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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Cisplatin-induzierte Hörstörungen in Abhängigkeit von der Pigmentierung

Vortrag

  • author presenting/speaker Heiko C. Martin - Universitätsklinikum Münster, Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster, Deutschland
  • author Claus-Michael Schmidt - Universitätsklinikum Münster, Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster, Deutschland
  • author Achim Heinecke - Universitätsklinikum Münster, Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster, Deutschland
  • author Jürgen Boos - Universitätsklinikum Münster, Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster, Deutschland
  • author Antoinette Gertrud Dinnesen - Universitätsklinikum Münster, Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Münster, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppV16

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Published: September 9, 2004

© 2004 Martin et al.
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Zusammenfassung

Die Cisplatin-Ototoxizität ist charakterisiert durch Hochton-Hörverlust, Tinnitus und vestibuläre Dysfunktion. Ein Drittel bis zur Hälfte der von Schwerhörigkeit betroffenenen pädiatrisch-onkologischen Kinder wird im Verlauf hörgerätepflichtig. Die Korrelation von Pigmentierungsgrad der Iris und Melaningehalt der Cochlea ist gesichert. Der Zusammenhang zwischen Pigmentierung und Ototoxizität durch Lärmeinwirkung, Aminoglycosidantibiotika und Cisplatin stellt sich in Studien uneinheitlich dar; die otoprotektive Rolle von Melanin wird kontrovers diskutiert.

Wir untersuchten retrospektiv bei 67 Kindern, die im Zeitraum von 1999-2003 an der Universitätsklinik Münster mit Cisplatin therapiert wurden, Audiogramme unter Berücksichtigung objektiver Hörmessungen auf signifikante Hörstörungen. Eine solche lag vor, wenn der Hörverlust ab 4 KHz bei mindestens 20dB HL lag. Diese Ergebnisse verglichen wir mit der Augenfarbe der Patienten. Wir fanden bei insgesamt 37 helläugigen Patienten Hörstörungen in 29 Fällen. Von 30 dunkeläugigen Patienten erlitten 21 einen Hochtonverlust. Der Gruppenvergleich ist (unter Zuhilfenahme des Chi2-Testes) nicht signifikant.


Text

Einleitung

Chemotherapeutika wie Cisplatin werden zur Therapie primär generalisierter oder nach Lokalbehandlung ausgeprägt rezidivierender oder metastasierender Tumoren besonders in der pädiatrischen Onkologie eingesetzt. Die Ototoxizität von Cisplatin ist in der Literatur mehrfach untersucht und bestätigt worden, dabei werden die Inzidenzen stark schwankend angegeben. Effekte am mitochondrialen Energiemechanismus und der Proteinbiosynthese am endoplasmatischen Reticulum wurden beschrieben. Man fand neben Hörverlust auch Tinnitus und vestibuläre Dysfunktionen. Der Hörverlust beginnt meist im Hochtonbereich als Korrelat einer basocochleären Schädigung, zunächst an den äußeren Haarzellen. Höhere Dosierungen greifen auch die Stria vascularis an, auch retrocochleäre Störungen sind beschrieben. Ein Drittel bis zur Hälfte der von Schwerhörigkeit betroffenen Kinder wird im Verlauf hörgerätepflichtig.

Das Ausmaß der Hörschädigung durch Cisplatin oder Aminoglykosidantibiotika unter Berücksichtigung des Pigmentierungsgrades, d.h. des Melaningehaltes von Probanden oder Versuchstieren, war Gegenstand einiger Untersuchungen [1], [2], [3]. Die Rolle des Melanins wird kontrovers diskutiert. So werden ihm einerseits otoprotektive Eigenschaften nachgesagt, zum Beispiel durch seine Fähigkeit, freie Radikale zu binden. Man konnte auch zeigen, dass farbige Probanden weniger Hörermüdung zeigen [4]. Andererseits soll Melanin auch ototoxische Substanzen binden und so deren Konzentration im Innenohr über längere Zeit hoch halten. Es wäre wünschenswert, mit der Augenfarbe einen einfachen klinischen Prädiktor für die mögliche Ototoxizität zu haben.

Methode

Wir untersuchten retrospektiv 67 Kinder (39 Jungen, 28 Mädchen), die im Zeitraum von 1999 bis 2003 an der Universitätsklinik Münster unter pädaudiologischer Kontrolle mit Cisplatin therapiert wurden. Auch die Daten von Kindern, die sich zu dieser Zeit in der Nachsorge befanden, flossen in die Untersuchung ein.

