. Diese Einordnung erweist sich mit einer 95%igen Übereinstimmung der Klassifikation als reliabel und die Kategorien damit als trennscharf. Die Kategorie der Koordinationsstörung war die einzige, die nicht im ersten Durchgang eindeutig bestimmt werden konnte. Die Koordinationsstörungen zu erkennen und zu kategorisieren bedarf unserer Erfahrung nach einer sehr präzisen und wiederholten Beobachtung. So konnte im einem zweiten Auswertungsdurchgang hier auch Konsens erzielt werden. Für die Beurteilung der VPI bei Rückverlagerung der Artikulation müssen zusätzlich zur Aufnahme der velaren Strukturen und Funktionen die pharyngeal-laryngealen Funktionen endoskopisch dargestellt werden. Das bedeutet, zur eindeutigen Einordnung dieses Störungsbildes sollte das Endoskop jeweils auch die laryngeale Ebene beleuchten, so dass der Zungengrund und die Epiglottis sichtbar werden.

Fazit

Über die hier gefundenen differentialdiagnostischen Kriterien lassen sich verschiedene Unterformen der VPI eindeutig von einander abgrenzen, so dass die therapeutischen Inhalte darauf exakt abgestimmt werden können.


Literatur

1.
Sphrintzen RJ, Bardach J (ed.) Cleft palate speech management. St. Louis: Mosby; 1995
2.
Brunner M. Biofeedbacktherapie bei Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte und velopharyngealer Insuffizienz. Weiterentwicklung und Evaluation einer interdisziplinären Therapie-Methode mit dem flexiblen Nasopharyngskop. Universität Heidelberg: Dissertation; 2001