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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

ISSN 2366-5017

Welche Ausbildungsinhalte brauchen Studierende im Praktischen Jahr - Bedarfsanalyse als Basis für ein chirurgisches PJ-Curriculum

What educational content do medical students want in ther final clinical year - needs assessment as the basis for a final-year surgery curriculum

Projekt/project Humanmedizin

  • Christine Engel - Klinikum am Gesundbrunnen, Abteilung für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Heilbronn, Deutschland
  • author Monika Porsche - Universität Heidelberg, HeiCuMed, Heidelberg, Deutschland
  • Susann Roth - Philippines
  • author Petra Ganschow - Universität Heidelberg, Chirurgische Universitätsklinik, Heidelberg, Deutschland
  • Markus W. Büchler - Universität Heidelberg, Chirurgische Universitätsklinik, Heidelberg, Deutschland
  • corresponding author Martina Kadmon - Universität Heidelberg, Chirurgische Universitätsklinik, Heidelberg, Deutschland

GMS Z Med Ausbild 2008;25(3):Doc89

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/journals/zma/2008-25/zma000573.shtml

Received: January 21, 2008
Revised: June 3, 2008
Accepted: June 3, 2008
Published: August 15, 2008

© 2008 Engel et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Das Praktische Jahr (PJ) soll die Umsetzung theoretischer Kenntnisse in die Praxis ermöglichen. Den meisten Ausbildungskliniken fehlt ein strukturiertes PJ-Curriculum. An der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg wurde deshalb ein systematisches Curriculum für diesen Studienabschnitt entwickelt.

Methoden: Die Curriculumsentwicklung folgte dem sechsstufigen Modell nach Kern [1]. Grundlage war eine Bedarfsanalyse anhand halbstrukturierter Interviews mit Pflegepersonal, Ärzten und Studierenden, in denen deren Meinung zum existierenden Ausbildungsprogramm und zu wünschenswerten Verbesserungen abgefragt wurde.

Ergebnisse: Die Analyse der Ergebnisse ergab, dass die Ausbildung nicht ausreichend auf den Arztberuf vorbereitet. Die meisten Fertigkeiten wurden durch Studierende ohne jegliche Supervision durchgeführt, der Erwerb von Kernkompetenzen blieb dem Zufall überlassen. Auf der Basis der Interviewdaten wurden Lernziele formuliert und in adäquate Lehrstrategien übersetzt.

Schlussfolgerung: Die vorliegende Arbeit zeigt die Ergebnisse der Bedarfsanalyse und kann auf jede chirurgische Abteilung deutscher Ausbildungskliniken übertragen werden.

Schlüsselwörter: Medizinische Ausbildung, Strukturiertes Curriculum für das Praktische Jahr, Chirurgie, Bedarfsanalyse

Abstract

Background: The final clinical year of undergraduate medical training in Germany aims at providing more practical experience. However, most hospitals lack a structured curriculum. The Department of General Surgery at Heidelberg University, therefore, developed a systematic curriculum for this training period.

Methods: In designing the new curriculum, we followed Kern’s six-step approach to curriculum development [1]. To assess needs, students, physicians, and nurses were asked in semi-structured interviews to give their views on existing as well as desirable educational contents.

Results: The interview data showed that most tasks of final-year students were fulfilled without supervision. Even skills considered very important by professionals were not audited. The accomplishment of core competencies was thus accidental. On the basis of the interview data, learning objectives were formulated and translated into adequate teaching strategies.

Conclusion: The present work shows the results of our needs assessment and may serve as a model for surgery departments of any teaching hospital in Germany.

Keywords: medical education, needs assessment, final-year undergraduate curriculum, surgery


Einleitung

Das Praktische Jahr wurde 1970 eingeführt, um eine praxisbezogenere medizinische Ausbildung zu erreichen. Die Studierenden sollten in diesem Jahr unter Anleitung ärztliche Aufgaben übernehmen und lernen, ihr zuvor erworbenes theoretisches Wissen auf Patienten und deren Erkrankungen anzuwenden [2], [3]. Ein wichtiges Ziel dieses Ausbildungsabschnitts liegt in der Vermittlung praktischer Fertigkeiten.

