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GMS Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS)

ISSN 1860-9171

Neue Perspektiven des E-Learning für Blinde und hochgradig Sehbehinderte

New perspectives on e-learning for the blind and severely visually impaired

Originalarbeit

  • corresponding author Roland Linder - Institut für Medizinische Informatik, Universität zu Lübeck, Lübeck, Deutschland
  • author Frank Weichert - Fachbereich Informatik VII, Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland
  • author Andreas Streng - Fachbereich Informatik VII, Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland
  • author Andreas Groh - Institut für Angewandte Mathematik, Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland
  • author Werner Liese - Deutsche Blindenstudienanstalt e.V., Marburg, Deutschland
  • author Tereza Richards - The Main Library, University of the West Indies, Mona, Kingston, Jamaica, West Indies
  • author Martin Diefenbach - Fachbereich Informatik VII, Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland
  • author Ali Shamaa - Department of Oral Biology, Minia University, Minia, Ägypten
  • author Clare J. Menzel-Dowling - Anatomisches Institut, Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland
  • author Mathias Wagner - Institut für Allgemeine und Spezielle Pathologie, Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland

GMS Med Inform Biom Epidemiol 2006;2(3):Doc18

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/journals/mibe/2006-2/mibe000037.shtml

Published: November 23, 2006

© 2006 Linder et al.
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Zusammenfassung

Ende der 90er Jahre etablierten sich unterschiedliche Möglichkeiten des medienunterstützten Lernens, das so genannte E-Learning. Die hierbei zugrunde liegenden Mechanismen bieten eine geeignete Plattform im Hinblick auf eine neuartige Lernumgebung für Blinde und hochgradig Sehbehinderte, bei der visuelle Informationen durch taktile Analoga repräsentiert werden. Zur Anwendung kommt hierbei ein Haptic Device, eine Hardware-Einrichtung zur „Darstellung“ der taktilen Information. Zum einen kann das Haptic Device dazu dienen, parallel und in Ergänzung zu den visuellen Informationen eine taktile Darstellung geometrischer Objekte und physikalischer Körper zu erzeugen. Zum anderen kann das Haptic Device als Ersatz für nicht zugängliche visuelle Darstellungen verwendet werden und so etwa im Schulunterricht für Blinde und hochgradig Sehbehinderte zum Einsatz kommen. Mit der prototypischen Software make2Dhaptic wurden die diesbezüglichen Voraussetzungen geschaffen. Die Verwendungsmöglichkeiten von Haptic Device und make2Dhaptic für das letztgenannte Verwendungsszenario werden am Beispiel der Darstellung histologischer Schnittpräparate erörtert und diskutiert; erste Pretests verliefen viel versprechend.

Schlüsselwörter: Haptic device, Blinde, Sehbehinderte, Haptisches Rendering

Abstract

In the late 90s different options has been established for media supported learning, so-called e-learning. The underlying mechanisms provide an appropriate platform for a novel learning environment that might help the blind and severely visually impaired. The options represent visual information provided by tactile analogies. A haptic device is used, i.e., a hardware device that helps present tactile information. The haptic device can generate a tactile representation of geometric objects and physical bodies. This can be provided with or without visual information and/or a teacher’s instructions. Respective requirements have been met by developing the prototypical software make2Dhaptic. In this paper applications of the haptic device and make2Dhaptic in combination with histological slides are discussed. The results of initial tests are promising.

Keywords: haptic device, blind, visually impaired, haptic rendering


Einleitung und Fragestellung

Die Prävalenz von hochgradiger Sehbehinderung (Visus <0,1) bis hin zur Blindheit (Visus <0,05) liegt in Industrieländern bei ca. 0,2%, d.h. allein in Deutschland leiden ca. 160.000 Menschen unter schweren visuellen Defiziten. 30% der Betroffenen (ca. 50.000) sind jünger als 60 Jahre (http://www.dbsv.org/infothek/Statistik.html #Anzahl, http://www.woche-des-sehens.de/presse/zahlen-und-fakten/). Zumindest bei dieser Gruppe kann davon ausgegangen werden, dass sie regen Anteil am Alltagsleben nimmt und aufgeschlossen ist für elektronische Hilfsmittel, die den Zugang zu visueller Information erleichtern. Im Bereich des E-Learning werden Studierende mit elektronischen Texten und Bildern konfrontiert. Textuelle Bildschirminhalte können von Vorlesesystemen (Screenreader) in synthetische Sprache umgesetzt werden. Diese Software ermöglicht es zusätzlich noch, ein so genanntes Braille-Display anzusteuern, mit dem der Bildschirmtext in Brailleschrift Zeile für Zeile ertastbar wird. Trotz einiger Bemühungen [1] existieren für eine "Echtzeit-Übersetzung" von digitalen Bilddateien (Fotos, Landkarten) in haptisch erfahrbare Reliefs bislang keine praktikablen Lösungen. Am Beispiel der Überführung (visueller) histologischer Schnittpräparate in taktile Informationen wird ein erster prototypischer Ansatz vorgestellt.


