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Familienmedizin in der hausärztlichen Versorgung der Zukunft. Wissenschaftlicher Kongress zur Positionsbestimmung der Familienmedizin in Deutschland.

Institut für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der Universität Witten/Herdecke

11.11.2011, Witten

Präventive Hausbesuche für ältere Menschen: Was versteckt sich hinter diesem Konzept? Für wen kommen sie in Frage? (BMBF-Projekt ‚AeGE – Ältere Gezielt Erreichen‘ – Effektivität und Kosteneffektivität am Beispiel des Präventiven Hausbesuchs)

Meeting Abstract

  • Susanne Heim - Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)
  • Gudrun Theile - Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)
  • Guido Schmiemann - Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)
  • Tanja Schleef - Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)
  • Bernhilde Deitermann - Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der MHH
  • Christiane Patzelt - Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der MHH
  • Jona T. Stameyer - Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der MHH
  • Christian Krauth - Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der MHH
  • Ulla Walter - Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der MHH
  • Eva Hummers-Pradier - Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)

Familienmedizin in der hausärztlichen Versorgung der Zukunft. Wissenschaftlicher Kongress zur Positionsbestimmung der Familienmedizin in Deutschland. Witten, 11.-11.11.2011. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2011. Doc11iaf06

doi: 10.3205/11iaf06, urn:nbn:de:0183-11iaf065

Veröffentlicht: 8. November 2011

© 2011 Heim et al.
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Gliederung

Text

Einleitung: Präventive Hausbesuche sind ein niedrigschwelliges Instrument mit Bringstruktur für ältere Menschen. Sie tragen zu einer stärkeren Verzahnung von präventiven, therapeutischen, rehabilitativen und pflegerischen Maßnahmen bei. Ziel der Hausbesuche ist es, möglichst lange eine unabhängige Lebensweise aufrechtzuerhalten und vorzeitige Pflegeheim-einweisungen zu verhindern. Vorreiter war in den 1980er Jahren Dänemark, wo präventive Hausbesuche inzwischen Bestandteil der regulären gesundheitlichen Versorgung der älteren Bevölkerung sind. Studien in den USA, Großbritannien und der Schweiz folgten. Metaanalysen und systematische Reviews geben Hinweise auf eine Reduktion von Mortalität sowie der Anzahl von Krankenhaus- und Pflegeheimeinweisungen [1]. 2002 wurde eine deutsche Machbarkeitsstudie zu geriatrisch fundierten Hausbesuchen vorgestellt [2] und diese anschließend in drei wissenschaftlich begleiteten Modellprojekten erprobt: AGIL (Aktive Gesundheitsförderung im Alter) des Hamburger Albertinenhauses, mobil der BKK Bosch und ‚Gesund Älter Werden (GÄW)‘ der AOK Niedersachsen.

Mittlerweile finden entsprechende Konzepte zunehmend Verbreitung und Akzeptanz – neben und im Anschluss an die erwähnten Modellprojekte werden mittlerweile in vielen Städten älteren Bürgern präventive Hausbesuche angeboten, so u. a. in Hannover, Braunschweig, Dortmund, München, Reutlingen, Frankfurt und Bremen. Träger sind entweder Krankenkassen, Wohlfahrtsverbände oder Kommunen. Dementsprechend unterschiedlich sind die Zielgruppen sowie die durchführenden Professionen (Ärzte, Pflegekräfte, Sozialarbeiter).

Das Programm ‚Gesund Älter Werden‘ (GÄW) der AOK Niedersachsen (AOKN): Das präventive Hausbesuchsprogramm der AOKN umfasst im Regelfall drei Hausbesuche. Beim ersten Hausbesuch werden Konzept und Inhalt des Angebots erläutert. Fallberaterin und Klient sollen sich zunächst unverbindlich kennen lernen, die Schaffung einer Vertrauensbasis steht im Vordergrund. Beim zweiten Hausbesuch werden Erhebungsinstrumente zur Erfassung des Gesundheitsstatus eingesetzt (u.a. WHOQOL, STEP-Assessment). Das Einverständnis des Versicherten vorausgesetzt, wird der Hausarzt hiervon in Kenntnis gesetzt, um ggf. Interventionen planen zu können. Im dritten Hausbesuch werden Maßnahmen und Angebote mit dem Versicherten besprochen, die ihn in einer aktiveren und gesünderen Lebensführung unterstützen, auch durch Vermittlung an Netzwerkpartner im Stadtteil. Zielvereinbarungen sollen dem Versicherten helfen, die Vorsätze in seinem Alltag tatsächlich umzusetzen. Ein loser Kontakt und ggf. weitere Besuche sind möglich und werden individuell vereinbart.

