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GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

20 Jahre medizinische Informatik in Dortmund

Editorial

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  • corresponding author Britta Böckmann - Department of Medical Informatics, University of Applied Sciences and Arts, Dortmund, Germany; IMIBE, University Hospital Essen, Germany

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2016;12(2):Doc05

doi: 10.3205/mibe000167, urn:nbn:de:0183-mibe0001673

Published: August 24, 2016

© 2016 Böckmann.
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Editorial

Vor 20 Jahren wurde der Studiengang Medizinische Informatik (MI) an der FH Dortmund gegründet – ein guter Grund für einen Rückblick und Standortbestimmung. Für ein dynamisches angewandtes Lehr- und Forschungsgebiet wie die MI sind 20 Jahre eine lange Zeit und so möchte ich in diesem Editorial einen Blick darauf werfen, wie sich die Anforderungen an Medizininformatiker in diesen beiden Jahrzehnten entwickelt haben und welchen Einfluss das auf unsere Lehre hat und haben muss.

Im Jahr 1995, zu Beginn des Internetzeitalters, gab es die Medizinische Informatik als Forschungsgebiet, in der Regel angesiedelt an medizinischen Fakultäten der Universitäten, und an wenigen Hochschulen als Studiengang. Die Hochschulen Heidelberg und Heilbronn waren hier herausragend aufgestellt und dienten in Dortmund als Vorbild. Bei der Konzeption des Diplomstudiengangs wurde eine engagierte Diskussion geführt, was denn Medizinische Informatik genau ist und welche Kompetenzen ein Medizininformatiker braucht, intensiv auch im Austausch mit den „Vätern“ der MI, den Professoren Haux und Möhrs. In der Abwägung zwischen medical informatics und health informatics, die seinerzeit im angelsächsischen Raum stark forciert wurde, entschied man sich für eine Ausrichtung auf medical informatics – die damalige Beschreibung aus dem Antrag zur Einrichtung des Studiengangs ist auch heute noch aktuell:

Die Medizinische Informatik befaßt sich mit der systematischen Verarbeitung von Informationen in der Medizin, untersucht die Prinzipien der Informationsverarbeitung in der Medizin und erarbeitet hierfür möglichst allgemeingültige Lösungen, modelliert Aufbau und Wirkungsweise von informationsverarbeitenden Systemen in der Medizin mit dem Ziel, diese zu beschreiben, zu analysieren, zu konstruieren und/oder zu bewerten und verwendet zur Lösung der genannten Aufgaben geeignete (formale) Methoden und Werkzeuge. Die Medizinische Informatik hat dabei zum Ziel, mit den Methoden der Informatik den Arzt bei der Patientenbehandlung zu unterstützen sowie Systeme zur Unterstützung von Einrichtungen der Gesundheitsversorgung zu analysieren, mit wissenschaftlichen Methoden aufzubauen und zu betreiben.

1994 brauchte ein Medizininformatiker, egal in welchem Bereich er arbeitete, unbedingt Kompetenzen in Programmierung, Rechnerstrukturen und Betriebssystemen. Ob es in der Wissenschaft galt, Algorithmen zur Bildverarbeitung zu entwickeln oder im Krankenhaus ein Befundungssystem – ohne Programmierkenntnisse ging es nicht. Es gab keine komfortablen Entwicklungswerkzeuge, kaum Bibliotheken, die man nutzen konnte, kein Internet, keine open source Initiativen, kaum fertige Software, die Ärzte in ihrer Arbeit unterstützte. Für die Ausbildungsinhalte bedeutete das, dass Mathematik, Programmierung, Physik, Elektrotechnik und Rechnerstrukturen ebenso gelehrt wurden wie medizinische Grundlagen und Bild- und Signalverarbeitung.

