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GMS Hygiene and Infection Control

Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH)

ISSN 2196-5226

Chirurgische Konzepte zur Dekubitusbehandlung

Surgical therapy concepts for the pressure sore treatment

Übersichtsarbeit

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  • Tim R. Middelberg - Abteilung für Plastische Chirurgie des Martin-Luther-Krankenhauses, Berlin, Deutschland
  • corresponding author Johannes Bruck - Abteilung für Plastische Chirurgie des Martin-Luther-Krankenhauses, Berlin, Deutschland

GMS Krankenhaushyg Interdiszip 2006;1(1):Doc22

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/journals/dgkh/2006-1/dgkh000022.shtml

Published: August 30, 2006

© 2006 Middelberg et al.
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Zusammenfassung

Die Einschränkung der protektiven Sensibilität und verminderte Spontanbeweglichkeit führen bei bettlägerigen Patienten und Para-/Tetraplegikern trotz guter Pflege gelegentlich zur Entwicklung von Dekubitus. Praedilektionsstellen sind die Beckenregion und die Knochenprominenzen über Sakrum, Tuber ischiadicum und Trochanter major. Während oberflächliche Dekubitus auch unter konservativer Wundbehandlung abheilen können, sind höher gradige Dekubitus nur chirurgisch und mit myokutanen Lappen aus der Umgebung (M. glutaeus maximus, M. tensor fasciae latae, M. vastus lateralis und M. biceps femoris) zur Abheilung zu bringen. Der Vorteil myokutaner Lappen liegt in ihrer sicheren Durchblutung, einer hohen Infektionsresistenz und einer Tamponaden- bzw. Polsterfunktion über Knochenprominenzen. Zu einer adäquaten, weil kurzfristigen, operativen Versorgung gehören allerdings ein begleitendes, multimodales Therapiekonzept einer resistenzgerechten antibiotischen und antiinfektiven Therapie, eine intermittierende Druckentlastung und eine frühe Rehabilitation der Patienten.

Schlüsselwörter: Dekubitus, myokutane Lappen, multimodales Versorgungskonzept

Abstract

Limited protective sensation and reduced spontaneous mobility in bed-ridden patients and para- and quadriplegics sometimes lead to the development of decubitus ulcers, despite good care. Predisposed sites include the pelvic region and bony protruberances above the sacrum, Tuber ischiadicum, and Trochanter major. While superficial decubitus ulcers can also heal under conservative wound treatment, higher-grade ulcers can only be induced to heal using surgical means and with myocutaneous flaps from the adjacent area (M. glutaeus maximus, M. tensor fasciae latae, M. vastus lateralis, and M. biceps femoris). The advantage of myocutaneous flaps lies in their certain blood supply, high resistance to infection, and a tamponing or cushioning function over bony protruberances. However, in addition to adequate, short-term surgical treatment, it is necessary to implement an adjunct multimodal therapy concept consisting of antibiotics (which do not promote resistance-development) and anti-infective treatment, intermittent pressure relief, and early rehabilitation of the patients.

Keywords: pressure ulcer, myocutanous tissue transfer, wound care concept


Text

Einleitung

Die Zahl geriatrischer, multimorbider und bettlägeriger Patienten steigt in Folge der demographischen Entwicklung unserer Gesellschaft aber auch der Fortschritte der modernen Medizin stetig an. Solche Patienten sind gefährdet, Druckulzera insbesondere im Beckenbereich über den Knochenprominenzen zu entwickeln. Ein modernes Wundmanagement bietet viele Möglichkeiten zur Behandlung oberflächlicher Druckulzera ersten und zweiten Grades. Doch bei ausgedehnten Dekubitus mit freiliegenden Knochen bieten allein plastisch-chirurgische Rekonstruktionstechniken in Verbindung mit einem multimodalen Versorgungskonzept eine dauerhafte, suffiziente Versorgung dieser Problemwunden bei geringer Rezidivneigung und kurzen Krankenhausaufenthalten.

Inzidenz

Dekubitus treten typischerweise bei zwei Patientengruppen auf:

  • Bettlägerige, multimorbide Patienten, chronisch Kranke und Intensivpflegepatienten
  • Para- und Tetraplegiker ohne Nebenerkrankungen.

Während bei immobilen, liegenden Patienten die Druckulzera typischerweise im Bereich des Sakrums, der Fersen, der Trochanteren, über der Wirbelsäule und den Schulterblättern liegen, sind beim immobilen, sitzenden Patienten eher die Sitzbeinhöcker und das Sakrum betroffen (Tabelle 1 [Tab. 1]).

Pathophysiologie

Bei der Pathophysiologie spielen verschiedene Mechanismen eine Rolle und bedingen sich gegenseitig (Abbildung 1 [Abb. 1]). In Regionen, in denen Weichgewebe direkt über Knochenvorsprüngen liegen, kommt es durch anhaltenden Druck bei einer fehlenden Mobilität zu einer lokalen Gewebeischämie. Neben der druckbedingten Gewebeischämie wirken Scherkräfte und daraus resultierende Mikrotraumen mit Epithelläsionen. Eine lokale bakterielle Wundbesiedlung wird durch zusätzlich bestehende Grunderkrankungen noch gefördert (Diabetes mellitus, Kachexie, Sepsis etc.).