Bisherige Ansätze zur didaktischen Vermittlung von Bildinformation

Für blinde und hochgradig sehbehinderte Schüler und Schülerinnen sind üblicherweise mit Mikroskopiertätigkeit verbundene Unterrichtsinhalte seit jeher keine einfache Materie, da die Wissensvermittlung vielfach durch buchstäbliche Anschauung erfolgt. Daher bedarf es besonderer Hilfsmittel. Mithilfe einer Digitalkamera am Lehrer-Mikroskop lassen sich Abbildungen histologischer Schnittpräparate auf Großmonitore übertragen. Sehbehinderte Schüler betrachten und interpretieren diese Bildinformationen gemeinsam mit ihren Lehrern. Neuerdings gibt es auch die Möglichkeit, das mikroskopische Bild am Schülerarbeitsplatz mit einer aufgesetzten Kamera direkt auf den Bildschirm eines Schüler-Laptops zu übertragen. Für blinde Schüler (Visus <0,05) sind diese Verfahren jedoch nicht geeignet. Daher wurden Techniken zur Herstellung haptisch erfahrbarer Elemente entwickelt.

So arbeitete man vor etwas mehr als 20 Jahren mit einem optisch-taktilen Kopierer (OTAC), bei dem Quarzsand unter Druck und Hitze auf die Linien von nicht ganz ausgehärtetem Toner eines umgebauten Kopiergerätes aufgebracht wurde [2]. Technische Unzulänglichkeiten bestimmten das Schicksal dieses Ansatzes. Die taktilen Bilder verloren relativ schnell den Sand-Belag und wurden dadurch unbrauchbar. Auch Fixiermethoden brachten keine wirksame Abhilfe, sodass diese Technik nach einigen Jahren vollständig verlassen wurde. Weiterentwicklungen mit taktilen Tinten, an denen noch vor wenigen Jahren deutsche und französische Arbeitsgruppen beteiligt waren, haben sich aufgrund technischer Probleme bis heute nicht durchsetzen können.

Die OTAC-Technologie wurde durch die Anfertigung von so genannten Schwellpapierkopien abgelöst, bei der das mikroskopische Bild per Kamera erfasst und zunächst auf einen Computer übertragen wird. Das von einem Tintenstrahl- oder Laserdrucker ausgegebene Schwarz-Weiss-Bild wird dann anschließend mit einem Kopiergerät [3] auf ein einseitig kunststoffbeschichtetes wärmeempfindliches Papier, das Schwellpapier, kopiert. Die kunststoffbeschichtete Oberfläche dieses Spezialpapiers besitzt mikroverkapselte Bestandteile, die unter Hitzeeinwirkung aufquellen. Je mehr Graphitpulver aus dem Toner des Fotokopierers aufgebracht wird, desto mehr Wärme kann eine solch geschwärzte Stelle auf dem Papier aufnehmen. Nach seiner Bedruckung wird das vorgeschwärzte Schwellpapier auf eine Drahttrommel aufgespannt, die im nächsten Arbeitsschritt gemeinsam mit dem Papier unter einer Wärme abstrahlenden Lichtquelle rotiert. Auf einer derart beheizten Rotationstrommel erhitzt, quellen schwarze Linien und Flächen in Abhängigkeit von der kopierten Bildinformation wechselnd stark auf. Die Qualitäten des so entstandenen Reliefs sind bei einer Mindestbreite der Linien von 0,1 cm bis 0,2 cm als zufriedenstellend einzustufen. Der Nachteil dieses Verfahrens besteht darin, dass sich hierdurch nur einige wenige, sehr kontrastreiche mikroskopische Bilder in haptisch erfahrbare Information umwandeln lassen bzw. eine manuelle computergestützte Bearbeitung der Rohdaten erfolgen muss, um die gewünschten Strukturen mit geeigneten Kontrastwerten zu versehen. Wegen ihrer kurzen Produktionszeit hat diese Technik für Blinde und hochgradig Sehbehinderte einen hohen Stellenwert im naturwissenschaftlichen Unterricht. Für die Erstellung kleinerer Stückzahlen ist daher auch der recht hohe Preis für das Papier zu rechtfertigen.

