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20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12. bis 14.09.2003, Rostock

Stimmumfangsprofile im Normbereich

Vortrag

  • corresponding author Wolfram Seidner - Abt. Phoniatrie und Pädaudiologie, Univ.-HNO-Klinik Charité, Schumannstr. 20/21, 10117 Berlin, Tel. (030) 450 555 142, Fax (030) 450 555 931
  • Ingeburg Walch - Abt. Phoniatrie und Pädaudiologie, Univ.-HNO-Klinik Charité, Schumannstr. 20/21, 10117 Berlin, Tel. (030) 450 555 142, Fax (030) 450 555 931
  • Ingeborg Küchler - Institut für Medizinische Biometrie, DRK - Klinikum Westend, Haus 31, 13344 Berlin, (030) 450 562 153, Fax (030) 450 562 972
  • Jörg Sandmann - Abt. Phoniatrie und Pädaudiologie, Univ.-HNO-Klinik Charité, Schumannstr. 20/21, 10117 Berlin, Tel. (030) 450 555 142, Fax (030) 450 555 931

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 20. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Rostock, 12.-14.09.2003. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2003. DocV05

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Published: September 12, 2003

© 2003 Seidner et al.
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Zusammenfassung

Nach wie vor ist es im Rahmen der Stimmbeurteilung und -diagnostik erforderlich, stimmliche Leistungen zu registrieren und sowohl qualitativ als auch quantitativ zu bewerten. Die Messung von Stimmumfangsprofilen bzw. Stimmfeldern hat sich dabei weitgehend durchgesetzt. Intraindividuelle Vergleiche bei Therapie-Verlaufskontrollen sind damit relativ sicher möglich, aber bei der Einschätzung von Stimmqualitäten z.B., bei phoniatrischen Tauglichkeitsuntersuchungen oder Begutachtungen, fehlen bei der sehr grossen Variabilität stimmlicher Leistungen jene Normwerte, die auch Veranlagung und Ausbildung berücksichtigen. Wir haben 288 Sing- und Sprechstimmprofile von verschiedenen Probandengruppen (Alter 15 bis 32 Jahre) ausgewertet, die zu Tauglichkeitsuntersuchungen in unsere Abteilung kamen. Berufsbezogen wiesen sie unterschiedliche Stimmqualitäten auf: 114 waren ungeschult (für Pädagogik, andere Sprechberufe, Logopädie, Sprechwissenschaft, Rehabilitationspädagogik), 37 hatten eine geschulte Sprechstimme (für Schauspiel) und 137 eine geschulte Singstimme (122 für Gesang, 15 für Musikerziehung). In einem Tonhöhenbereich, der von den meisten Probanden gebraucht wurde, ermittelten wir sowohl für die Sprech- als auch für die Singstimme (beim lauten Singen auch mit spektraler Bewertung) gruppenspezifische Referenzkurven, die eine präzisere Zuordnung und Einschätzung aktuell erhobener Befunde ermöglichen.


Text

Einleitung

Die Messung von Stimmumfangsprofilen (Sing- und Sprechstimmprofilen) bzw. Stimmfeldern (Sing- und Sprechstimmfeldern) hat sich im Bemühen um praxisrelevante apparative Untersuchungsverfahren zwar weitgehend durchgesetzt, dient aber überwiegend intraindividuellen Therapie-Verlaufskontrollen. Bei der Einschätzung der Stimmgröße und -qualität z.B., im Rahmen phoniatrischer Tauglichkeitsbeurteilungen oder Begutachtungen, aber auch der Zuordnung von Therapieergebnisssen, fehlen jedoch die Bezugsgrößen. Bemühungen um Normwerte müssen dabei stets auf normale Grenzen stoßen, weil die Variabilität groß ist und letztlich nicht definiert werden kann, was wir unter einer normalen Stimme verstehen.

Der Vorschlag von einem „Normstimmfeld" durch Schultz-Coulon und Asche [1] war ein erster, wichtiger Ansatz, obwohl bei den ausgewählten Probanden die stimmtechnische Schulung gerade als Ausschlusskriterium galt. Hat man aber häufig Patienten in Stimm- und Sprechberufen zu betreuen oder Tauglichkeitsuntersuchungen für diese Berufe durchzuführen, sind jedoch Bezugswerte wichtig, die eine gewisse günstige natürliche Veranlagung oder stimmtechnische Schulung beachten. Publikationen, die auch die Stimmschulung berücksichtigen, liegen u.a. von Akerlund et al. [2] , Awan [3], Sulter et al. [4] und Hacki [5] vor.