Gerade bezüglich der strukturierten Unterweisung in praktischen Fertigkeiten wird allerdings häufig Unzufriedenheit geäußert [4], [5]. Viele Studierende berichten, dass besonders im letzten Ausbildungsjahr die Lehre häufig vernachlässigt wird und von Seiten der Ausbilder kein Interesse an der Lehre vorhanden sei. Obwohl die Studierenden vorrangig zu Tätigkeiten herangezogen werden sollen, die ihre Ausbildung fördern, gaben im Jahr 2003 über 50 % der Studierenden in einer deutschlandweiten Umfrage zur Qualität des Praktischen Jahres an, immer oder oft als billige Arbeitskraft missbraucht zu werden [6]. Auch an der Universitätsklinik Heidelberg wurde immer wieder der geringe Lernerfolg während des Praktischen Jahres kritisiert.

Obwohl die Kritik an der Realität des Praktischen Jahres allgemein bekannt ist, fehlen bislang wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema und ernstzunehmende Ansätze zur Behebung der Missstände fast gänzlich.

Vor diesem Hintergrund erschien es uns dringend notwendig, eine grundlegende Reform des Praktischen Jahres durchzuführen und diese auch durch eine entsprechende Datenerhebung wissenschaftlich abzusichern. An der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg wurde 2003 ein Reformprojekt für das chirurgische PJ-Tertial angestoßen mit dem Ziel, ein strukturiertes Curriculum zu entwickeln, das sich am tatsächlichen Bedarf orientiert und als Beispiel für andere chirurgische Abteilungen dienen kann. Die Planung des Projekts erfolgte nach dem bewährten Curriculumsentwicklungsmodell von Kern et al [1]. Dies sieht einen sechsstufigen Prozess vor, an dessen Anfang eine allgemeine Problemdefinition und Bedarfsanalyse steht. Zentraler zweiter Schritt ist eine detaillierte Bedarfsanalyse der Lernenden, den wir ergänzt haben um eine Befragung der weiteren beteiligten Berufsgruppen, der ausbildenden Ärzte und des Pflegepersonals. Diese beiden Schritte stellen eine tragfähige Grundlage für die weitere Entwicklung eines strukturierten Curriculums dar: die Ausarbeitung von Lernzielen, die Auswahl geeigneter Lehrstrategien und schließlich die Implementierung des Curriculums mit anschließender Evaluation und Leistungsbewertung.

Die umfangreiche Bedarfserhebung als Voraussetzung einer Curriculumsneugestaltung sollte in erster Linie folgende Aspekte erfassen:

1.
Beurteilung der derzeitigen Ausbildungssituation und der tatsächlichen Fähigkeiten der PJ-Studierenden (Ist-Zustand) aus Sicht der Studierenden, der ärztlichen Mitarbeiter und des Pflegepersonals
2.
Vorschläge zur Verbesserung der Lehre (Soll-Zustand) aus Sicht der Studierenden, der ärztlichen Mitarbeiter und des Pflegepersonals
3.
Festsetzung der wichtigsten Fertigkeiten für den Arztberuf aus Sicht der Ärzte.

Die erhobenen Daten spiegeln im Wesentlichen den Bedarf für das Praktische Jahr an allen Standorten wider und können als Grundlage für ein strukturiertes Kerncurriculum an allen chirurgischen Universitätskliniken in Deutschland dienen.