Alternativ können von speziell geschulten Fachkräften qualitativ hochwertige taktile Abbildungen, so genannte Typhlographien, von einer vorgefertigten dreidimensionalen Matrize im Tiefzug-Vakuum-Verfahren auf Polyvinylchlorid-Folien vervielfältigt werden. Die Matrizen können entweder in Handarbeit oder auch mit CAD-Frässystemen hergestellt werden. Im Bedarfsfall können auf einer speziellen Tiefzuganlage auch wesentlich größere Formate als das übliche DIN A3 Format hergestellt werden. Da die taktilen Informationen hierfür aus unterschiedlichen Materialien, wie zum Beispiel Papier, Pappe, Kunststoffen, Metallbändern oder Holz zusammengestellt und auf eine luftdurchlässige, feste Unterlage aufgebracht werden müssen, kann die Anfertigung komplexer Abbildungen manchmal mehrere Arbeitstage erfordern. Der Einsatz von grafikfähigen, hochauflösenden Punktschriftdruckern bei sehr kontrastreichen Präparaten ist grundsätzlich neuerdings möglich (zum Beispiel ViewPlus Braille Printer; Viewplus Technologies, Inc; Corvallis, OR, USA). Bei mikroskopischen Präparaten liegen derzeit aber noch keine Erkenntnisse vor.

Bilder realer histologischer Präparate können also prinzipiell bereits heute durch Schwellpapierkopien oder Typhlographien taktil wahrnehmbar gemacht werden. Die Herstellung einer typhlographischen Repräsentation realer histologischer Schnittpräparate ist jedoch zeit- und kostenintensiv und daher nur in Ausnahmefällen sinnvoll. Eine Umsetzung mit Hilfe von Schwellpapier ist weniger aufwendig Da aber die Farbbilder nur mit schwer steuerbarem Informationsverlust in kontrastreiche haptisch erfassbare Schwarz-Weiß-Bilder umgewandelt werden können (Abbildung 1 [Abb. 1]), darf auch dieser Ansatz nicht überbewertet werden.

In der Dokumentation eines Pilotprojekts wurde über die Möglichkeit der pädagogischen Nutzung eines Haptic Device im Kontext mit Blinden berichtet [4]. Zytologische oder histologische Präparate kamen hierbei nicht zum Einsatz. Somit existierten bislang nur wenige Möglichkeiten, teilweise kontrastarme aber zugleich detailreiche zytologische oder histologische Präparate Blinden oder hochgradig Sehbehinderten schnell und kostengünstig taktil zugänglich zu machen. Dies ist die Motivation für den nachfolgend vorzustellenden neuen Ansatz.


Material und Methoden

Als haptisches Gerät mit sechs Freiheitsgraden (Rotationsachsen) wird das PHANTOM® DesktopTM Haptic Device (SensAble Technologies, Inc., Woburn, MA, USA) eingesetzt. Das Haptic Device berücksichtigt Kinästhetik und Taktilität, wobei Kinästhetik die Kraftrückkopplung an den Benutzer bei Kollision mit virtuellen Reliefstrukturen bezeichnet, Taktilität hingegen den Tastsinn, der zum Erfühlen von Oberflächenstrukturen notwendig ist [5]. Die Berechnung der Kräfte ist für die Erzeugung der Rückkopplung essenziell. Dieser Vorgang wird als haptisches Rendering [6] bezeichnet und wurde im vorliegenden Fall unter Verwendung der OpenHaptics™ Library (SensAble Technologies, Inc., Woburn, MA, USA) realisiert.

