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GMS Medizin — Bibliothek — Information.

Arbeitsgemeinschaft für Medizinisches Bibliothekswesen (AGMB)

ISSN 1865-066X

„Besuch&Buch“: Soziale Bibliotheksarbeit der Stadtbibliothek Graz nach dem Vorbild der „Medienboten“ (Hamburg) im Blickfeld der Gerontologie

“Besuch&Buch”: Graz Public Library and its home library service for senior and homebound citizens. A gerontological approach

Poster AGMB-Jahrestagung in Göttingen 2016

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  • corresponding author Petra Burkert - Bibliothek der Medizinischen Universität Graz, Österreich

GMS Med Bibl Inf 2016;16(3):Doc18

doi: 10.3205/mbi000373, urn:nbn:de:0183-mbi0003733

Published: December 22, 2016

© 2016 Burkert.
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Zusammenfassung

2013 startete die Stadtbibliothek Graz ein Projekt, das in Österreich zurzeit einzigartig ist: Freiwillig engagierte Bücherboten besuchen regelmäßig alte und mobilitätseingeschränkte Menschen in ihrem Wohnumfeld. Vorbild waren „Die Medienboten“, ein sozio-kulturelles Projekt der Bücherhallen Hamburg. Die Autorin, Bibliothekarin und Gerontologin in Graz, hat im Rahmen ihrer Masterarbeit das Projekt „Besuch&Buch“ untersucht und beschreibt, warum soziale Bibliotheksarbeit – bedingt durch den demografischen Wandel – aktueller ist denn je.

Schlüsselwörter: soziale Bibliotheksarbeit, demografischer Wandel, alternde Gesellschaft, Gerontologie, Stadtbibliothek Graz, Bücherhallen Hamburg, AGMB-Jahrestagung 2016

Abstract

In 2013 the Public Library of Graz launched a home library service which is unique in Austria up to today: volunteer book messengers visit senior and homebound citizens at their homes. “Besuch&Buch” has been inspired by the “Medienboten”, a socio-cultural project started by Hamburg Public Libraries in 2007. The author – librarian and gerontologist in Graz – has written her master thesis on “Besuch&Buch” and describes why library social projects as “Besuch&Buch” have never been more important than in today’s demographic change.

Keywords: library social services, demographic change, ageing society, gerontology, Graz Public Library, Hamburg Public Libraries, AGMB annual meeting 2016


„Besuch&Buch“: Soziale Bibliotheksarbeit im Blickfeld der Gerontologie

„Besuch&Buch“ der Stadtbibliothek Graz nach dem Vorbild der „Medienboten“ (Hamburg)

„Und Sie kommen wirklich nur zu mir?“ [1]

Im Herbst 2013 hat die Stadtbibliothek Graz als erste und bisher einzige öffentliche Bibliothek in Österreich das Projekt „Besuch&Buch“ gestartet, das dem Beispiel der „Medienboten“ in Hamburg folgt: freiwillig engagierte BücherbotInnen besuchen alte und mobilitätseingeschränkte Menschen in ihrem Wohnumfeld, bringen Bücher aus der Stadtbibliothek mit, lesen auf Wunsch vor und verbringen Zeit mir ihren „KundInnen“ (Anm.: Für das Projekt in Graz wird die Bezeichnung „Besuchte“ bevorzugt.) Ein Teil der Freiwilligen gestaltet Lesekreise in Senioreneinrichtungen und wirkt dort als VorleserInnen und BücherbotInnen. Diese Form der externen, aufsuchenden Bibliotheksarbeit gibt es an öffentlichen Bibliotheken Deutschlands seit Anfang der 1970er Jahre. Neu am Hamburger Projekt war der Einsatz freiwillig Engagierter als „Medienboten“ [2].