Material

Wir wählten 273 stimmgesunde Probanden aus (203 weiblich, 70 männlich), die sowohl mit ungeschulten Stimmen (für pädagogische Berufe und Sprechwissenschaft) als auch mit geschulten (für künstlerische Stimmberufe) im Alter von 15 bis 32 Jahren (im Mittel 18,6) zu Tauglichkeitsuntersuchungen zu uns kamen. In der erstgenannten Hauptgruppe befanden sich 114 Probanden (99 weiblich w, 15 männlich m), in der zweiten Hauptgruppe 159 Probanden (104 w, 55 m), die wir in zwei Untergruppen unterteilt haben. Das waren 37 angehende Schauspieler (19 w, 18 m) sowie 122 zukünftige Sänger (85 w, 37 m).

Methode

Nach der üblichen phoniatrischen Untersuchung wurden Sprech- und Singstimmprofile entsprechend den Standardisierungsempfehlungen der UEP [6] gemessen. Die Registrierung der Sängerformant-Pegel erfolgte während der laut gesungenen Töne simultan. Da vor allem extreme Tonhöhen interindividuell sehr stark variieren und wir nicht stimmgattungsspezifisch untersuchen und auswerten wollten, wurde jetzt eine Auswahl getroffen: lediglich im Hauptanwendungsbereich der Stimme (bei Frauen von g bis e2, bei Männern von A bis e1) fanden die Merkmale SPLmax (maximaler Schalldruckpegel), SPLmin (minimaler Schalldruckpegel), Dynamik, SFP (Sängerformantpegel, hier: Schalldruckpegel im Bereich von 2 bis 4 kHz) und Klangkoeffizient (Quotient aus SFP und SPLmax, ausgedrückt in %) Berücksichtigung. Die statistische Bearbeitung und graphische Darstellung der Messwerte bezieht sich auf den Vergleich von gruppenabhängigen Verteilungen. Wir beschränken uns jetzt auf die Mediane. Die Darstellung der Interquartilsbereiche, Klangkoeffizienten, Tonhöhenumfänge sowie der Sprechstimmprofile muss anderen Publikationen vorbehalten bleiben.

Für die statistische Auswertung verwendeten wir zunächst zum Vergleich aller drei Gruppen, getrennt nach dem Geschlecht, den Kruskal-Wallis-Test. Dabei verglichen wir die Mittelwerte pro Proband von SPLmax, SPLmin und Formantpegel jeweils in einem unteren und oberen Tonhöhenbereich. Bei dem Klangkoeffizienten und der Dynamik haben wir zunächst über alle einbezogenen Tonhöhen den minimalen, mittleren und maximalen Wert pro Proband bestimmt. Im Falle der Signifikanz prüften wir mit 3 anschließenden Mann-Whitney-Tests (U-Tests) jeweils 2 Gruppen auf Gleichheit. Bei jedem dieser Tests wurde das Signifikanzniveau alpha zu 5% gewählt.

Ergebnisse

Die zunächst eindrucksvollste Darstellung ist durch Mediankurven möglich, die man sowohl gruppenspezifisch als auch mit Ergebnissen anderer Untersucher in Beziehung setzen kann. Jetzt werden nur deutliche Unterschiede und Grundtendenzen beschrieben. Vergleicht man die weiblichen Probanden „Pädagogik" und „Gesang" miteinander [Abb. 1], sind die Kurven des leisen Singens nur von c2 bis e2 different, wobei die Gesangsstudentinnen etwas weniger leise singen können (p<0.0005). Beim lauten Singen setzen letztere ab g1 aufwärts das Kopfregister klangvoller ein (p<0.0005), was sich auch in dem höheren Formantpegel (p<0.0005) zeigt. Der sanftere Einsatz des Brustregisters beim lauten Singen führt bei den Gesangsstudentinnen zu einem insgesamt steileren Verlauf der Kurve als bei den Pädagogikstudentinnen (p=0,045) und zu einer Überkreuzung bei fis1. Der Vergleich der männlichen Probandengruppen gleicher Berufszuordnung [Abb. 2] zeigt ähnliche Resultate, nur findet sich eine zunehmende Diskrepanz beim leisen Singen ab der Tonhöhe a aufwärts. Die Gesangsstudenten können dann etwas leiser singen. Beim lauten Singen erreichen diese grundsätzlich höhere Schallpegel, vor allem zwischen c1 und e1 (p=0,17), wobei sich die Formantpegel - das ist verständlich - noch deutlicher unterscheiden (p=0,003).

Ein Ergebnisvergleich Schauspiel/Pädagogik (weiblich) fällt erwartungsgemäß aus: Die Schauspielerinnen können über den gesamten hier ausgewählten Tonhöhenumfang die Stimme stärker steigern (p=0,032) und weisen im mittleren Brustregister als Ausdruck einer besseren Klangfähigkeit einen höheren Formantpegel auf. Der minimale Stimmschallpegel ist bei beiden Gruppen nahezu identisch. Der Vergleich der männlichen Probanden Schauspiel/Pädagogik führt zu dem gleichen Ergebnis, nur ist die Registerzuordnung der bei den Schauspielern verbesserten Klangfähigkeit im Bereich von A bis f, die mit einem höheren Formantpegel einhergeht (p=0,190), nicht in gleicher Weise möglich.