Aufgrund der Gerätemodalität wird zu einem gegebenen Zeitpunkt immer nur ein Punkt des virtuellen (taktilen) Raumes erfasst und diesem eine Kraft zugeordnet, die nach Betrag und Richtung durch die steuernde Software bestimmt und mittels des Haptic Device physikalisch erzeugt wird. Durch die Wahrnehmung dieser Kraft kann dem Anwender eine entsprechende Tastempfindung vermittelt werden. Um ein geometrisches Ensemble in seiner Gesamtheit zu erfassen, muss dieses „Punkt für Punkt“ abgetastet werden.

Bei der taktilen Darstellung visueller Informationen durch das Haptic Device kommen wegen der punktweisen Abtastung zunächst nur Konfigurationen von begrenzter Komplexität in Betracht. Als besonders geeignet wurden in einer initialen Phase mathematische Funktionsdarstellungen und Messkurven, die aus naturwissenschaftlichen Experimenten resultieren, erachtet. Bei dieser Art von Darstellung werden die vom Haptic Device erzeugten Kräfte einerseits zur räumlichen Lokalisation der betrachteten Objekte, andererseits aber zur Unterstützung und Führung des Benutzers genutzt, indem die abzutastenden Objekte mit einem Magnetismus versehen werden. Dies erleichtert das Verfolgen von Strukturen, beispielsweise Funktionskurven.

Sollen strukturell komplexere geometrische Konfigurationen dargestellt werden, so erscheint es sinnvoll, diese zunächst in einige wenige Strukturelemente zu zerlegen, die der Benutzer als einzelne, voneinander abgegrenzte und nach außen abgeschlossene Einheiten erfährt. Um die inneren Strukturen dieser Einheiten abzutasten, dringt der Benutzer in diese ein, indem er eine gewisse Kraftbarriere überwindet. Der Innenbereich der betreffenden Einheit erscheint wiederum in einzelne Strukturelemente gegliedert, die als voneinander abgegrenzte Teile erfasst werden können. Auf diese Weise bleibt die Komplexität zu jedem Zeitpunkt begrenzt und der Benutzer kann, nachdem er sich einen Überblick über die Gesamtstruktur verschafft hat, sich den einzelnen Einheiten zuwenden.

Für einen zweiten, komplexeren Anwendungskontext wurden histologische Schnittpräparate als geeignete Struktur herangezogen. Bei entsprechender Aufbereitung der Unterrichtsmaterialien können auf diese Weise auch feiner strukturierte Objekte, etwa histologische Schnittbilder, blinden und sehbehinderten Schülern (erstmalig) unterrichtskonform zugänglich gemacht werden. Zudem eignen sich histologische Schnittpräparate sowohl durch ihren hierarchischen Aufbau als auch durch ihren Detailreichtum als potenzielle Limitierung der Umsetzung. Am Beispiel der histologischen Schnittpräparate soll das Prozedere der Umsetzung näher erläutert werden.

Ausgangspunkt waren histologische Schnittpräparate der Leber, die mit einer auf einem BX41 Lichtmikroskop befestigten OLYMPUS CAMEDIA C-3030 Zoom Digitalkamera (beides OLYMPUS OPTICAL CO Europa GmbH, Hamburg) digitalisiert, segmentiert und anschließend mittels der prototypischen C++ Software make2Dhaptic in taktile Informationen überführt werden. Die Gradienten der Farb- und Texturinformationen werden dabei primär als 3D-Informationen interpretiert und durch Triangulierung in ein 3D-Mesh für das taktile Relief überführt. Auf Basis der Segmentierungsinformationen kann ergänzend ein Materialkoeffizient definiert werden, der eine modulierte Kollisionsbehandlung ermöglicht (Tensegrity [7], [8], [9], [10]). Die derart generierte Szene ermöglicht hochgradig sehbehinderten Probanden mittels des Haptic Device, histologische Schnittpräparate zu ertasten (Abbildung 2 [Abb. 2]).

Neben der Bereitstellung einer optionalen Tensegrity wird mit der Segmentierung ein zweiter wesentlicher Aspekt verfolgt. Visuelle Daten, wie auch die hier vorliegenden histologischen Schnittbilder, sind in ihrer Gesamtheit vielfach zu kompliziert. Speziell in einer für hochgradig Sehbehinderte didaktisch korrekten (E-)Lernumgebung ist es notwendig, die Granularität auf ein geeignetes Maß zu reduzieren bzw. sie selektiv einstellen zu können. Beispielsweise könnten nur die Konturen einzelner Zellen innerhalb der taktilen Szene repräsentiert werden.


