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GMDS 2014: 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

07. - 10.09.2014, Göttingen

Rollende Arztpraxis – Zwischenfazit eines mobilen Versorgungskonzeptes zur Unterstützung der medizinischen Versorgung in ländlichen Gebieten

Meeting Abstract

  • J. Schwartze - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der Technischen Universität Braunschweigund der Medizinischen Hochschule Hannover, Braunschweig
  • K.H. Wolf - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der Technischen Universität Braunschweigund der Medizinischen Hochschule Hannover, Braunschweig
  • M. Rochon - Braunschweiger Informatik- und Technologie-Zentrum GmbH, Braunschweig
  • B. Haarbrandt - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatikder Technischen Universität Braunschweigund der Medizinischen Hochschule Hannover, Braunschweig
  • M. Wagner - Braunschweiger Informatik- und Technologie-Zentrum GmbH, Braunschweig
  • M. Drews - TU Braunschweig, Braunschweig
  • T. Fischer - Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau, Kassel
  • T. Hellwig - Wolfsburg AG, Wolfsburg
  • S. Hofmann - Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen – KVN, Unternehmensbereich Bezirksstelle Braunschweig, Braunschweig
  • P. Höft-Budde - AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen, Hannover
  • R. Jäger - Wolfsburg AG, Wolfsburg
  • S. Lorenz - Deutsche BKK, Wolfsburg
  • R. Naumann - Samtgemeinde Schöppenstedt, Schöppenstedt
  • M. Plischke - Braunschweiger Informatik- und Technologie-Zentrum GmbH, Braunschweig
  • J. Reytarowski - AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen, Hannover
  • C. Richter - Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen – KVN, Unternehmensbereich Bezirksstelle Braunschweig, Braunschweig
  • C. Steinbrügge - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatikder Technischen Universität Braunschweigund der Medizinischen Hochschule Hannover, Braunschweig
  • A. Ziegenspeck - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatikder Technischen Universität Braunschweigund der Medizinischen Hochschule Hannover, Braunschweig
  • J. von Ingelheim - Wolfsburg AG, Wolfsburg
  • R. Haux - Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der Technischen Universität Braunschweigund der Medizinischen Hochschule Hannover, Braunschweig

GMDS 2014. 59. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (GMDS). Göttingen, 07.-10.09.2014. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2014. DocAbstr. 336

doi: 10.3205/14gmds019, urn:nbn:de:0183-14gmds0199

Veröffentlicht: 4. September 2014

© 2014 Schwartze et al.
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Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung: Am 06. August 2013 nahm die Rollende Arztpraxis (RAP, [1]) ihren Dienst auf. Das Konzept dazu wurde im Rahmen des Modellprojektes „Zukunftsregionen Gesundheit – kommunale Gesundheitslandschaften“ entwickelt, um dem zunehmenden Ärztemangel im Landkreis Wolfenbüttel zu begegnen. Finanziert wird das Projekt vom Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, der AOK Niedersachsen und der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen.

Durch Veränderungen der hausärztlichen Versorgungslage sind kleinere Dörfer und Gemeinden punktuell bereits jetzt medizinisch unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht [2]. Speziell der Planungsbereich Wolfenbüttel, der als einer von drei Niedersächsischen Landkreisen an dem Modellprojekt „Zukunftsregionen Gesundheit“ beteiligt ist, ist gefordert diesem in [3] deutlich werdenden Umstand mit der Erprobung neuer Versorgungsformen zu begegnen.

Im Kontext ähnlicher Probleme im internationalen Vergleich [4] ist die Etablierung eines mobilen hausärztlichen Versorgungskonzeptes eine mögliche Lösungsstrategie. Diese ähnelt dabei dem Vorbild der Besuchs- oder „Fly-In/Fly-Out“-Modelle, beschrieben in [5]. Entgegen bestehender nationaler Lösungen, welche sich auf eine Spezial-oder Basisversorgung beschränken, bildet die RAP eine hausärztliche Versorgung ab.

Wir möchten über den aktuellen Stand der RAP berichten und ein Zwischenfazit dieses – in Deutschland einmaligen – Pilotprojektes ziehen. Im Fokus steht dabei die Frage, ob und wie die hausärztliche Versorgung im ländlichen Raum durch eine mobile Versorgungseinheit ergänzt werden kann.