Wie hat sich seitdem die Welt der Medizinischen Informatik verändert? Wir haben diese Frage im Zusammenhang mit unserer Reakkreditierung im Jahr 2014 ausführlich beleuchtet. Zum einen ist offensichtlich, dass durch neue Technologien völlig neue Anwendungsfelder von hoher Relevanz entstanden sind. Wissensverarbeitung war immer schon ein Gebiet der Medizinischen Informatik, durch die fortschreitende Digitalisierung des Wissens und die Methoden aus dem Big Data-Kontext geht es heute im Bereich der Künstlichen Intelligenz nicht mehr darum, ein regelbasiertes System zu gestalten, das den Mediziner Schritt für Schritt durch einen Dialog führt. Die Aufgabe liegt in der automatischen Analyse, Klassifikation, Auswahl von Informationen, in der Berücksichtigung persönlicher Kompetenzen und Suchstrategien sowie der Bewertung von Relevanz von Wissen und vor allem in der Integration zunehmend zahlreicher und heterogener Datenquellen. Omics-Daten stellen uns bezüglich ihrer Menge und Struktur vor neue Herausforderungen ebenso wie die Gestaltung und Implementierung von Telemedizin, welche erst durch Breitbandtechnologie alltagstauglich wurde. Mobile Geräte als zusätzliche Datenquelle, Apps, e-Health und Gesundheitskarte sind weitere Entwicklungen, die zunehmend die Gesundheitsversorgung prägen. Dieses Sonderheft präsentiert zwei Arbeiten aus Dortmund, die diese neuen Themen und Anwendungsgebiete der Medizinischen Informatik repräsentieren.

Der erste Beitrag [1] zeigt die Komplexität der Medizinischen Informatik heute im Kontext von Interoperabilität und integrierter Versorgung auf. P. Proksch hat eine Anwendung konzipiert und prototypisch entwickelt, die das Versorgungsmanagement in der Onkologie über die Sektorgrenzen hinweg unterstützt. Basierend auf dem Konzept der elektronischen Fallakte als fallorientierter Datenaustauschplattform werden Prozesse und Interaktionsmuster am Beispiel von COPD definiert. Die Arbeit zeigt in besonderer Weise auf, mit welchem politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Umfeld sich solche Projekte beschäftigen müssen, damit die in Deutschland komplexen und nicht innovationsförderlichen Rahmenbedingungen für eHealth und integrierte Versorgung gute technische Lösungen nicht verhindern.

Der zweite Beitrag [2] beschäftigt sich mit dem wichtigen Feld des information retrieval. Ärzte stehen zunehmend vor der Herausforderung, exponentiell wachsendes medizinisches Wissen zu nutzen und im jeweiligen Behandlungskontext eine passende Auswahl zu treffen. Dabei helfen die Methoden des text minings, eine sinnvolle Filterung und Auswahl von Veröffentlichungen vorzunehmen. O. Pelka hat in ihrer Arbeit Modellierungsansätze verglichen zur Erkennung von Modalitäten in biomedizinischer Literatur. Die Kombination verschiedener visueller Verfahren zur Merkmalsextraktion wie Bag-of-Keypoints mit Dense-SIFT Deskriptoren, Joint Composite Descriptor und Fuzzy Color Histogram mit textuellen Verfahren wurde mit unterschiedlichen Lernalgorithmen getestet und evaluiert, welche Merkmale wie stark die Klassifikation beeinflussen.