Zur Studie AeGE: In den Modellprojekten wurde deutlich, dass nur ein recht geringer Anteil der Zielgruppe erreicht werden konnte. Aus diesem Grund empfahl schon die Münchner Machbarkeitsstudie eine Erprobung des Zugangs über den Hausarzt, welcher für viele ältere Personen eine Vertrauensperson darstellt. Die BMBF-Studie ‚Ältere gezielt erreichen’ (AeGE) griff nicht nur diesen Ansatz auf und erprobte die Effektivität der Zugänge Krankenkasse vs. Hausarzt. Im Zuge des Projekts wurde auch ein Fragebogen zur Eingrenzung der Zielgruppe auf jene Personen entwickelt, die nach Studienlage besonders von einem präventiven Hausbesuch profitieren könnten (s.u.). Außerdem wurde überprüft, in wieweit die Informationen, die sich aus dem STEP-Assessment ergeben, nutzbar gemacht werden können für die hausärztliche Behandlung der betreffenden Personen.

Vorgehen bei AeGE: Zur Gewinnung von AOK-Versicherten über 65 Jahren für das GÄW-Programm wurden zwei unterschiedliche Zugangswege erprobt: zum einen über ihre Hausärzte, zum anderen nach vorheriger telefonischer Ankündigung direkt über die Krankenkasse.

Die Zielgruppe wurde eingegrenzt auf Personen, die

  • eine eingeschränkte Mobilität aufweisen,
  • sozial isoliert sind bzw. alleine leben,
  • depressive Verstimmungen aufweisen,
  • chronisch krank/multimorbid sind (ermittelt über den Medikamentenkonsum),
  • in den vergangenen vier Wochen Schmerzen hatten;
  • in den vergangenen sechs Monaten im Krankenhaus waren,

sowie auf pflegende Angehörige.

Ausgeschlossen wurden Personen, die körperlich fit und aktiv bzw. sozial gut eingebunden sind.

Auf der Basis dieser Kriterien wurde ein Kurzfragebogen entwickelt, der in beiden Zugängen die Interessierten auf ihre Zugehörigkeit zur Zielgruppe hin überprüfte.

Die vorhandenen Flyer und Anschreiben der Krankenkasse wurden optimiert (Kurzflyer mit wenigen Stichpunkten und Kontaktdaten der Beraterinnen, personalisierte Anschreiben mit unterschiedlichem Fokus für Männer und Frauen) und der Zielgruppe überreicht (Praxis) bzw. per Post gesandt (Krankenkasse).

Erste Ergebnisse: Während die Rekrutierung von Versicherten über die Krankenkasse trotz der Zwischenschaltung einer Koordinierungsstelle, die es zuvor nicht gab, entsprechend der Erfahrungswerte fortgesetzt werden konnte, gestaltete sich die Gewinnung von Praxen, die bereit waren, sich an dem Projekt zu beteiligen, als sehr schwierig. Die meisten der Praxen, die schließlich bereit waren, geeigneten Patienten das Angebot des präventiven Hausbesuchs zu unterbreiten, rekrutierten nur sehr wenige Versicherte. Dies meist, weil die Unterbreitung des Zielfragebogens und des Angebots nicht in den Praxisablauf integriert werden konnte. Diejenigen Praxen aber, die Patienten rekrutierten, konnten mehr Männer und auch ältere Personen gewinnen als die Koordinierungsstelle der Krankenkasse – beides sog. ‚hard to reach‘-Gruppen.

Als Folge der Eingrenzung der Zielgruppe hatten die anschließend am Hausbesuchsprogramm teilnehmenden Versicherten mehr gesundheitliche Einschränkungen als die Teilnehmenden beim Regelprogramm GÄW. Entsprechend mussten Maßnahmen und Angebote abgestimmt werden. Zielt man – wie bspw. die Dänen – darauf ab, eine Verschlechterung der Gesundheit oder den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, erscheint dieses Vorgehen gerechtfertigt. Das professionelle Selbstverständnis der Präventionsberaterinnen im AOK-Programm basiert jedoch eher auf Primärprävention und allgemeiner Aktivierung von Älteren, weniger auf konkreten Maßnahmen der Sekundär- und Tertiärprävention.

Im Falle einer Implementierung von Präventiven Hausbesuchen im deutschen Gesundheitswesen sollte deren Zielsetzung deshalb klar definiert werden (vgl. [3]).


Literatur

1.
Meinck M, Lübke N, Lauterberg J, Robra B. Präventive Hausbesuche im Alter: eine systematische Bewertung der vorliegenden Evidenz. Gesundheitswesen. 2004;66:732-8.
2.
Manstetten A, Wildner M. Machbarkeitsstudie: Prävention im Alter – geriatrisch fundierte Hausbesuche bei älteren Menschen. Abschlussbericht. November 2002. (BFV-Bericht; 2002-12).
3.
Löfqvist C, Eriksson S, Svensson T, Iwarsson S. First Steps towards Evidence-Based Preventive Home Visits: Experiences Gathered in a Swedish Municipality. J Aging Res. 2012;2012:352942.