Methode

Interviewleitfaden

Für die beteiligten Berufsgruppen (Studierende, Ärzte mit unterschiedlichem Erfahrungsgrad, Pflegepersonal) wurde jeweils ein eigener Interviewleitfaden entwickelt. Als Richtlinien für die Generierung der Interviewleitfäden kamen zur Anwendung:

  • Ergebnisse einer Pilotbefragung an 15 PJ-Studierenden vor Beginn des Reformprojektes
  • Anforderungen der 8. Novelle der ÄAppO an das Praktische Jahr [2]
  • Lernzielkatalog für das Praktische Jahr des Hartmannbundes [7]
  • Der chirurgische Lernzielkatalog für den klinischen Studienabschnitt des Heidelberger Curriculum Medicinale (HeiCuMed)
  • Studienordnung der Universität Heidelberg für das Praktische Jahr [8].

Des Weiteren ergänzten die Ärzte der Planungsgruppe Fragen, die auf ihren Erfahrungen im Klinikalltag beruhten.

Die Form eines halbstrukturierten Interviews wurde gewählt, um durch die Integration offener Fragen eine möglichst breite Analyse zu erhalten. Diese Interviewform ermöglicht die Erfassung sowohl qualitativer als auch quantitativer Informationen.

Die Fragen bezogen sich zum einen auf die derzeitige Ausbildungssituation, deren Stärken und Schwächen, zum anderen auf die wünschenswerte Idealsituation aus Sicht der genannten Personengruppen. Die verschiedenen Themengebiete der Befragung werden in Tabelle 1 [Tab. 1] dargestellt. Bei den Studierenden überwogen offene Fragen, um möglichst viele Verbesserungsvorschläge und Kritikpunkte aufnehmen zu können. Im Interviewleitfaden für Ärzte und Pflegekräfte wurden dagegen mehr geschlossene Fragen verwendet, um den Zeitaufwand für das Interview so gering wie möglich zu halten und so die Compliance zu steigern.

Durchführung der Befragungen

Bei den Studierenden wurden zwei PJ-Gruppen mit jeweils 15 Studierenden als Zielgruppe der Befragung definiert. Die PJ-Studierenden durchliefen ihr chirurgisches Tertial vom 18.08.03 – 07.12.03 bzw. vom 20.10.03 – 08.02.04. Das vorrangige Ziel war, möglichst alle Studierenden dieser Gruppe zu interviewen.

In der Gruppe der befragten Ärzte und Pflegepersonen wurde bewusst keine Zufallsauswahl vorgenommen. Für diese beiden Berufsgruppen bestand das Ziel darin, durch die Befragung von Pflegekräften verschiedener Arbeitsbereiche und von Ärzten in unterschiedlichen Ausbildungsstadien bzw. Positionen ein möglichst breites Meinungsbild und eine gewisse Repräsentanz zu erhalten. Zur Gewinnung valider Aussagen sollten vor allem Personen befragt werden, die an der Anleitung von PJ-Studierenden beteiligt sind und Engagement in der Lehre zeigen.

26 PJ-Studierende, 19 Ärzte in verschiedenen Positionen (Assistenzärzte, Fachärzte, Oberärzte) und 16 Pflegekräfte unterschiedlicher Bereiche (Ambulanz, operativer und stationärer Bereich) wurden von September bis November 2003 in halbstrukturierten Interviews befragt. Das Interview mit den Studierenden erfolgte jeweils frühestens vier Wochen nach Beginn ihres chirurgischen Tertials, um aussagekräftige Daten auf der Basis erster Erfahrungen zu erhalten. Mit 26 befragten Studierenden (von 30) konnte eine Teilnehmerquote von 87 % erreicht werden. Die übrigen vier konnten aufgrund von Auslandsaufenthalten nicht teilnehmen.

Die Interviews wurden in standardisierter Form durch drei Personen1 der Projekt-Planungsgruppe durchgeführt.