Die Diskussion um den Begriff „Soziale Bibliotheksarbeit“

Unter „Sozialer Bibliotheksarbeit“ versteht man eine verstärkte Ausrichtung von Bibliotheksangeboten für Menschen, die, aus welchem Grund auch immer, eine Bibliothek nicht aufsuchen oder nicht aufsuchen können [3]. Der Begriff „Soziale Bibliotheksarbeit“ löste unter deutschen BibliothekarInnen von Anfang an heftige Debatten aus. Im Wesentlichen ging es um die Abgrenzung von Bibliotheksarbeit zur sozialen Arbeit. Die Diskussion hält an, ein Alternativbegriff hat sich bis heute nicht einheitlich durchgesetzt.

„Besuch&Buch“ – ein Erfolgskonzept?

Die beiden Projekte in Hamburg und Graz verfolgen dieselben drei Ziele: 1. Die Verbesserung der sozialen und 2. der kulturellen Teilhabe der besuchten alten Menschen sowie 3. die Förderung des freiwilligen Engagements als kulturpolitischer Auftrag.

Es galt nun herauszufinden, ob „Besuch&Buch“ diese Ziele erfolgreich umsetzen konnte und wo und wodurch dem Projekt „Besuch&Buch“ Grenzen gesetzt sind. In leitfadengestützten Interviews mit 15 BücherbotInnen und 2 Expertinnen wurde hinterfragt, ob „Besuch&Buch“ als Erfolgskonzept sozialer Bibliotheksarbeit für alte und wohnraumgebundene Menschen anzusehen ist und somit Beispielwirkung für andere öffentliche Bibliotheken in Österreich haben könnte.

Gerontologische Überlegungen zu den drei Zielen von „Besuch&Buch“

  • Ziel 1, die verbesserte soziale Teilnahme der Besuchten: Es hat sich herausgestellt, dass es der Kontakt mit den BücherbotInnen ist, der von zentraler Bedeutung für die Besuchten ist. Eine wesentliche Veränderung der allgemeinen sozialen Teilhabe war nicht zu beobachten. Aber auch die BücherbotInnen „profitieren“ von den Besuchen. Die soziale Komponente des Projekts wird von den BücherbotInnen als höher als im Projekt beschrieben (50% Bücherlieferdienst, 50% soziale Arbeit) beurteilt.
  • Ziel 2, die verbesserte kulturelle Teilnahme der Besuchten: Die kulturelle Teilnahme der „KundInnen“ erfährt durch die Besuchsdienste keine wesentlichen Veränderungen. Angebote der Bücherboten zu kulturellen Aktivitäten außer Hause wurden weitgehend abgelehnt. Nachdem ein Großteil der Besuchten mobilitätseingeschränkt oder wohnraumgebunden ist, besteht aber durch den Besuch der BücherbotInnen die Möglichkeit, sich „die Welt wieder hereinzuholen“ [4]. In diesem Zusammenhang war zu beobachten, dass die Besuchten im Sinne der Theorie der „Kontinuität im Wandel“ ein Beibehalten ihrer kulturellen Gepflogenheiten anstreben und die BücherbotInnen einen Teil dazu beitragen, diese Kontinuität zu bewahren [5].
  • Ziel 3, die Förderung des freiwilligen Engagements im Hinblick auf den demografischen Wandel: Immer mehr Menschen wollen nach Beendigung der Erwerbstätigkeit ihr Wissen, ihre Erfahrungen, ihr soziales Engagement und einen Teil ihrer (neugewonnen) Freizeit in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Dabei halten sich intrinsische und altruistische Motive für ihr freiwilliges Engagement durchaus die Waage, denn die BücherbotInnen sind sich des persönlichen „Gewinnes“ aus ihrer Tätigkeit durchaus bewusst.

