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53. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS)

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

15. bis 18.09.2008, Stuttgart

Könnten und sollten E-Health-Anwendungen Ansätze zur Gesundheitsüberwachung unterstützen?

Meeting Abstract

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  • Christian D. Kohl - Institut für Medizinische Biometrie und Informatik, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland
  • Petra Knaup - Institut für Medizinische Biometrie und Informatik, Universität Heidelberg, Heidelberg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. 53. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (gmds). Stuttgart, 15.-19.09.2008. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2008. DocMI9-4

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/gmds2008/08gmds148.shtml

Veröffentlicht: 10. September 2008

© 2008 Kohl et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung

Gesundheitsüberwachung mit dem Ziel Epidemien und Pandemien frühzeitig zu erkennen, ist eine Herausforderung. Infektionskrankheiten wie Influenza, Masern, SARS oder die Freisetzung von biologischen Kampfstoffen können eine Bedrohung darstellen – besonders für eine immer mobilere Weltbevölkerung.

Menschen werden jedoch nicht nur mobiler, sondern dank des medizinischen Fortschritts auch immer älter. Die Versorgung einer größer werdenden Gruppe älterer Menschen muss von einer kleiner werdenden Gruppe jüngerer Menschen geschultert werden. Ohne adäquate Strategien werden sich die Gesundheitssysteme in absehbarer Zeit mit massiven Finanzierungsproblemen konfrontiert sehen [1].

Um dem Versorgungsproblem einer alternden Gesellschaft angemessen begegnen zu können, muss sich die medizinische Forschung nicht nur um Heilung, sondern auch um Prävention bemühen. Die teilweise hohen Kosten für Rehabilitationsmaßnahmen ließen sich senken, wenn „Erkrankungswellen“ vorgebeugt bzw. die „allgemeine Gesundheit“ gestärkt werden könnte. Gleichzeitig könnte Prävention in der berufstätigen Bevölkerung durch Ausfallzeiten entstehende Kosten reduzieren.

Je früher negative Entwicklungen der allgemeinen Gesundheit erkannt werden, desto früher kann angemessen reagiert werden. Unabhängig davon, ob längerfristige Trends aufgespürt werden sollen (z.B. eine verstärkte Neigung zu Übergewicht) oder ob plötzliche Ereignisse wie etwa eine entstehenden Grippewelle oder ein terroristischer Angriff mit biologischen Stoffen detektiert werden soll: Es müssen Daten vorliegen, die geeignete Auswertungen ermöglichen.

Die prospektive Analyse von Gesundheitsdaten, um (negative) Entwicklung und Ereignisse aufzuspüren, lässt sich als „Gesundheitsüberwachung“ (public health surveillance) bezeichnen. Die Zahl elektronisch verfügbarer Gesundheitsdaten wird zunehmen. Einige Länder haben bereits nationale E-Health-Strategien entwickelt. Ob diese auch für eine Gesundheitsüberwachung genutzt werden können, wird davon abhängen, ob ausreichende Maßnahmen zum Schutz der Vertraulichkeit personenbezogener Gesundheitsdaten ergriffen werden können und die Gesetzgebung dies zulässt. Unklar ist noch, welche Anforderungen an Daten und Datenquellen zur Gesundheitsüberwachung zu stellen und welche Arten von Auswertungsfragen zu beantworten wären.

Ziel unserer Untersuchung war die Beantwortung folgender Fragen:

  • Über welche Fragestellungen zur Unterstützung der Gesundheitsüberwachung wird bisher in der Literatur berichtet?
  • Welche Datenquellen nutzen die hierfür entwickelten Systeme bzw. wie werden die benötigten Daten erhoben?

Material und Methoden

Für eine systematische Literaturrecherche mit PubMed wurden passende Schlüsselworte ermittelt (population surveillance, syndromic surveillance). Die Bezeichnungen werden jedoch leider wenig homogen verwendet, so dass die Recherche zu einer sehr hohen Trefferzahl (>29.000) geführt hat, mit vielen nicht relevanten Treffern. Aus diesen Treffern haben wir eine kleinere Stichprobe gezogen. Für die in dieser Stichprobe relevanten Treffer wurden alle in PubMed als ‚verwandt’ beurteilten Artikel wiederum auf Relevanz für die Fragestellung überprüft. Die endgültige Stichprobe konvergierte bei 194 Referenzen. In die Auswertung endgültig einbezogen wurden hiervon 156 Artikel, welche einen Abstract enthielten.