Ärzte und Studierende sollten die derzeitige Ausbildung in verschiedenen Basisfertigkeiten beurteilen z. B. das Legen einer Magensonde oder das Palpieren der Bauchorgane. Bei den Ärzten (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]) empfahl sich eine Einteilung in folgende vier Lehrsituationen (LS):

1.
Der Arzt erklärt eine Tätigkeit.
2.
Der Arzt lässt den Studierenden bei seinem Tun zusehen bzw. zeigt und erläutert. (2a)
3.
Der Arzt beaufsichtigt einen Studierenden, während dieser eine Tätigkeit selbst ausführt.
4.
Der Studierende kann selbständig üben bzw. eine Tätigkeit am Patienten ausführen.

Auf einer Ordinalskala von 0 (nicht angewandt) bis 4 (häufig angewandt) konnten jeweils die Häufigkeiten angeben werden, in denen die fünf Lehrsituationen stattfanden.

Für jede Fertigkeit wurden die Häufigkeitsangaben aller 19 Befragten zu den einzelnen Lehrsituationen getrennt aufgelistet. In Abbildung 1 [Abb. 1] sind die Angaben der Ärzte zu den verschiedenen Lehrsituationen dargestellt, allerdings wurden nur jeweils die Häufigkeitsangaben 3 (öfter) und 4 (häufig) in die Abbildung aufgenommen, da die Angaben 0 – 2 (nie bis manchmal) in unseren Augen keine zuverlässig und häufig stattfindende Lehre bedeuten und die Befragten in ihren Antworten oft nicht genug differenzierten.

In etwas abweichender Form wurden die Studierenden zur Ausbildung in denselben Basisfertigkeiten befragt (siehe Abbildung 2 [Abb. 2]). Sie sollten bei den einzelnen Fertigkeiten angeben, in welcher Lehrsituation sie jeweils hauptsächlich ausgebildet wurden, auf eine genauere Quantifizierung wurde verzichtet – die Unterschiede in der Darstellung zwischen den Aussagen der lehrenden Ärzte und der Studierenden sind darauf zurückzuführen. Bei den Studierenden wurden folgende vier Lehrsituationen (LS) erfragt:

1.
Der Studierende eignet sich nur theoretische Kenntnisse an.
2.
Dem Studierenden wurde die Tätigkeit gezeigt und erklärt.
3.
Der Studierende darf die Tätigkeit unter ärztlicher Aufsicht selbst durchführen.
4.
Der Studierende führt die Tätigkeit selbständig und ohne Aufsicht aus.

Ergebnisse

Die Aussagen der Ärzte stimmen in vielen Bereichen mit denen der Studierenden überein. Es fällt auf, dass die Studierenden besonders häufig angaben, Tätigkeiten selbständig und ohne ärztliche Aufsicht durchzuführen (LS 4). Aktive Lehre (d. h. Arzt beaufsichtigt den Studierenden bei seinem Tun und korrigiert ihn gegebenenfalls = LS 3) fand nach Ansicht der Befragten eher selten statt. Zudem wird deutlich, dass in einigen Bereichen insgesamt viel zu wenig Lehre erfolgt, dies betrifft in erster Linie praktische Fertigkeiten wie die Durchführung einer Stomaversorgung, einer Pleura-, Aszitespunktion oder das Führen einer Visite.

Die Ärzte wurden darüber hinaus befragt, für wie wichtig sie das Erlernen der einzelnen Fertigkeiten für den späteren Arztberuf halten (Skala: unwichtig – weniger wichtig – wichtig – sehr wichtig) (siehe Abbildung 3 [Abb. 3]). Die Befragten bezeichneten einerseits Tätigkeiten als sehr wichtig oder wichtig, die von den Studierenden hauptsächlich selbständig und ohne Aufsicht durchgeführt wurden (z. B. die körperliche Untersuchung, Blutabnehmen und die Palpation des Abdomens). Während des Interviews wurde einigen Ärzten deutlich, dass die Studierenden in vielen Bereichen zu selten eine ärztliche Anleitung erhielten und häufig ohne Aufsicht trainieren mussten.