Gerontologische Empfehlungen zum Projekt „Besuch&Buch“

  • Empfehlung 1: „Leseförderung ist Lebensförderung im Alter“
    Öffentliche Bibliotheken unterstützen durch niederschwellige und wohnortnahe Angebote das lebenslange Lernen. Leseförderung im Alter ist ein noch wenig erforschter Wissenschaftsbereich. Studien belegen die positive Wirkung des Lesens auf kognitive Leistungen und die psychische Gesundheit alter Menschen. Damit sind öffentliche Bibliotheken als „Supportstrukturen des lebenslangen Lernens“ [6] aufgefordert, die Leseförderung alter Menschen in ihre Zielsetzungen zu integrieren.
  • Empfehlung 2: Das Vorlesen in Senioreneinrichtungen
    Vor allem in Pflegeheimen haben Bücherboten festgestellt, dass das Vorlesen vor größeren Gruppen nur eingeschränkt möglich ist. Effektiver als große Lesekreise wären hier Einzel- oder Kleingruppenbetreuungen, in denen gezielt auf individuelle Biografien und aktuelle Lebenssituationen eingegangen werden könnte. Nachdem der Stadtbibliothek Graz derzeit mehr freiwillig engagierte BücherbotInnen als potentielle „KundInnen“ zur Verfügung stehen, könnten in Pflegeheimen mehrere BücherbotInnen gleichzeitig zum Einsatz kommen.
  • Empfehlung 3: Die Bücher-BotInnen der Zukunft – die „Neue-Medien“-Boten
    In Zukunft ist eine Unterstützung und Förderung der Besuchten im Umgang mit neuen Medien anzudenken. Die Nutzung neuer Medien wird zunehmend eine Voraussetzung für soziale und kulturelle Teilhabe sein. Die BücherbotInnen von heute sehen sich als Besuchte der Zukunft, für die moderne Mediennutzung selbstverständlich sein wird. Sie verfügen über eine andere Medienerfahrung und wollen moderne Medien weiterhin nützen, um sozial und kulturell vernetzt zu bleiben. Damit könnte in Zukunft auch ein Grundproblem von Projekten wie „Besuch&Buch“ – die schwere mediale Erreichbarkeit ihrer Zielgruppen – dauerhaft gelöst werden.

Anmerkung

Das Poster sehen Sie im Anhang 1 [Anh. 1].


Hinweis der Autorin

Text und Poster beschreiben die wesentlichen Ergebnisse meiner Masterarbeit, die unter dem Titel „Soziale Bibliotheksarbeit der Stadtbibliothek Graz für alte Menschen mit Hilfe freiwilliger BücherbotInnen“ im Mai 2016 veröffentlicht wurde. Das Zitat „Und Sie kommen wirklich nur zu mir?“ stammt aus dem Projekt „Besuch mit Buch“ des Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis in Bargteheide 2011.


Interessenkonflikte

Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel hat.


Literatur

1.
Tsang L, et al, Hrsg. Besuch mit Buch: „Und Sie kommen wirklich nur zu mir?“ Projektdokumentation und Materialanhang. Bargteheide [u.a.]: Evangelisch-Lutherischer Kirchenkreis; 2011.
2.
Bücherhallen Hamburg. Ehrenamt Medienboten. Verfügbar unter: https://www.buecherhallen.de/ehrenamt-medienboten [zuletzt aufgerufen am 6.12.2016] External link
3.
Nikolaizig A. Soziale Bibliotheksarbeit. Zielgruppen und Segmentation. In: Kaden B, Kindling M, Hrsg. Zugang für alle. Soziale Bibliotheksarbeit in Deutschland. Berlin: BibSpider; 2007. S. 34-41.
4.
Burkert P. „Besuch&Buch“. Soziale Bibliotheksarbeit der Stadtbibliothek Graz für alte Menschen mit Hilfe freiwilliger BücherbotInnen [Masterarbeit]. Graz: Karl-Franzens-Universität; 2016. URN: urn:nbn:at:at-ubg:1-103571 External link
5.
Thomae H. Das Individuum und seine Welt. Eine Persönlichkeitstheorie. 3. Aufl. Göttingen: Hogrefe; 1996.
6.
Schüller-Zwierlein A, Stang R. Bibliotheken als Supportstrukturen für Lebenslanges Lernen. In: Tippelt R, von Hippel A, Hrsg. Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2010. S. 515-26.