Ergebnisse

Im Anschluss an die Überführung der virtuellen Schnitte in taktile Informationen stehen unterschiedliche Szenarien bereit. Neben der Basisfunktionalität, die Graustufengradienten als 3D-Relief bereitzustellen, können auch einzelne Farbkanäle separiert präsentiert werden. Die Granularität (Auflösung) der 3D-Szene ist parametrisierbar, um den unterschiedlichen taktilen Fähigkeiten der sehbehinderten Anwender gerecht zu werden. Durch eine Zoomfunktionalität ist die Region of Interest frei wählbar. Wird bei dieser Gradienten-basierten Repräsentierung der virtuelle Schnitt in seiner gesamten Komplexität und nur auf Basis der Farb- und Textureigenschaften analysiert, erlauben die Segmentierungsinformationen eine Zuweisung spezifischer Materialeigenschaften (Tensegrity) und selektiver „Betrachtungsweisen“. Neben einzelnen Objekten (anatomische Primitive) können auch Hierarchien tastbar gemacht werden - anatomische Objekte (Beispiel: Cytoplasma, Zellkern, Nucleus) werden konform zu ihrer Hierarchieebene durchdrungen. Navigierte in den bisher genannten Modi der Sehbehinderte durch die Szene, kann die Aktivität auch invertiert werden und das Haptic Device führt den Sehbehinderten aktiv um ein Objekt herum. Hierdurch kann das Vorstellungsvermögen für einzelne Objekte verbessert werden, da die Konzentration entfällt, das Objekt in der Szene nicht zu „verlieren“.

In Anbetracht der Tatsache, dass sich das System noch in einer prototypischen Entwicklungsphase befindet, wurde die Evaluierung mit einer Gruppe ausgesuchter Testpersonen vollzogen. Diese setzte sich aus Blinden bzw. Sehbehinderten und in dem Kontext erfahrenen Lehrkräften zusammen, wobei auch ein blinder Lehrer zur Gruppe der Testpersonen gehörte. Allen Tests war gemeinsam, dass nicht eine quantitative statistische Bewertung im Fokus des Interesses stand, sondern eine Beurteilung der pädagogischen Verwendbarkeit – die Tests waren dementsprechend stärker an das Prozedere eines Interviews angelehnt.

Da von den Probanden nicht verlangt werden sollte, dass sie die medizinischen Fachtermini kennen oder histologische Schnitte einer anatomischen Struktur zuordnen können, erfolgte eine angepasste, qualitative Evaluierung. Hierbei waren einzelne Kompartimente in den takilen Exponaten durch einfache geometrische Primitive zu beschreiben – beispielsweise konnte ein Zellkern als kreisförmig deklariert werden. Diese inhärente Informationsreduktion reflektierte die Fähigkeiten der Testpersonen bei komplexeren Strukturen. So erfolgte auch ohne die Vorgabe, Objekte durch geometrische Primitive zu charakterisieren, vielfach eine auf einfache Strukturen reduzierte Beschreibung. Um eine Verifikation mit der etablierten Methodik in der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik zu ermöglichen, ertasteten ausgesuchte Probanden einfache biologische Strukturen (z.B. Amöben) abwechselnd an Typhlographien und digitalen, takilen Repräsentationen. Es manifestierte sich hierbei, dass die Reihenfolge der Exploration für die Wiedererkennung essenziell war. Wurde das Exponat primär anhand einer Typhlographie ertastet, konnte das digitale Analogon vielfach ebenfalls bestimmt werden. In umgekehrter Reihenfolge war die Zuordnung nur eingeschränkt gegeben.

Für den Anwendungsfall des taktilen Funktionsplotters wurde im Hinblick auf eine an den Mathematikunterricht fokussierte Umsetzung die Anbindung an die mathematische Software MATLAB® (The MathWorks, Inc., Novi, MI, USA) realisiert. Hierdurch ist es möglich, eine Kurvendiskussion taktil zu repräsentieren. Die Software MATLAB® liefert zu einer definierten Funktion die zweidimensionalen Koordinaten der diskreten Funktionspunkte zurück, welche nachfolgend als Kontrollpunkte für eine NURBS-Kurve (Non-Uniform Rational B-Spline) genutzt werden [11]. Mittels dieser Repräsentierung kann die Funktionskurve als dreidimensionale taktile Information präsentiert werden. Werden mehrere Kurven innerhalb einer Darstellung benötigt, kann die Separierung auf unterschiedlichen Materialeigenschaften (Reibung/Rauheit) beruhen. Optional besteht die Möglichkeit, die taktilen mit auditiven Informationen zu kombinieren. So können Funktionswerte gemäß ihrer y-Koordinate durch unterschiedlich hohe Töne vermittelt oder einzelne Funktionswerte (Beispiel: Schnittpunkte) vorgelesen werden. Ein Vergleich zwischen Typhlographien und dem taktilen Funktionsplotter zeigte insgesamt nur marginale Unterschiede.