Vergleicht man die Resultate Gesang/Schauspiel (weiblich) miteinander, ist ein Kreuzungsphänomen bei gis1 auffällig: Oberhalb davon erreichen die Gesangsstudentinnen einen höheren Stimmschall- und Formantpegel (beide mit p<0.0005), unterhalb davon die Schauspielstudentinnen mit ihrem Stimmgebrauch fast ausschließlich im Brustregister (p=0,001). Die Kurven des leisen Singens sind nahezu identisch.

Der Vergleich der männlichen Probanden gleicher Berufszuordnung führt zu ähnlichen Ergebnissen, nur weniger deutlich. Der Kreuzungspunkt der Kurven des lauten Singens liegt natürlich tiefer, hier bei f. Der auffälligste Unterschied ergibt sich im Formantpegel, der sich beim Singen in die Höhe bei den Gesangsstudenten zunehmend verbessert und sich dadurch gegenüber den Schauspielstudenten erheblich unterscheidet (p<0,0005).

Diskussion

Versucht man Stimmumfangsprofile im Normbereich zu erstellen, denen man dann in der Praxis Einzelmessungen zuordnet, muss geschlechtsspezifisch berücksichtigt werden, ob eine stimmliche Schulung erfolgt ist oder nicht. Dabei geht es nicht nur um die Sing-, sondern auch um die Sprechstimme, wobei es für uns unverzichtbar ist, auch einen stimmlichen Klanganteil als Sängerformantpegel zu erfassen. Wir werden also die Mediankurven einschließlich der Interquartilsbereiche von SPLmax, SPL min und Sängerformantpegel von sechs verschiedenen Probandengruppen zu Verfügung haben, um individuelle Einschätzungen präziser vornehmen zu können. Zusätzlich werden dann die Messungen von Tonhöhenumfängen und Sprechstimmprofilen einbezogen. Dass diese Einschätzungen niemals ohne Zusammenhang mit anderen Stimmbefunden vorgenommen werden dürfen, versteht sich von selbst.

Die Vergleiche zu den Normstimmfeldern von Schultz-Coulon und Asche [1] sind insofern nicht exakt möglich, als die Autoren die Tonhöhenumfänge der einzelnen Probanden gleich 100% gesetzt und die Schallpegelwerte dann 10%-Schritten zugeordnet haben. Allein das leise Singen unserer weiblichen Probanden liegt nahe der unteren Normstimmfeld-Grenze, aber alle unsere männlichen Probanden singen vergleichsweise lauter. Unsere Probandinnen, auch die stimmgeschulten, erreichen bis auf wenige Ausnahmen nicht die obere Grenze des Normstimmfeldes, bei den Probanden gelingt es den Pädagogikstudenten nicht.

Bei einem Vergleich unserer Messergebnisse mit denen von Sulter et al. [4] fällt auf, dass die Dynamikumfänge bei unseren Probanden kleiner gemessen worden sind. Neben abzuklärenden methodischen Fragen muss wahrscheinlich auch das Alter berücksichtigt werden, das bei unseren Versuchspersonen deutlich geringer war.


Literatur

1.
Schultz-Coulon HJ, Asche S (1988) Das "Normstimmfeld" - ein Vorschlag. Sprache-Stimme-Gehör 12, 5-8
2.
Akerlund L, Gramming P, Sundberg J (1992) Phonetogram and averages of sound pressure levels and fundamental frequencies of speech: Comparison between female singers and nonsingers. J Voice 6, 55-63
3.
Awan SN (1993) Superimposition of speaking voice characteristics and phonetograms in untrained and trained vocal groups. J Voice 7, 30-37
4.
Sulter AM, Schutte HK, Miller DG (1995) Differences in phonetogram features between male and female subjects with and without vocal training. J Voice 9, 363-377
5.
Hacki T (1999) Tonhöhen- und Intensitätsbefunde bei Stimmgeübten. HNO 47, 809-815
6.
Seidner W, Schutte HK (1982) Empfehlung der UEP:Standardisierung Stimmfeldmessung / Phonetographie. HNO-Praxis 7, 305-307
7.
Büttner M, Seidner W, Eichhorst P (1991) Der "Klangkoeffizient" - ein beachtenswerter Parameter bei der Messung von Singstimmprofilen. Sprache-Stimme-Gehör 15, 135-138
8.
Seidner W, Wendler J, Wagner H, Rauhut A (1981) Spektrales Stimmfeld. HNO-Praxis 6, 187-191
9.
Seidner W (1985) Objektive Qualitätsbeurteilung der Stimme mittels Dynamikmessungen. Z Klin Med 40, 1521-1525
10.
Seidner W, Krüger H, Wernecke KD (1985) Numerische Auswertung spektraler Stimmfelder. Sprache-Stimme-Gehör 9, 10-13