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GMS Mitteilungen aus der AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

ISSN 1860-4269

Zum Gutachten des Sachverständigenrats zur Kooperation und Verantwortung im Gesundheitswesen 2007: Die Kernaussagen zur Zusammenarbeit von ärztlichen und nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen

Mitteilung

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  • corresponding author presenting/speaker A. Wienke - Wienke & Becker - Köln
  • K. Janke - Wienke & Becker - Köln

GMS Mitteilungen aus der AWMF 2007;4:Doc21

The electronic version of this article is the complete one and can be found online at: http://www.egms.de/en/journals/awmf/2007-4/awmf000130.shtml

Received: August 14, 2007
Published: August 16, 2007

© 2007 Wienke et al.
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Zusammenfassung

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat sein Gutachten zur „Kooperation und Verantwortung - Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsvorsorgung“ im Juli 2007 vorgelegt. Ein Schwerpunkt der Begutachtung lag auf der Bewertung der Entwicklung der Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe. Dabei werden umfassende Veränderungen des bisher bekannten und gewachsenen Arztbildes vorgeschlagen, mit denen für die Ärzte in Klinik und Praxis, aber auch für die Patienten gravierende Umstellungen verbunden sein werden.


Text

Nach den Empfehlungen sollen nicht-ärztliche Gesundheitsberufe stärker in die Versorgung und Verantwortung einbezogen und die Kooperation zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen verbessert werden, um eine effizientere und effektivere gesundheitliche Leistungserteilung zu erzielen. Der Sachverständigenrat erkennt, dass der empfohlene Weg zu neuen Kooperationsformen bei allen Gesundheitsberufen die Bereitschaft voraussetzt, im Rahmen neuer, teamorientierter Arbeitsformen zu einer Neuaufteilung der Tätigkeitsfelder entsprechend der jeweiligen Qualifikationen zu kommen und die entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Die Vorschläge des Sachverständigenrates, welche die Zusammenarbeit und die Aufgabenverteilung im Gesundheitswesen revolutionierenden werden, sollen im Folgenden kurz dargestellt und bewertet werden:

1. Defizite der Aufgabenverteilung des Status quo

Nach Ansicht des Sachverständigenrats liegen die aktuellen Probleme der Zusammenarbeit unterschiedlicher Gesundheitsberufe insbesondere darin, dass die Verteilung der Tätigkeiten zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen nicht dem demographischen, strukturellen und innovationsbedingten Anforderungen entspricht. Auch bestehe hinsichtlich der Arbeitsteilung zwischen den Gesundheitsberufen ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit. Zudem sei die interprofessionelle Standardisierung zu wenig ausgeprägt, wodurch Zusammenarbeit und Delegation erheblich erschwert würden. Es zeige sich auch immer noch eine ausgeprägte Arztzentriertheit der Krankenversorgung. Die Ausbildungen der Gesundheitsberufe wiesen insofern Mängel auf, als dass sie nicht adäquat auf die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen vorbereiteten.

Die zentrale Position des Arztes in der Krankenversorgung führt der Sachverständigenrat auf die rechtlichen Rahmenbedingungen zurück. In diesem Zusammenhang bietet in der Tat das Heilpraktikergesetz (HPG) von 1939 die einzige Definition des Begriffs „Heilkunde“, die nach Ansicht des Sachverständigenrates allerdings zu weit gefasst ist und auch unvollständig sei, da jedenfalls die Aufgabe der Prävention nicht enthalten ist. Diese Definition sei demnach nicht geeignet, das ärztliche Tätigkeitsfeld von dem der anderen Gesundheitsberufe eindeutig abzugrenzen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit der Übertragung von Aufgaben an nicht-ärztliche Gesundheitsberufe und der damit verbundenen Haftungsverteilung. Diese Rechtsunsicherheit, gepaart mit fehlender Standardisierung und mangelhaften Wissen um die Tätigkeitsinhalte der jeweils anderen Berufsgruppen, führt nach Ansicht des Sachverständigenrates zu einer uneffizienten Aufgabenverteilung der Gestalt, dass einerseits Aufgaben verrichtet würden, die unter dem eigenen Ausbildungsniveau lägen und andererseits eine Verschlechterung der Versorgungsqualität und eine unnötige Patientengefährdung zu befürchten sei.