Diskussion

Als ein Hauptproblem in der Realisierung einer Software für Blinde und hochgradig Sehbehinderte stellt sich vielfach die Tatsache heraus, dass die Implementierung von Sehenden erfolgt, welche die genauen Bedürfnisse von nicht Sehenden nur schwer einschätzen können. Um diesem Aspekt nicht angehörig zu werden, erfolgte die Entwicklung in enger Zusammenarbeit mit der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V. in Marburg. Zudem stand der Mitautor, Herr Diefenbach, selbst hochgradig sehbehindert, für verschiedene Tests zur Verfügung. Da eine umfangreiche Evaluierung noch aussteht, soll im Folgenden eine erste qualitative Beurteilung erfolgen.

Ziel der Aufbereitung histologischer Schnitte war die taktile Repräsentierung komplexer zweidimensionaler Strukturen, welche sich aus Datenkompartimenten zusammensetzen. Initialer Part ist eine zweidimensionale hochaufgelöste Fotoaufnahme eines histologischen Schnittpräparates und ergänzende segmentierte Daten, die den Ort und die Eigenschaften der Zellbestandteile dokumentieren. Für das menschliche Auge ist es ein Leichtes zu erkennen, dass die Zelle von außen nach innen mehrere Bestandteile besitzt, die teilweise ineinander geschachtelt sind. Des Weiteren lassen sich Anzahl und relative Größe und Lage leicht vermitteln. Um diese Strukturen begreifbar zu machen, werden die Teile der Zelle in einem dreidimensionalen Konstrukt, ähnlich dem Aufbau einer Matroschka dargestellt. Die softwaretechnische Implementierung der taktilen Benutzerführung erlaubt es, Gegenstände virtuell zu durchdringen. Mit einer einzustellenden Kraft kann dann die äußerste Schicht durchdrungen werden, um den darunter liegenden Raum zu erkunden.

Obwohl die hierarchische Unterscheidbarkeit anhand der Materialeigenschaften möglich ist und auch von Probanden als fühlbar erkannt wurde, orientieren sie sich eher an der Größe der Elemente, um zu realisieren, auf welcher Ebene sie sich befinden. Eine weitere relevante Fragestellung war, ob es besser sei, die relevanten Objekte als Erhöhung oder als Vertiefung umzusetzen. Allgemein ist zu bemerken, dass kleine Objekte besser als Erhöhung darzustellen sind, damit diese bei der Abtastung nicht „übersehen“ werden – vergleichbar zur Braille-Schrift. Größere Objekte lassen sich hingegen leichter als Vertiefung erfassen, da die Wände der Vertiefung intuitiv verfolgt werden können. make2Dhaptic kann die Vorteile von beiden Verfahren kombinieren.

Speziell für derart komplexe Strukturen wie histologische Schnittpräparate ist es wichtig zu vermitteln, ob eine Vertiefung oder eine Erhöhung gegeben ist. Da - im Gegensatz zu einer gesamtheitlichen Abtastung mit der ganzen Hand - die Relation der Objekte zueinander fehlt - es wird immer nur ein Punkt abgetastet - dient ein Kontrollton zur ergänzenden Orientierung. Dieser vermittelt, ob etwa gerade eine Vertiefung ertastet wird, um so auf den inversen Aufbau der Szene hinzuweisen.

