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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Pflegekräfte sollen ärztliche Tätigkeiten übernehmen: Pflege-Weiterentwicklungsgesetz greift in ärztliche Kompetenzbereiche ein

Mitteilung

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GMS Mitt AWMF 2007;4:Doc30

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/journals/awmf/2007-4/awmf000139.shtml

Received: November 19, 2007
Published: November 20, 2007

© 2007 Wienke.
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Zusammenfassung

Der Gesundheitsausschuss des Bundesrats hat am 15.11.2007 in einer Sondersitzung den Entwurf des Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung beraten. Mit dem Gesetzentwurf plant die Bundesregierung in erster Linie eine Reform der Pflegeversicherung, die in vielen Teilen zu begrüßen ist. Gleichzeitig verbirgt sich in diesem Gesetzesvorhaben aber auch erheblicher Sprengstoff, der offenbar in den bisherigen Beratungen nicht ausreichend erkannt worden ist. Die Pflegereform greift nämlich massiv in die ärztliche Versorgung ein; Heime dürfen zukünftig eigene Ärzte einstellen; Pflegekräfte dürfen Tätigkeiten übernehmen, die bisher Ärzten vorbehalten waren.


Text

Mit der vorgesehenen Neuregelung in § 63 Abs. 3 c SGB V können in Modellvorhaben ärztliche Tätigkeiten, bei denen es sich um die selbständige Ausübung von Heilkunde handelt, auf Pflegekräfte übertragen werden. Voraussetzung ist allein der Nachweis einer qualifizierten Ausbildung nach dem Krankenpflege- oder Altenpflegegesetz. Krankenkassen könnten demnach mit Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen Vereinbarungen darüber treffen, welche ärztlichen Tätigkeiten zukünftig von Kranken- oder Altenpflegern durchgeführt werden. Ausdrücklich heißt es dazu in der Gesetzesbegründung, dass diesen Berufsgruppen die Möglichkeit eröffnet werden soll, bisher von Ärzten verordnete Leistungen (Verbandsmittel, Pflegehilfsmittel) selbst zu verordnen. Außerdem soll die Übertragung von bestimmten ärztlichen Tätigkeiten auf entsprechend qualifizierte Pflegefachkräfte erprobt werden. Diese treten dann - so die Gesetzesbegründung - als eigenständige Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung auf, so dass hieraus eine Erweiterung der Leistungserbringerseite erfolge. Der Umfang solcher Tätigkeiten wird im Wesentlichen von den Inhalten des zu erweiternden Krankenpflegegesetzes und des Altenpflegegesetzes bestimmt.

Mit diesen Überlegungen greift der Gesetzgeber die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag und die Vorschläge des Sachverständigenrats zur Kooperation und Verantwortung im Gesundheitswesen 2007 auf. Auch dort wurde bereits eine Abkehr von der Arztzentriertheit und eine stärkere Einbeziehung der Pflegeberufe in die Krankenversorgung gefordert. Allerdings hatte der Sachverständigenrat wegen der Brisanz der Veränderungen der Aufgabenverteilung empfohlen, mit kleinen Schritten zu beginnen und in erster Linie den Weg einer verstärkten Delegation ärztlicher Aufgaben an nicht-ärztliche Gesundheitsberufe zu gehen. Die jetzt vom Gesetzgeber propagierten regionalen Modellprojekte sollten nach Auffassung des Sachverständigenrats erst in einem zweiten Schritt folgen. Offenbar zeigt die Bundesregierung kein Interesse an einem solchen vorsichtigen Entwicklungsprozess.

Damit stellen die gesetzlichen Neuregelungen, die zum 01.07.2008 in Kraft treten sollen, einen massiven Eingriff in originäre ärztliche Tätigkeitsgebiete dar. Die Neuregelungen werden zwar einerseits mit einer erforderlichen Entlastung der Ärzte und einem zunehmenden Bedarf in strukturschwachen Regionen begründet; andererseits stellen sie ein Einfallstor in den Kernbereich ärztlichen Handeln dar und verändern in radikaler Weise die bisher vorherrschende Auffassung vom Inbegriff der ärztlichen Heilkunde. Danach nämlich dürfen alle Verrichtungen, die wegen ihrer Schwierigkeiten, ihrer Gefährlichkeit oder wegen der Unvorhersehbarkeit etwaiger Reaktionen ärztliches Fachwissen voraussetzen und deshalb vom Arzt persönlich durchzuführen sind, nicht auf nicht-ärztliches Personal übertragen werden. Die nunmehr vom Gesetzgeber vorgesehenen Neuregelungen entsprechen einer Substitution ärztlicher Leistungen durch Leistungen nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe. Damit geht der Gesetzgeber selbst über das vom Sachverständigenrat verfolgte Ziel hinaus, im Rahmen eines Delegationsprozesses eine größere Verantwortung auf das Pflegepersonal zu übertragen. Die sich aufdrängenden Fragen einer Verschiebung der zivilrechtlichen Haftung und strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf die Pflegeberufe beantwortet der Gesetzgeber nicht. Wenn Pflegefachkräfte zukünftig als eigenständige Leistungserbringer in der GKV auftreten sollen, müssen sie auch die rechtliche Verantwortung ihres Handeln alleine tragen. Eine übergeordnete Verantwortung der Ärzte scheidet dann für diese Bereiche aus.

Wenn Krankenkassen und Pflegeeinrichtungen selbst entscheiden können, welche Tätigkeiten zum originären Tätigkeitsgebiet der Ärzte zählen und welche von Pflegekräften wahrgenommen werden dürfen, werden Erfahrungen und Grundsätze einer gewachsenen und bewährten Struktur der Aufgabenverteilung unter den Gesundheitsberufen völlig ohne Not über Bord geworfen.

Die medizinischen Fachgesellschaften und ärztlichen Berufsverbände sind aufgerufen, dem ungehinderten Vormarsch der Barfußmedizin in Deutschland Einhalt zu gebieten und eine geordnete und verantwortungsvolle Verteilung der Aufgaben im Gesundheitswesen zu gewährleisten. Die erforderlichen Therapieentscheidungen dürfen auch im Pflegebereich nicht von ökonomischen und strukturellen Zwängen bestimmt sein; maßgeblich muss allein die Qualität der vom Patienten zu erwartenden medizinischen Leistung sein. Diese Qualität im Einzelnen zu bestimmen, ist originäre ärztliche Aufgabe, nicht Aufgabe der Krankenkassen und anderer Gesundheitsberufe. Deshalb muss die Ärzteschaft um den Erhalt des ärztlichen Leitbildes kämpfen und sich gegen die Vereinnahmung durch Gesetzgeber und Gesellschaft zu Wehr setzen.