2. Änderung der Anforderungen an die Gesundheitsberufe

Der Sachverständigenrat sieht neue Herausforderungen für die Gesundheitsberufe. Die demographische Entwicklung und Veränderungen des Morbiditätsspektrums sorgten für Reaktionsbedarf. Durch die Zunahme älterer, chronisch erkrankter und zunehmend multimorbider Patienten gerieten über-, unter- oder fehlversorgte Bereiche zunehmend unter Druck. Das zentrale Problem sieht der Sachverständigenrat in einer unzureichend strukturierten sektorübergreifenden Versorgung und dem Mangel an interdisziplinären und flexiblen Versorgungsstrukturen. Zudem müssten die Nachwuchsrekrutierung erfolgreich fortgeführt werden und die Entwicklungen des medizinisch-technischen Fortschritts in die neuen Strukturen der Gesundheitsberufe einfließen.

Als moderne Formen der Kooperation, die nach Ansicht des Sachverständigenrates auch künftig sinnvoll weiterzuentwickeln seien, gehörten das ambulante multiprofessionelle Team, das transsektorale Case Management und das hoch spezialisierte Behandlungsteam im Krankenhaus. Dass die jüngst eingeführten berufsrechtlichen Liberalisierungen und die strukturellen Neuordnungen im Gesundheitswesen neue und vereinfachte sektorübergreifende Kooperationen erlauben, genügt dem Sachverständigenrat offenbar nicht.

3. Ziele der Neuordnung der Gesundheitsberufe

Mit der neuen Aufgabenverteilung zwischen den Gesundheitsberufen will der Sachverständigenrat folgende Zielen realisieren:

  • Abbau vorzeitiger Versorgungsdefizite und Verbesserung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Patientenversorgung,
  • Sicherstellung von Qualität und Kosteneffektivität,
  • Verbesserung der Kooperation aller im Gesundheitswesen Beschäftigten im Sinne von intakter Kommunikation, flachen Teamstrukturen und einer Entkopplung von funktionalen und hierarchischen Befugnissen zur Begründung eines modernen Gesundheitssystems,
  • flexible, den lokalen Gegebenheiten angemessene und entwicklungsfähige Ausgestaltung der veränderten Rollen des Gesundheitsberufe, um optimal auf zukünftige, nicht immer vorhersehbare Versorgungsnotwendigkeiten reagieren zu können,
  • Verbesserung der Arbeitszufriedenheit der Berufsgruppen durch sinnvolle Arbeitsteilung und Garantie, dass Tätigkeiten entsprechend des eigenen Qualifikationsniveaus durchgeführt werden,
  • Abmilderung der Abhängigkeit der Morbiditätslast vom sozio-ökonomischen Status.

Ausdrücklich weist der Rat darauf hin, dass jede Veränderung der Kooperation und der Aufgabenverteilung zwischen den heute bestehenden Gesundheitsberufen der Überprüfung und gegebenenfalls der Änderung der rechtlichen Voraussetzungen bedarf.

4. Empfehlungen zur Zusammenarbeit

Der Sachverständigenrat stellt folgende Optionen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe vor:

  • Abgrenzungen der Tätigkeitsbereiche der verschiedenen Gesundheitsberufe,
  • klar geregelte Möglichkeiten zur Erprobung einer neuen Tätigkeitsübertragung,
  • Verbesserung der Standardisierung und gemeinsame Datendokumentation der Gesundheitsberufe.

Die Neuverteilung der Aufgaben zwischen den Gesundheitsberufen soll dabei immer auch von einer Reform der Berufsausbildung begleitet werden.

Wegen der Brisanz der Veränderungen der Aufgabenverteilung empfiehlt der Sachverständigenrat, mit kleinen Schritten zu beginnen. Der erste Schritt sei über den Weg der Delegation ärztlichen Aufgaben an nicht-ärztliche Gesundheitsberufe zu gehen. In einem zweiten Schritt sollen regionale Modellprojekte zur Veränderung des Professionenmixes und zur größeren Eigenständigkeit nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe durchgeführt und evaluiert werden. In einem dritten Schritte könne dann bei Beweis der Praktikabilität eine breitere Einführung der Neuerungen erfolgen.