Andererseits fällt bei einigen Fertigkeiten eine starke Diskrepanz zwischen eingeschätzter Relevanz und tatsächlich stattgefundener Lehre auf, besonders bei der Diagnostik eines akuten Abdomens, der Durchführung einer schambesetzten Untersuchung, der Aufklärung über schwerwiegende Diagnosen und beim Legen einer Magensonde. Die Ärzte bezeichneten diese Tätigkeiten zwar überwiegend als wichtig bis sehr wichtig, gleichzeitig berichteten sie jedoch über verhältnismäßig wenig Lehre in diesen Bereichen (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).

Bei einigen Basisfertigkeiten ist diese Diskrepanz nicht festzustellen, die eigene Einschätzung der Lehrintensität und die Wichtigkeit stimmen beispielsweise bei den verschiedenen Nahttechniken oder Lokal-/Leitungsanästhesien überein.

Als weniger wichtig bis unwichtig bezeichneten die Ärzte in erster Linie die Tätigkeiten, die sie sehr wenig aktiv lehrten, beispielsweise die Durchführung einer Stomaversorgung.

Weshalb konnten die aufgelisteten Basisfertigkeiten nicht ausreichend gelehrt und geübt werden? Die Studierenden nannten hierfür mehrere Gründe (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]), am häufigsten wurde die Zeitknappheit der Ärzte, aber auch deren geringes Interesse an der Lehre für das Defizit verantwortlich gemacht. Viele Befragte waren außerdem der Meinung, dass ihnen als PJ-Studierenden zu wenig Verantwortung übertragen werde. Als weiteres Problem wurde die Spezialisierung vieler Kliniken oder Stationen gesehen, die die Möglichkeiten zum Trainieren diverser Basisfertigkeiten einschränkt. Wesentlich dazu trägt auch die Tatsache bei, dass die Studierenden auf ihren Stationen stets viele Routineaufgaben erledigen müssen (und auch dafür eingeplant sind), so dass daneben kaum Zeit für Lehre und Training in den wichtigen Basisfertigkeiten bleibt. Einige Studierende sahen ein Problem in den eigenen mangelnden klinischen Fähigkeiten oder auch – selbstkritisch – in mangelnder Eigeninitiative.

Im Rahmen der freien Fragen am Schluss der Interviews äußerten die Befragten der einzelnen Gruppen eine Vielzahl spezifischer Wünsche und Anregungen (siehe Tabelle 3-5 [Tab. 3], [Tab. 4], [Tab. 5]).

Einige Kritikpunkte bzw. Verbesserungsvorschläge wurden jeweils von allen drei (!) Berufsgruppen genannt. So waren viele Befragte einhellig der Meinung, dass die derzeitige Ausbildung während des Praktischen Jahres nicht ausreichte, um die Studierenden auf den späteren Beruf als Arzt vorzubereiten. Ebenso wurde bemängelt, dass für die Ausbildung im PJ klare Richtlinien und Lernziele fehlten und nicht ausreichend definiert sei, welche Aufgaben PJ-Studierende an ihren Einsatzorten tatsächlich haben. Viele Befragte aus allen drei Gruppen hielten es im Sinne einer praxisnahen Ausbildung für wünschenswert, dass die Studierenden in der Zeit auf Station kontinuierlich eigene Patienten betreuen sollten.

Insgesamt müsste mehr Wert auf die Vermittlung praktischer Fertigkeiten gelegt werden, wobei die Schwierigkeit darin liegt, dass den Ärzten durch ihre Anforderungen im Klinikalltag oft zu wenig Zeit für die Lehre bleibt und die Studierenden ihrerseits ebenfalls durch die Verrichtung zahlreicher Routinetätigkeiten und OP-Dienste schwer Zeit für das Training wichtiger Basisfertigkeiten finden können. Die vielen OP-Dienste erschweren zusätzlich das Kennenlernen der verschiedenen Stationsabläufe.