Druck, Reibung und Feuchtigkeit sind als extrinsische Faktoren der Entstehung von Dekubitus durch Prophylaxe beeinflussbar. Dem gegenüber sind eine eingeschränkte Spontanbeweglichkeit und eine verminderte protektive Sensibilität als patientengebunden und somit als intrinsische Faktoren anzusehen.

Die Ausdehnung eines Dekubitus lässt sich nach Daniels (1979) in 5 Grade einteilen:

  • Grad 1: Hautrötung
  • Grad 2: epithelialer Defekt
  • Grad 3: Nekrose bis ins Fettgewebe
  • Grad 4: Nekrose bis in Muskel, Faszien
  • Grad 5: Knochenbeteiligung

Grad 1 beschreibt eine Hautrötung, Grad 2 einen epithelialen Defekt. Diese Grade sind bei frühzeitiger Erkennung für die konservative Therapie noch geeignet. Bei einem tiefergreifenden Ulcus bis in das bradytrophe Fett-/Bindegewebe (Grad 3 und darüber) ist eine chirurgische Sanierung unter Abschätzung des OP-Risikos indiziert.

Therapieplanung

Gefährdete Patienten müssen als solche erkannt und einer intermittierenden Druckentlastung, regelmäßiger Hautpflege und ungeachtet einer notwendigen Therapie der Grunderkrankung einer Kontrolle der Prädilektionsstellen ausgesetzt werden.

Sobald ein Dekubitus bis in die bradytrophen Gewebsschichten reicht (Grad 3 und höher), ist ein konservatives Verfahren selbst bei forcierter Züchtung von Granulationsgewebe und Abwarten der Epithelisation vom Rand langwierig, schmerzhaft und teuer. Die daraus resultierende Narbe liegt dazu wieder in der druckbelasteten Region und ist wegen fehlender elastischer Fasern instabil. Eine hohe Rezidivrate ist somit vorprogrammiert.

Als einzig dauerhafte Lösung zur Behandlung mehr als oberflächlicher Dekubitus muss daher eine plastisch-chirurgische Versorgung der betroffenen Areale mit gut durchbluteten myokutanen Lappen angesehen werden. Diese allein bieten die Möglichkeit zu einer schnellen Erholung der Wunde nach Druckentlastung, eine hohe Infektionsresistenz und zusätzlich eine Polsterfunktion über den Knochenvorsprüngen.

Zu einem integrierenden Behandlungskonzept zählt präoperativ eine lokale antiseptische Wundbehandlung, eine resistenzgerechte Antibiotikatherapie perioperativ und eine Druckentlastung mit geeigneten Matratzensystemen postoperativ.

Chirurgisch steht ein radikales Wunddebridement bis in das gesunde Gewebe am Anfang einer suffizienten Dekubitustherapie. Je nach Lokalisation ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten zur Bildung myokutaner Lappen aus der Umgebung. Neben der spannungsfreien Einnaht dieser myokutanen Lappen ist eine suffiziente Wunddrainage wesentlich, um einer Totraum- bzw. Serombildung zuvor zu kommen. Insuffizient sind vermeintlich kleine Lösungen des direkten Defektverschlusses. Jede Naht befindet sich erneut in der belasteten Zone und eine Abheilung ohne gut durchblutetes Muskelgewebe ist nicht zu erwarten.

Postoperativ ist neben einer intermittierenden Druckentlastung der betroffenen Areale und einer resistenzgerechten antibiotischen Therapie eine frühe Mobilisation der Patienten (ab dem 3. Tag postoperativ) essentiell.

Operative Verfahren

Bei tiefen Defekten zeigen zwei Drittel aller Dekubitus eine Osteomyelitis der Knochen im Wundgrund. Die eigene gefäßgestielte Durchblutung der transferierten Muskulatur versorgt die mitverschobene Haut über Perforatoren und gewährleistet eine sichere Tamponade der Wunde und den Transport von Antibiotika in das Wundgebiet.

Statistisch entstehen die meisten Dekubitalulzera in der Sakral- und Ischialregion (s. Tabelle 1 [Tab. 1]). Zur Versorgung der Sakralregion bietet sich vor allem der M. gluteus maximus als Nahlappen an. Eine Verschiebung kann als Rotationslappen oder als einseitiger bzw. zweiseitiger V-Y-Lappen erfolgen (Abbildung 2 [Abb. 2]).

Die Ischialregion ist mit verschiedenen myokutanen Lappen erreichbar. Wegen der sicheren Durchblutung wird heute der M. vastus lateralis-Rotationslappen bevorzugt. Der M. glutaeus maximus-Rotationslappen und der M. biceps femoris-Verschiebelappen (Hamstring) gelten als Alternativen (Abbildung 3 [Abb. 3]).

Für Defekte über dem Trochanter major eignet sich vor allem der M. tensor-fasciae latae-Transpositionslappen.


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