•Die Aufgabenverteilung erfolgt entweder durch vorübergehende Übertragung von Tätigkeiten auf eine andere Berufsgruppe im Wege der Delegation oder durch dauerhafte Übertragung im Wege der Substitution. Darüber hinaus kann es zu einer Spezialisierung auf bestimmte Aufgaben kommen und ebenso müssen neue Aufgabengebiete entweder an bestehende Berufsgruppen vergeben werden oder durch neue Berufsgruppen abgedeckt werden. Als Vorteile einer Tätigkeitsübertragung werden u. a. Arbeitsentlastung, Auffangen personeller Engpässe, neue Karrieremöglichkeiten für die nicht-ärztlichen Berufsgruppen, Flexibilisierung der Versorgung und die Kostenreduktion der Gesundheitsversorgung genannt. Nachteile einer Tätigkeitsübertragung sind dagegen u. a. Koordinations-, Kommunikations- und Kontrollfehler, Entstehung neuer Schnittstellen im Gesundheitswesen, Verlust von Erfahrungen, Leistungs- und Ausgabenausweitung und Rechtsunsicherheit.

•Voraussetzung ist jedoch immer eine Neubeschreibung der Aufgabengebiete der Gesundheitsberufe, in dessen Zusammenhang der Sachverständigenrat die Einführung von Poolkompetenzen an Stelle von Vorbehaltensaufgaben für zweckmäßig und sinnvoll hält. Durch diese Poolkompetenzen soll jeweils einer Gruppe von geeigneten Gesundheitsberufen eine Tätigkeitsausführung ermöglicht werden. Die dazu notwendigen Qualifikationen müssen definiert werden und können von verschiedenen Gesundheitsberufen erworben werden. Die Berufsaus- bzw. -weiterbildung müsse diesen Poolkompetenzen entsprechen.

•Bei der Neubeschreibung der Aufgabengebiete der Gesundheitsberufe wird die Festlegung der Kernkompetenzen einer jeden einzelnen Berufsgruppe wesentlich sein. Kernkompetenzen dienen der Identitätsbildung und -entwicklung der einzelnen Gesundheitsberufe und legen die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten im Gesundheitswesen fest. Die Festlegung der Kernkompetenzen für den ärztlichen Beruf im Heilpraktikergesetz will der Sachverständigenrat aus oben genannten Gründen – zu weite und unvollständige Definition – nicht zulassen. Vielmehr ist eine Neudefinition sämtlicher Kern- und Poolkompetenzen der verschiedenen Gesundheitsberufe angestrebt.

•Der Sachverständigenrat regt darüber hinaus an, dass die medizinischen Fakultäten der Universitäten auch die Ausbildungsverantwortung für alle neuen beruflichen Zweige, die zur Heilkunde gehören, übernehmen sollen. Die Medizinischen Fakultäten sollen ferner die Aufgabe einer kontinuierlichen Weiterentwicklung von Gesundheitsberufen übernehmen. Es sei zu prüfen, inwieweit das Spektrum der Professuren etwa durch die Integration von Pflegewissenschaften und -praxis, Physiotherapie, und anderer Gesundheitsberufe erweitert werden könne. Der Sachverständigenrat sieht auch die multiprofessionelle Forschung als eine zentrale Aufgabe der Universitäten.

•Darüber hinaus begrüßt der Sachverständigenrat den Akademisierungsprozess verschiedener Gesundheitsberufe. Allerdings bedürfe es einer Abstimmung der Ausbildungsniveaus nicht-ärztlicher Heilberufe. Nicht jede Tätigkeit erfordere den Einsatz einer akademisch ausgebildeten Fachkraft.

•Ferner bedürften sowohl innerhalb einer Berufsgruppe als auch zwischen den Berufsgruppen die graduierten Verantwortlichkeiten eindeutiger Haftungsregelungen. Neben der Einführung von Berufsausweisen für nicht-ärztliche Gesundheitsberufe zur Sicherung der Qualität der Berufsausübung fordert der Sachverständigenrat darüber hinaus die interprofessionelle Erstellung von Leitlinien unter Einbeziehung aller betroffenen Gesundheitsberufe.

•Ausdrücklich empfiehlt der Rat eine Modernisierung der Definition des Heilkundebegriffs. Die neue Definition solle verdeutlichen, dass die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung nur in Kooperation aller Gesundheitsberufe erfolgen könne. Zudem solle die Aufgabe der Prävention in die Definition aufgenommen werden. Einer Überprüfung bedürfe zudem die Frage nach der Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung von Ärzten.