Eine gewisse Verbesserung könnte erreicht werden, so die Meinung vieler, wenn die Studierenden zu Beginn des Tertials eine bessere Einarbeitung/Einführung in ihre Aufgaben und Tätigkeiten auf Station erhielten und wenn man ein Tutorensystem etablieren könnte.


Diskussion

Mithilfe der vorliegenden Bedarfsanalyse sollte festgestellt werden, ob zum damaligen Zeitpunkt die Ausbildung während des chirurgischen Tertials an der Universitätsklinik Heidelberg ausreichend auf den späteren Arztberuf vorbereitete. Gleichzeitig diente die Bedarfserhebung als Grundlage für die nachfolgende PJ-Reform, die zunächst nur das chirurgische Tertial betraf und derzeit fachübergreifend fortgeführt wird. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Reform dringend nötig war. Besonders bemängelt wurden der geringe Stellenwert der Lehre, die ungenügende Vermittlung praktischer Fertigkeiten und die mangelnde Zeit für das Training wesentlicher Basisfertigkeiten im Klinikalltag aufgrund der Vielzahl anfallender „Routineaufgaben“. Im letzten Jahr des Studiums sollte durch die Einbindung der Studierenden in den Klinikalltag die Anwendung der zuvor erlangten theoretischen Kenntnisse gefördert werden, stattdessen „flottiert der PJler frei auf der Station oder im OP, angewiesen auf Selbstorganisation und Motivation“ [4]. Auch unsere Befragungen zeigen, dass die Studierenden an der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg praxisrelevante Basisfertigkeiten hauptsächlich – je nach Eigeninitiative – überhaupt nicht oder ohne Aufsicht trainieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass selbst den lehrenden Ärzten im Rahmen der Interviews klar wurde, dass die Dinge, die sie selbst als wichtig erachten, nicht unbedingt auch strukturiert unterrichten.

An anderen Standorten wird eine ähnliche Situation beschrieben [4], [5]. Daher erscheint es dringend notwendig, ein strukturiertes Curriculum auch für das letzte Ausbildungsjahr zu entwickeln, das die vorherrschenden Bedürfnisse berücksichtigt und die Studierenden besser auf ihren Berufseinstieg vorbereitet.


Ausblick

Die Bedarfsanalyse stellte einen ersten Schritt im Rahmen der Entwicklung eines neuen Curriculums dar [1], [9]. Aus den Einschätzungen der Befragten zur Wichtigkeit und zur derzeitigen Vermittlung verschiedener Basisfertigkeiten können spezifische, messbare Lernziele abgeleitet werden, deren Erreichen ein wesentliches Ziel für die Studierenden im chirurgischen PJ-Tertial darstellt. Der Schwerpunkt liegt auf dem Erlangen grundlegender ärztlicher Kompetenzen, die für jeden praktisch tätigen Arzt von Bedeutung sind. Zum Erreichen der definierten Lernziele müssen im nächsten Schritt geeignete Lehrstrategien ausgewählt werden, die die Rahmenbedingungen der Klinik (hohe Arbeitsbelastung der Ärzte, wenig Zeit für die Lehre) berücksichtigen. Diese Schritte wurden an der Chirurgischen Universitätsklinik Heidelberg vollzogen. Derzeit erfolgt eine weiterführende fachübergreifende interdisziplinäre PJ-Reform, für die die vorliegende Bedarfsanalyse eine relevante Grundlage darstellt.