Material und Methoden: Die Auswahl adäquater Einsatzgemeinden erfolgte durch Analyse der Arztdichte und Verkehrsanbindung. Versorgungsanforderungen wurden durch eine teilstandardisierte Umfrage in den Projektregionen erhoben. Zielgrundgesamtheit waren alle gesetzlich Versicherten des Landkreises Wolfenbüttel. Abgeleitet aus den resultierenden Use Cases wurden Versorgungsszenarien definiert.

Die Akzeptanz wird durch laufende Befragungen während der gesamten Projektlaufzeit ermittelt. Fragen an potentielle Patienten enthalten demografische Daten, Angaben zur aktuellen medizinischen Versorgung und Erwartungen an die RAP. Tatsächlich in der RAP behandelte Patienten werden zusätzlich zur Zufriedenheit mit ihrer Behandlung in der RAP befragt. Fragen an niedergelassene Hausärzte in den Projektregionen enthalten ebenso demografische Daten, generelle Angaben zur Praxis und sowie erwartete Nutzwerte für die Ärzte selbst und ihre Patienten.

Die basale ökonomische Auswertung erfolgt anhand von Auslastungs- und Einsatzmodellen aus den realen Abrechnungen und Aufwendungen.

Ergebnisse:

1.
Prozedurale und technische Ausgestaltung: Sechs Gemeinden wurden als vorläufige Anfahrtspunkte ausgewählt. Die jeweiligen Standorte verfügen über keinen Hausarzt und sind eingeschränkt durch den öffentlichen Personennahverkehr erreichbar. Initiale Behandlungszeit beträgt drei Stunden pro Standort bei Anfahrt von zwei Standorten pro Woche in einem drei Wochen Rhythmus. Nach zwei Behandlungsquartalen wurde auf drei Standorte pro Woche in einem zwei Wochen Rhythmus aufgestockt. Eine weitere Aufstockung sowie supplementäre Einsatzmodelle sind geplant.
Die Rollende Arztpraxis besteht aus einem Kleintransporter mit einem speziell konstruierten Kofferaufbau. Das Interieur der RAP ist bewusst freundlich und offen mit mehr Freiraum unter Nutzung ansprechender Farben gestaltet. Überdies wurde eine Kommunikationsinfrastruktur mit entsprechenden Softwarekomponenten und Mobilfunktechnologie geschaffen, um den sicheren elektronischen Dokumentenaustausch zwischen der mobilen Arztpraxis und niedergelassenen Ärzten zu ermöglichen.
2.
Versorgungsanforderungen: Die Auswahlgrundgesamtheit umfasst 3090 Versicherte. Eine Antwortrate von 17,8% führte zu einer Stichprobengröße von 549 Versicherten. Das Durchschnittsalter war 61 Jahre, wobei Frauen (n=244) und Männer (n=296) ähnlich verteilt waren. 61% (n=323) gaben an, an einer oder mehreren chronischen Krankheiten zu leiden. 38% (n=141) waren eher oder sehr unzufrieden mit der hausärztlichen Versorgung. 41% (n=150) waren eher oder sehr unzufrieden mit der Erreichbarkeit des Hausarztes.
Die häufigsten Gründe für einen Hausarztbesuch waren die Behandlung akuter Symptome (n=375), Folgerezeptausstellungen (n=317), Facharzt-Überweisungen (n=262) und die Behandlung chronischer Beschwerden (n=183). Diese Verteilung spiegelte sich auch im erwarteten Leistungsspektrum der RAP (n=[332, 285, 131, 115]) wider.
372 Rückmeldungen kamen aus den jeweils ausgewählten Halteorten. Davon gaben rund 41% eine eher hohe oder sehr hohe Wahrscheinlichkeit an, die RAP in Anspruch zu nehmen.
3.
Vorläufige Fallzahlen: Während der ersten fünf Projektmonate wurden 120 Behandlungen durchgeführt. Es gab eine Gesamtzahl von 83 Fällen. 73 Patienten waren 60 Jahre oder älter. 28 litten an einer oder mehreren chronischen Krankheiten. Die Verteilung der Auslastung über die Haltepunkte war dabei sehr unterschiedlich (n=[50, 23, 21, 6, 6, 4]). Die häufigsten Diagnosen waren essentielle (primäre) Hypertonie (ICD-10: I10, n=37) gefolgt von chronischer ischämischer Herzkrankheit (ICD-10: I25, n=11) und hypertensiver Herzkrankheit (ICD-10: I11, n= 9)
4.
Akzeptanz: Von 70 Hausärzten in der Projektregion konnten 16 befragt werden. Das durchschnittliche Alter der Befragten lag bei 57 Jahren. Acht der 16 befragten Ärzte gaben an, dass sie in den nächsten fünf oder zehn Jahren in Ruhestand gehen ohne einen Nachfolger zu haben. Die meisten Hausärzte erwarten eine bessere medizinische Versorgung durch den Einsatz der RAP (n=11) und werden ihre Patienten über das Angebot informieren (n=11). Vier Ärzte sehen die RAP als Konkurrenz oder gar als Gefahr für die Patienten und werden von einem Besuch abraten.
Vorläufige Ergebnisse der laufenden Befragung behandelter Patienten (Rücklauf ca. 25%, n=21) zeigt, dass alle Patienten eher zufrieden oder sehr zufrieden mit der RAP insgesamt sind. Kleinere Unzufriedenheiten betreffen die Haltefrequenz (n=2) oder die Erreichbarkeit (n=1) der RAP. Als Gründe für den Besuch der RAP wurden hauptsächlich Folgerezeptausstellungen (n=10) und akute (n=9) sowie chronische (n=5) Beschwerden angegeben. Nahezu alle Patienten erreichten die RAP zu Fuß (n=17).