•Einen Punkt von besonderer Brisanz bildet aber der Vorschlag des Rates zur Schaffung von neuen Berufsbezeichnungen, die im Sinne einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit keine missverständliche Bedeutung nahe legen sollen. Ausdrücklich lehnt der Sachverständigenrat eine Kategorisierung der Gesundheitsberufe in die Begriffspaare „Heilberuf – Heilhilfsberuf“ oder „Mediziner – medizinischer Assistenzberuf“ ab. Eine solche Einteilung, die die hierarchische Position der Ärzte zum Vorschein kommen lässt, stehe einem modernden, auf Kooperation gegründeten Verständnis von Zusammenarbeit der Gesundheitsberuf im Wege.

5. Ergänzende Anmerkungen und Bewertungen

Die vom Sachverständigenrat empfohlenen Neuerungen hätten gerade für die Angehörigen des Arztberufes weit reichende Auswirkungen, die sowohl positiv als auch negativ zu bewerten sind. Die Ausweitung von Delegationsmöglichkeiten dürfte für Routinemaßnahmen (Dokumentation, Organisation) der Arbeitsentlastung dienen und insoweit zu begrüßen sein.

Völlig unklar bleibt allerdings die notwendige Änderung des Rechtsrahmens im Falle von Substitutionen, also dauerhaften Übertragungen von ärztlichen Tätigkeiten an nicht-ärztliche Personen. Während bei einer Delegation die rechtliche Verantwortung beim Arzt verbleibt, müsste diese im Falle einer Substitution auf den Empfänger übergehen. Denn bei fehlender „Letztentscheidungsbefugnis“ des Arztes kann es auch keine rechtliche „Letztverantwortlichkeit“ des Arztes geben. Ob dies der Patientensicherheit zuträglich ist, darf bezweifelt werden.

Besonders einschneidende Neuerungen empfiehlt der Sachverständigenrat im Hinblick auf das Arztbild. Jedwede Hierarchie soll aus der Gesundheitsversorgung entfernt werden. Dies soll sich insbesondere auch in der Wahl der Berufsbezeichnungen widerspiegeln. Eine gestufte Verantwortung innerhalb und auch zwischen den Berufsgruppen muss der Sachverständigenrat allerdings einräumen, so dass Sinn und Zweck der Änderung der Berufsbezeichnungen nicht recht einleuchten wollen.

Es verwundert nicht, dass das Bundesgesundheitsministerium die Vorschläge des Sachverständigenrates in ersten Stellungnahmen begrüßt hat. Die Anregungen des Rates folgen schließlich einer Koalitionsabsprache der Regierungsparteien. Zu Beginn der Legislaturperiode hatte man sich bereits darauf verständigt zu überprüfen, „inwieweit nichtärztliche Heilberufe stärker in Versorgungskonzepte einbezogen werden können“. Eine interministerielle Expertengruppe hat hierzu bereits vor geraumer Zeit Beratungen aufgenommen und trägt Vorschläge zu verschiedenen Modellprojekten zusammen, die im Wesentlichen dem entsprechen, was der Sachverständigenrat nun in seinem Gutachten empfiehlt. Auch der 110. Deutschen Ärztetag hat im Mai 2007 beschlossen, schnellstmöglich die gemeinsame Stellungnahme der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zu delegierbaren ärztlichen Leistungen aus dem Jahre 1988 zu überarbeiten. Diese Empfehlungen sollen noch im Herbst diesen Jahres bekannt gemacht werden.

Die einzelnen medizinischen Fachdisziplinen sollten – ggf. gemeinsam unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) – eine Neuordnung ihrer Leistungs- und Aufgabenkataloge in Angriff nehmen und dabei insbesondere diejenigen Leistungen definieren, die dem originären ärztlichen Bereich zuzuordnen sind. Nach wie vor geht die rechtliche Beurteilung und Bewertung des ärztlichen Pflichtenkatalogs unmissverständlich davon aus, dass die zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit der Ärzte entscheidend durch die medizinischen Standards selbst geprägt werden. Die Ärzte und ihre Fachgesellschaften haben es also weitgehend selbst in der Hand, die Tätigkeitsfelder und Verantwortungsbereiche abzustecken. Noch ist Zeit, dies selbst zu tun, bevor der Gesetzgeber das Heft in die Hand nimmt und neue Berufsfelder und Aufgabenverteilungen eröffnet.