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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Mögliche Prädiktoren für unterschiedliche Sprachentwicklungsverläufe bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern nach einer Cochlea-Implantation bzw. Hörgeräteversorgung: Verlaufsstudie

Vortrag

  • author presenting/speaker Susanne Eissele - Uniklinik Freiburg - Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie, Freiburg, Deutschland
  • Thomas Burger - Uniklinik Freiburg - Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie, Freiburg, Deutschland
  • Bernhard Richter - Uniklinik Freiburg - Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie, Freiburg, Deutschland
  • Erwin Löhle - Uniklinik Freiburg - Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie, Freiburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppV22

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Published: September 9, 2004

© 2004 Eissele et al.
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Zusammenfassung

Einleitung: Die Sprachentwicklung von Kindern nach einer Hörgeräte- oder CI-Versorgung ist im klinischen Alltag heterogen. Bisher sind zur Isolierung möglicher Einflussfaktoren im Längsschnitt nur wenige Untersuchungen bekannt

Methode: Ziel der vorgestellten Längsschnittstudie ist die Untersuchung möglicher Einflussfaktoren für die kindliche Sprachrehabilitation. Hierzu wurde die Sprachentwicklung von 109 konsekutiv in die Studie aufgenommener hörgeschädigter Kinder (59 Kinder mit einer CI-Versorgung und 50 Hörgeräte-Kinder) über einen Zeitraum von 2 Jahren evaluiert. Als Erhebungsinstrumente wurde die Skalen nach Geers und Moog als speziell für die Population Hörgeschädigter entwickeltes Instrument eingesetzt. Weiterhin wurde die Reynell Skalen und zur Beurteilung des kognitiven Entwicklungsstand Zollingers Entwicklungsprofil verwendet. Videoaufnahmen, die von jeder Diagnosesitzung vorliegen, liefern Informationen hinsichtlich nonverbaler Fähigkeiten (Augenkontakt, nonverbale Kommunikationsmuster) als weitere potentielle Prädiktoren.

Ergebnisse: Der Sprachentwicklungsstand vor der Implantation oder Hörgeräteversorgung erwies sich als einer der bedeutendsten Prädiktoren für eine erfolgreiche Sprachentwicklung. Des Weiteren zeigte sich die Bedeutsamkeit nonverbaler und präverbaler Kommunikationsmuster. Erwartungsgemäß waren für Kinder mit einer (geistigen) Zusatzbehinderung sehr deutliche Sprachentwicklungsverzögerungen festzustellen.

Zusammenfassung: In Anbetracht individueller Sprachentwicklungswege besteht neben der Frühdiagnose und Hörgeräte bzw. CI-Versorgung die Notwendigkeit, sich auf die besonderen Bedürfnisse eines jeden Kindes einzustellen und in diesem Sinne die Familie beratend zu unterstützen.


Text

Einleitung

Übereinstimmung herrscht weitgehend in der Literatur, dass es sich bei der Sprachentwicklung um einen kontinuierlichen struktursuchenden und strukturbildenden Prozess handelt, resultierend aus dem Zusammenwirken grundlegender neuroantaomisch-physiologischer Faktoren und psychosozialer Einflüsse. Allgemeine Organisationsprinzipien der Kognition und der Entwicklung werden in der Sprache wirksam [3], [5]. Die Erforschung der komplexen und vielfältigen Sprachentwicklungsstränge lässt auf eine ebenfalls komplexe Ursachenforschung im Bereich der Sprachentwicklungsstörungen schließen. Aus diesen Erkenntnissen folgt die notwendige Annahme, dass auch bei schwerhörigen-resthörigen Kindern, die mit Hörgerät (HG) oder einem Cochlea Implant (CI) versorgt werden, unterschiedliche Sprachentwicklungsverläufe zu beobachten sind, ohne diese ausschließlich in einen direkten Zusammenhang mit dem fehlenden Hörvermögen der Kinder zu stellen.

Seit gut zwei Jahrzehnten werden sowohl gehörlose sowie resthörige Kinder mit einem CI versorgt und wir betrachten das CI heute als gängige Methode und gute technische Entwicklung, um diesen Kindern die Möglichkeit zu eröffnen, zu hören und auditiv Sprache zu erwerben. In der Literatur werden variable Sprachentwicklungsverläufe bei schwerhörigen-resthörigen Kindern beschrieben (vgl. [2], [4]). Neben den messbaren und bereits als Standardeinflussfaktoren zu betrachtenden Faktoren (Art der Versorgung, Alter bei Erstdiagnose/HG Versorgung, Grad der Hörstörung, Art der Schwerhörigkeit, optimale technische Versorgung etc.) stellt sich die Frage nach möglichen Zusatzfaktoren als Erklärungsmodelle unverständlicher Entwicklungswege.

Ziel unserer Längsschnittstudie war es, Zusammenhänge zu erkennen, eine mögliche Strukturierung der Einflussfaktoren vorzunehmen, um diese als Prädiktoren zu identifizieren und somit die allgemeine Entwicklung und insbesondere die Sprachentwicklung der Kinder, die mit einem HG oder CI versorgt wurden, zu optimieren.