Wir untersuchten Tonschwellenaudiogramme oder, falls diese aufgrund des Alters noch nicht vorlagen, Freifeldaudiogramme auf signifikante Hörstörungen. Dazu klassifizierten wir die Hörschwellen. Eine signifikante Hörstörung lag vor, wenn der Hörverlust bei 4 kHz mindestens 20 dB HL betrug. Wir unterteilten das Ausmaß der Hörstörung von 0 bis 4, wobei 0 für eine Normakusis stand, entsprechend einem Hörverlust von maximal 10 dB. Klasse 1 beschreibt eine fraglich beginnende Störung, zwischen mehr als 10 und maximal 20 dB. Störungen über 20/40/60 dB bei 4 kHz oder darüber teilten wir in die Gruppen 2a/b/c auf, mit 2a beginnt also der Teil der Hörkurven, die einen von uns als signifikant eingestuften Hörverlust aufwiesen. Die gleichen Schwellen bei 3kHz oder darunter unterteilten wir in die Klassen 3a/b/c. Klasse 4 beinhaltet mittlere Hörverluste von 80 dB oder darüber unterhalb von 4 kHz. Die Ergebnisse der Hörkurvenklassifizierung verglichen wir mit der Augenfarbe der Patienten, welche wir in „dunkel", also hoher Melaningehalt und „hell", z.B. blau- oder grauäugig unterteilten.

Ergebnisse

Wir fanden in der Gruppe der 37 helläugigen Patienten signifikante Hörstörungen in 29 Fällen (d.h. mindestens eine Hörstörung der Klasse 2a), 8 hatten keinen Hörverlust. Von 30 dunkeläugigen Patienten erlitten 21 eine Hörstörung, 9 nicht. Die Ergebnisse sind - unter Zuhilfenahme des Chi2-Testes - nicht signifikant. Wir unterteilten die Patienten (mittleres Alter 7,6 Jahre, minimal 0,7 Jahre, maximal 16,8 Jahre) in verschiedene Altersgruppen, diese Subgruppen zeigten sich kongruent.

Die kumulierten Cisplatindosen betrugen zwischen 315 und 378 mg Cisplatin/m²KO, die Dosen waren in allen vier Subgruppen, hell- und dunkeläugig, Hörverlust und kein Hörverlust, in etwa gleich, so dass ein Ungleichgewicht der Cisplatindosis nicht für das Ergebnis verantwortlich gemacht werden kann.

Diskussion

Insgesamt zeigte sich, dass die Cisplatin-Ototoxizität nicht abhängig ist vom Grad der Pigmentierung; diese stellt daher auch keinen prädiktiven Faktor für das Auftreten einer Hörstörung unter Chemotherapie dar.

Unsere Untersuchung umfasste das bislang größte Patientenkollektiv. Barr-Hamilton et al. beschrieben 1991 eine vermehrte Anfälligkeit dunkeläugiger Patienten, jedoch bei weit geringerer Fallzahl [2]. Unsere Studie schloss verschiedene Therapieschemata mit verschieden vielen Zyklen und Infusionsgeschwindigkeiten ein. Auch konnten z. B. die renale Clearance oder simultane Gabe von Diuretika oder Aminoglykosidantibiotika nicht berücksichtigt werden.

Regelmäßige Hörtests unter Cisplatintherapie sind weiterhin unbedingt notwendig, um Hörstörungen frühzeitig zu erfassen. Die individuelle Empfindlichkeit jedes einzelnen Patienten ist zu beachten [5], um gegebenenfalls frühzeitig eine Änderung des Therapieregimes abzuwägen.


Literatur

1.
Conlee JW, Bennett ML, Creel DJ: Differential effects of gentamycin on the distribution of cochlear function in albino and pigmented guinea pigs. Acta Otolaryngol. 1995 May; 115(3): 364-374
2.
Barr- Hamilton RM, Matheson LM, Keay DG: Ototoxicity of cisplatin and its relation to eye colour. J Laryngol Otol 1991 Jan; 105(1): 7-11
3.
Wasterstrom SA, Bredberg G: Ototoxycity of kanamycin in albino and pigmented guinea pigs. II. A scanning electron microscopic study. Am J Otol 1986 Jan; 7 (1): 19-24
4.
Karsai LK, Bergman M, Choo YB: Hearing in ethnically different longshoremen. Arch Otolaryngol. 1972 Dec;96(6):499-504
5.
Montaguti M, Brandolini C, Ferri GG, Hatzopoulos S, Prete A, Pession A. Cisplatin and carboplatin-induced ototoxicity in children: clinical aspects and perspectives for prevention Acta Otorhinolaryngol Ital. 2002 Feb 22(1):14-18