Betrachtet ein Sehender eine derart komplexe Szene wie einen Histoschnitt, wird er sich zuerst einen Überblick verschaffen und erst danach auf Details achten. Zur Umsetzung dieser Herangehensweise erfolgte eine Maskierung aller Elemente einer Szene durch Bounding-Boxen. Zudem stellte sich in den Tests immer wieder heraus, dass nur relativ wenig Elemente gleichzeitig „dargestellt“ werden sollten, da sonst die Übersicht der Probanden sehr schnell verloren geht. Es eignen sich auch von sich aus nicht alle Segmente zur Darstellung, da die Anzahl der einzelnen Polygone bis zu mehreren hundert reichen kann, die auch von sehenden Personen nur als undifferenzierte Menge von Elementen erfasst werden können.

Ergänzend zu den aufgezeigten Erfahrungen bei den histologischen Schnittpräparaten, wurde die taktile mathematische Darstellung als sehr angenehm empfunden. Das Auffinden der (meist auf dem Definitionsbereich stetigen) Funktionen stellte kein Problem dar. Die Funktionen konnten mittels der vorhandenen Zoomfunktionalität bzw. Anpassung des dargestellten Definitions- und Wertebereiches optimal auf den gewünschten Ausschnitt eingestellt werden. Durch das Abfragen (auditive Information) der aktuellen Position konnten z.B. lokale Extrema einfach bestimmt werden. Da es im Schulalltag eine gängige Methode ist, Graphen durch Tonfolgen akustisch darzustellen, wurde auch diese integriert. Hiermit wurde nicht das primäre Ziel verfolgt, das bekannte Lernprinzip nachzuahmen, sondern das bekannte Lernprinzip mit dem Unbekannten zu kombinieren, um auf diese Weise ein neuartiges Lernprinzip leichter annehmen zu können.

Der vorbeschriebene prototypisch realisierte Ansatz wurde kürzlich Schülern der Carl-Strehl-Schule, Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte (Deutsche Blindenstudienanstalt e.V.) in Marburg zur Testung überlassen. Die dort durchgeführten ersten Tests mit dem Haptic Device verliefen sehr erfolgreich. Über einen Zeitraum von einer Woche konnte das Gerät von einem blinden Informatiklehrer sowie von drei blinden Schülern außerhalb des regulären Unterrichts getestet werden. Diese ersten Erfahrungen können als sehr positiv eingestuft werden, da offenbar taktile Erfahrungen gesammelt werden konnten, die bisher auf andere Weise nicht zugänglich waren.


Ausblick

Die bisher aufgezeigten Anwendungsszenarien fokussierten sich auf den Mathematik- und Biologieunterricht, respektive auf eine optionale Anwendung in der Medizin. Dieses sind sicherlich nur initiale Anwendungen. Auch in weiteren Fächern kann der Einsatz des Haptic-Devices eine wichtige Unterstützung im Unterricht erbringen. Daher plant die Carl-Strehl-Schule noch für dieses Jahr den Kauf eines ersten Haptic-Device. Die Nachhaltigkeit des vorgestellten Ansatzes zeigt sich auch in der Tatsache, dass die aktuellen Versuche, den Einsatz des Systems auf die Messdatenerfassung im Chemieunterricht zu erweitern, sehr positiv verlaufen. Dabei sollen die Informationen, die Sehende beim Aufbau der Grafik am Bildschirm haben, direkt (in Echtzeit) in taktile Signale für Blinde übersetzt werden. Die Unterstützung und Führung des Benutzers durch das Haptic-Device mittels entsprechend zu generierender Kräfte, welche die Verfolgbarkeit von Linien und den Verbleib des Abtastpunktes in bestimmten Bereichen erleichtern und darüber hinaus das Eindringen in Substrukturen vermitteln, hat nach den gemachten Erfahrungen einen hohen Stellenwert für die praktische Anwendung. Einschränkend muss eingeräumt werden, dass der Arm eines Haptic-Device die taktilen Informationen nicht in der hohen Qualität übertragen kann, wie sie ein "Datenhandschuh" liefern kann. Der momentan noch sehr hohe Preis von ca. 50.000 € ist für eine Schule derzeit jedoch nicht bezahlbar.

Insgesamt wird der vorgestellte Ansatz von blinden und hochgradig sehbehinderten Probanden als viel versprechend betrachtet. Diese Einschätzung wird systematisch an größeren Kollektiven von Sehbehinderten zu verifizieren sein. Sollte sich dabei die Nützlichkeit von make2Dhaptic bestätigen, wird ein breiter Einsatz dieser Lösung angestrebt, der die Möglichkeiten des E-Learning für Sehbehinderte und Blinde bereichern wird.


Literatur

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