Konkrete Umsetzung der Vorschläge

Bei der Betrachtung von Kritik und Verbesserungsvorschlägen der Befragten muss das Hauptaugenmerk auf den Punkten liegen, die im Rahmen einer Curriculumsentwicklung verändert werden können. Der Forderung nach einer klaren Definition der Aufgaben und Lernziele der Studierenden kann nachgekommen werden, indem z. B ein strukturierter Lernzielkatalog erstellt wird. Auch die Vermittlung praktischer Fertigkeiten und anderer Basisfertigkeiten, die für jeden Mediziner von Bedeutung sind, kann gefördert werden durch den Einsatz neuer oder auch älterer, bewährter Lehrmethoden (z. B. Skills Lab oder Logbuch). Die Betreuung eigener Patienten ist ebenfalls ein wichtiger Verbesserungsvorschlag, er könnte durch die Einrichtung eines PJ-Patientenzimmers auf den Stationen umgesetzt werden. Eine Einführung zu Beginn des Tertials kann beispielsweise durch den Einsatz eines „Einführungstages“ erfolgen, an dem den Studierenden wichtige organisatorische und praktische Abläufe erläutert werden.

Ein Problem ist jedoch, dass vieles in der Ausbildungsmisere derzeit auf die ausgeprägten ökonomischen Zwänge mit kontinuierlich steigender ärztlicher Arbeitsbelastung zurückzuführen ist. Als Beispiele seien nur die mangelnde Zeit der Ärzte im Klinikalltag, die Personalunterbesetzung oder die spezialisierte Universitätsklinik genannt, in der die Patienten bereits mit abgeschlossener Diagnostik zur Aufnahme kommen und dementsprechend wenig Lehrmöglichkeiten bieten. Dies kann im Rahmen der Curriculumsentwicklung zwar berücksichtigt, aber kaum verändert werden.

Dennoch ist es wichtig, die Probleme der medizinischen Ausbildung heute und in Zukunft an jedem Standort zu ermitteln und zu objektivieren. Hierzu müssen immer wieder von neuem Bedarfserhebungen und -analysen durchgeführt werden, sie sind eine notwendige Voraussetzung für die Verbesserung der Lehrsituation. Der Lerneffekt während des PJ darf nicht weiterhin dem Zufall überlassen bleiben – auch für diesen letzten Ausbildungsabschnitt im Medizinstudium sind deutschlandweit curriculare Reformen notwendig. Es muss erreicht werden, dass die Lehre einen neuen Stellenwert im medizinischen Alltag erhält, um fähige, bald im Klinikalltag einsetzbare Ärztinnen und Ärzte auszubilden.


Anmerkung

1 jeweils eine Person pro befragte Berufsgruppe


Literatur

1.
Kern DE, Thomas PA, Howard DM, Bass EB. Curriculum development for medical education. A six-step approach. Baltimore London: The Johns Hopkins University Press. 1998:4-98.
2.
Bundesministerium für Gesundheit. Approbationsordnung für Ärzte (ÄAppO) vom 27.06.2002. Bundesgesetzbl. 2002;I(Nr. 44):2405-2407.
3.
Wever S. Das praktische Jahr des Medizinstudiums aus der Sicht von Studierenden der Universität Münster. Med. Dissertation. Münster: Universität Münster; 1991.
4.
Rimpau W. Ausbildungshilfe im Praktischen Jahr. Med Ausbild. 1998;15:91-95.
5.
Müller K, Tekian A, Hansis M. PJ - Schlüsselstellung zwischen Theorie und Alltag. Med Ausbild. 2000;17:13.
6.
Wolf A.Via medici-PJ-Umfrage: Die Auswertung. Das Schweigen der Lämmer. Via medici. 2003;4:30-31.
7.
Schaps KPW, Cramer O, Höper DW, Ascher P, Lipinski J, Rhode A. Lernzielkatalog für das Praktische Jahr im Studium der Humanmedizin. Berlin: Hartmannbund; 2003. Zugänglich unter: http://www.hartmannbund.de. External link
8.
Hommelhoff P. Studienordnung für das Medizinstudium an der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg für das 6. Studienjahr (Praktisches Jahr). Mitteilungsbl Rektor Uni Heidelberg. 2003;33:615-617.
9.
Graduate Medical Education Committee. Prerequisite Objectives for Graduate Surgical Education: A Study of the Graduate Medical Education Committee American College of Surgeons. J Am Coll Surg. 1998;186(1):50-62.