Welche Kompetenzen braucht also ein Medizininformatiker von heute? Ist das Konzept des Medizininformatikers als Generalist noch zeitgemäß oder brauchen wir für alle oben genannten Themen Spezialisten und eigene Ausbildungsprogramme? In Dortmund haben wir uns entschieden, nach wie vor auf ein umfassendes Studium mit breit gefächerten Themen zu setzen, wobei der Bachelor klar auf die Berufspraxis abzielt, der Master dann forschungsorientiert gestaltet ist. Die beiden wichtigsten Arbeitsfelder des Bachelor-Absolventen sind die IT-Abteilung des Krankenhauses und die Softwareindustrie mit jeweils heterogenen Einsatzfeldern. Softwareentwicklung findet im Krankenhaus kaum noch statt, der Medizininformatiker ist zuständig für Schnittstellen und Kommunikationsstandards, für Customizing, Schulung, Einführung neuer Softwaremodule und Anwenderbetreuung. In der Industrie reichen die Einsatzgebiete von der Entwicklung bis zur Beratung. In der Konsequenz ergibt sich eine deutliche Veränderung des Informatik-Anteils im Studium. Praxisorientiert werden Funktionen und Prozesse eines Krankenhausinformationssystems erlernt, Projektmanagement im Krankenhaus und Kommunikationsstandards sind weitere wesentliche Elemente. Programmierung und Softwaretechnik gehören immer noch zu den Kernkompetenzen, Physik und Elektrotechnik mussten weichen.

Der Master wurde komplett neu gestaltet und wird heute in Kooperation mit dem Universitätsklinikum Essen angeboten. Die Studierenden erwerben so einen doppelten Abschluss und können nahtlos promovieren. Für ein forschungsorientiertes Studium ist die Anbindung an und Vernetzung mit medizinischer Forschung essentiell. Die Studenten werden frühzeitig in Forschungsprojekte eingebunden, erarbeiten eigene Texte und Präsentationen und lernen so wissenschaftliches Arbeiten. Und auch hier haben wir uns für einen generalisierten Ansatz entschieden – sechs Kernfächer der Medizinischen Informatik von Epidemiologie und Studienmanagement bis zu Telemedizin, e-Health und 3D-Computersehen erlauben Einblicke und Vertiefungen in sehr unterschiedliche Forschungsgebiete.

Mit diesem Weg haben wir uns bewusst der Tradition der Medizinischen Informatik verschrieben in Abgrenzung zur Vielzahl unterschiedlicher Bezeichnungen ähnlicher Studiengänge, die man heute in Deutschland findet – von „e-Health“ bis zu „medizinisch-technischer Informatik“ oder „Gesundheitsinformatik“. Um unser Fach einheitlich zu vertreten und den Bekanntheitsgrad auch in Schulen weiter zu steigern, wäre eine Initiative wünschenswert, ähnlich wie für das Zertifikat Medizininformatik, zu definieren, welche Kernkompetenzen einen Medizininformatiker ausmachen und welche Fächer mit wie vielen Credits dafür im Studium mindestens vorkommen müssen. Die aktuelle BMBF-Initiative Medizininformatik bietet dafür ebenfalls einen guten Ausgangspunkt. Mit dem klaren Ziel der Stärkung der Medizinischen Informatik an Hochschulen könnte hier ein Aufschlag für eine Vereinheitlichung von Inhalten gemacht werden. Wenn es gelingt, die Medizinische Informatik zu einer Marke zu entwickeln und jedem Arbeitgeber klar ist, was er bekommt, wenn er einen Medizininformatiker einstellt, wenn das Fach in Schulen einen ähnlichen Bekanntheitsgrad erreicht wie Wirtschaftsinformatik und wir so mehr und bessere Bewerber bekommen, wäre das ein großer Schritt.

Dieses Sonderheft gibt mit den zwei Beiträgen aus ganz unterschiedlichen Forschungsgebieten einen kleinen Einblick in die Vielfalt in Dortmund und ich möchte mich bedanken bei allen, die das ermöglicht haben, und wünsche viel Spaß bei der Lektüre.


Literatur

1.
Proksch P, Böckmann B. Design und prototypische Implementierung eines IT-Lösungskonzepts für eine Versorgungsmanagement-Plattform mit Integration der EFA. GMS Med Inform Biom Epidemiol. 2016;12(2):Doc03. DOI: 10.3205/mibe000165 External link
2.
Pelka O, Friedrich CM. Modality prediction of biomedical literature images using multimodal feature representation. GMS Med Inform Biom Epidemiol. 2016;12(2):Doc04. DOI: 10.3205/mibe000166 External link