Diskussion: Die Erfahrungen der beteiligten interdisziplinären Partner trugen maßgeblich zum Erfolg des Projektes bei. Das Feedback zur Konzeption der RAP als alternative bzw. ergänzende ärztliche Versorgungsform für den ländlichen Raum ist umfassend und überwiegend positiv. Die Anforderungen in Form der erwarteten Behandlungsangebote konnten komplett erfüllt werden. Die Charakteristika der behandelten Patienten entsprechen den Erwartungen, so war die Mehrheit über 60 Jahre alt und deren Mobilität eingeschränkt. Die ökonomische Auswertung erfordert einen längeren Studienverlauf und eine Reihe von Einsatzszenarien, um die verschiedenen Versorgungsmodelle abbilden und mit validen Aussagen bewerten zu können.

Schlüsselstrategien des Projektes waren (1) Die frühzeitige Einbeziehung aller, auch marginal beteiligter, Stakeholder, vor allem der Hausärzte; (2) Die sorgfältige technische, organisatorische und rechtliche Konzeption; (3) Die andauernde Test- und Evaluationsstrategie der verschiedenen Szenarien.

Hausärztliche Versorgung durch eine mobile Versorgungseinheit als Ergänzung zur ambulanten medizinischen Versorgung ist möglich. Vor allem Flächenstaaten/-Länder mit geringer Bevölkerungsdichte haben von Beginn an Erfahrungen mit mobiler medizinischer Versorgung gesammelt. Über die Zeit gewachsene Strukturen anderer Länder müssen den Veränderungen (induziert durch z.B. den demografischen Wandel) nun Rechnung tragen – z.B. durch Pilotprojekte wie die Rollende Arztpraxis.


Literatur

1.
Schwartze J, Wolf KH, Haux R, et al. Die Rollende Arztpraxis – Unterstützung der medizinischen Versorgung in ländlichen Gebieten. In: 58. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) e.V. 2013. 2 S.
2.
Kopetsch T. Dem deutschen Gesundheitswesen gehen die Ärzte aus - Version 5 Bundesärztekammer Abteilung Statistik. Berlin: Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung; 2010. ISBN: 978-3-00-030957-1
3.
KVN. Prognose zur Entwicklung der Arztzahlen für das Jahr 2020 im Gebiet der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen. Hannover: Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen; 2008. Verfügbar unter: http://www.kvn.de/Praxis/Bedarfsplanung/Arztzahlprognose/ [zitiert Donnerstag 27. März 2014] Externer Link
4.
Janes R, Dowell A, Cormack D. New Zealand rural general practitioners 1999 survey–part 1: an overview of the rural doctor workforce and their concerns. N Z Med J. 2001 Nov; 114 (1143):492–5.
5.
Humphreys JS, Wakerman J, Wells R, et al. ”Beyond workforce”: a systemic solution for health service provision in small rural and remote communities. Med J Aust. 2008 Apr;188(8 Suppl):77–80.