Methode

Im Zeitraum von 1,5 Jahren wurden 106 Kinder in die Studie aufgenommen, um dann im weiteren Verlauf von 2 Jahren zu regelmäßigen Messzeitpunkten Daten zur Sprachentwicklung dieser Kinder zu erheben. Da es sich um einen naturalistischen Längsschnitt handeln sollte, wählten wir alle Kinder, die in diesem Zeitraum die Phoniatrie Freiburg zu einer ersten Untersuchung aufsuchten unabhängig von Alter oder Grad der Hörstörung. In Anbetracht unseres heterogenen Studienkollektivs wählten wir allgemein bekannte und standardisierte Messinstrumente sowohl zur Einschätzung der Sprachproduktion und -rezeption als auch der kognitiven Leistungen (Geers und Moog, Skalen zur Bewertung der frühen Kommunikationsfähigkeiten, Reynell Developmental Language Scales III, K-ABC-Wortschatz, Entwicklungsprofil-Zollinger).

Anhand von Videoaufnahmen zum Zeitpunkt der Untersuchung konnten weitere Faktoren (Blickkontakt, Turntaking, präverbales Kommunikationsverhalten, Mundbild, Artikulation, Mundmotorik) als mögliche Einflussfaktoren auf die Sprachentwicklung in Betracht gezogen werden.

Ergebnisse

Das naturalistische Studienkollektiv machte eine Einteilung in Untergruppen erforderlich. Bei 50 der 106 Kinder wurde die Diagnose Schwerhörigkeit/Gehörlosigkeit bei ihrem Besuch in der Phoniatrie zum ersten Mal gestellt; 36 dieser Kinder wurden daraufhin mit einem HG versorgt (G1), die anderen 14 HG-Kinder wurden im Verlauf der Studie implantiert („Switcher"/G2). Die restlichen 56 Kinder trugen zum Zeitpunkt ihrer Vorstellung in der Phoniatrie bereits ein Hörgerät. Tragezeit und erfahrener Nutzen des Hörgerätes bzw. Sprachentwicklungsstand war bei den Kindern sehr unterschiedlich. Sie besuchten die Phoniatrie zwecks erster Voruntersuchung für ein CI (G3).

Das Durchschnittsalter der HG-Kinder G1 lag bei 32,5 Monaten (Spanne von 0,9-6,9 Jahre). Die Kinder, die implantiert wurden, G2, waren mit 15,24 Monaten im Mittel sehr viel jünger (Spanne 1,35-11,5 Jahre). Das niedrigste Durchschnittsalter konnte bei den „Switchern", G3, mit 13,92 Monaten (Spanne 1,7-4,02 Jahre) festgestellt werden. Anzahl von Jungen und Mädchen war insgesamt ausgewogen.

Bezüglich des Hörverlusts war die Varianz bei den HG-Trägern am größten (leichtgradig-hochgradig). Die implantierten Kinder waren alle an Taubheit grenzend, ebenso 93% der „Switcher".

Mehrsprachige Umgebung innerhalb der Familie tauchte in beträchtlichem Maße bei allen Kindern auf.

Alle drei Gruppen wiesen im Verlauf einen signifikanten Sprachentwicklungszuwachs auf. Unterschiedliche Sprachentwicklungsverläufe (gold-silver-bronze) fanden innerhalb jeder Untergruppe statt. Frühe Diagnostik und Versorgung, Sprachentwicklungsstand vor HG/CI, aktives Turntaking- Mundmotorik und kognitiver Entwicklungsstand zeichneten sich als hauptverantwortliche Einflussfaktoren hierfür ab. Signifikante Zusammenhänge ließen sich über eine Regressionsanalyse zwischen Sprachentwicklung und Sprachentwicklungsstand vor HG/CI-Versorgung feststellen.

Diskussion

Unterschiedliche Entwicklungsverläufe wird es in Anbetracht individueller Entwicklungen der Kinder immer geben; die Ergebnisse unserer Verlaufsstudie jedoch stellen erneut die Frage in den Raum, inwiefern ein (noch) engmaschigeres Versorgungsnetz im Bereich der wichtigsten Einflussfaktoren für die Sprachentwicklung der Kinder förderlich wäre: klinische bzw. pädaudiologische Beratung und Kontrolle bezügl. Früherkennung/HG-Versorgung/CI-Implantation, Elternberatung und therapeutische Begleitung im Versorgungsverlauf und Einführung zusätzlicher unterstützender Kommunikationsmuster.


Literatur

1.
Franke, U.: Prävention von Kommunikationsstörungen, Gustav Fischer Verlg., Stuttgart, 1997
2.
Kiese-Himmel, Ch.: Hörgestörte Kinder und ihr Spracherwerb; eine empirische Analyse, Median-Verlag, 1999
3.
Szagun, G.: Sprachentwicklung beim Kind, Psychologie-Verlag Union, 1994
4.
Szagun, G.: Wie Sprache entsteht, Beltz Verlag, 2001
5.
Zollinger, B.: Kinder im Vorschulalter, Bern, Haupt, 1998