Ergebnisse

Bereits Mitte der 80er-Jahre wurde in Frankreich ein computergestütztes Netzwerk zur Überwachung von Grippe, Virushepatitis, akuter Harnröhrenentzündung, Masern und Mumps initiiert [2]. Ausgewählte Ärzte in ganz Frankreich können über Computerterminals entsprechende Beobachtungen in das Netz einspeisen.

In der vergangenen Dekade haben sich die Bemühungen auf dem Gebiet der Gesundheitsüberwachung, insbesondere in den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verstärkt. Um auf Anschläge mit biologischen Stoffen wie Anthrax schnell reagieren zu können, wurde nach Datenquellen gesucht, welche eine Detektion noch vor der klinischen Bestätigung (etwa durch Laboruntersuchungen) ermöglichen [3], [4]. Hieraus entstand die „Syndrom-Überwachung“: Überwacht werden vielfach keine klinischen Parameter, sondern mit Erkrankungen assoziierte Parameter wie der Verkauf von Medikamenten, Fehlzeiten von Schülern oder die Anzahl krankheitsbezogener Internetrecherchen. Aber auch klinische Datenquellen werden im Sinne einer Syndrom-Überwachung genutzt: So werden die Häufigkeit der Anforderung bestimmter Laboruntersuchungen oder die Diagnosehäufigkeit vordefinierter Diagnosegruppen in Notaufnahmen überwacht [3], [5].

Neben Systemen für einen zeitlich begrenzten Einsatzzweck (z.B. zur Erkennung vorsätzlich verursachter Krankheitsausbrüche während der Olympischen Spiele in Salt Lake City) [6], [7], [8], wurden auch Systeme zur kontinuierlichen Überwachung entwickelt. Um Sensitivität und Spezifität zur verbessern wird die gleichzeitige Auswertung verschiedener Datenquellen (z.B. Verkaufszahlen bestimmter Medikamente und Laborbefunde) angestrebt. Ebenso wird versucht, durch die Integration von Geoinformationssystemen, Verbesserungen zu erzielen [3], [4].

Das Prinzip von Systemen zur Gesundheitsüberwachung besteht meist darin, dass ein Zielereignis dann als vorhanden angenommen wird, wenn ein bestimmter Parameter einen definierten Schwellwert übersteigt. Die Schwierigkeit liegt vielfach in der Wahl dieses Schwellwerts [8], zumal dieser auch saisonalen Veränderungen unterworfen sein kann.

Diskussion

Hauptsächlich in den USA wurde in den vergangenen Jahren intensiv nach neuen Ansätzen zur Gesundheitsüberwachung gesucht. Datenquellen wie Diagnosegruppen in Notfallambulanzen, Medikamentenverkäufe oder krankheitsbedingte Fehlzeiten sollen Ergebnisse zeitnäher als klassischen Quellen (wie etwa Laborbefunde) liefern.

Damit ein System tatsächlich sinnvoll bei der Gesundheitsüberwachung unterstützen kann, muss es verlässlich sein. Dies bedeutet, dass Sensitivität, Spezifität und Reaktionsgeschwindigkeit ermittelt werden müssen – mitunter kein einfaches Unterfangen, da Zielereignisse je nach Fragestellung extrem selten sind.

Selbst wenn durch E-Health-Anwendungen neue, geeignete Datenquellen zur Verfügung stehen, könnte deren Nutzung in Deutschland aus Datenschutzgründen unzulässig sein. Unabhängig von gesetzlichen Vorgaben muss auch die Akzeptanz einer multiplen Verwendung von Gesundheitsdaten in der Bevölkerung berücksichtigt werden – der Begriff „Überwachung“ könnte negative Assoziationen und damit Ablehnung hervorrufen. Eine Voraussetzung für die multiple Verwendung von Gesundheitsdaten zur Gesundheitsüberwachung muss also eine sichere Anonymisierung oder Pseudonymisierung sein.

Das Wissen, welche Anforderungen Systeme zur Gesundheitsüberwachung an Daten- und Datenquellen stellen, sollte in die Gestaltung innovativer E-Health-Anwendungen und entsprechende Standardisierungsbemühungen einfließen. Beispielswiese könnte es nützlich sein, zu (elektronisch) verfügbaren Daten generell Metadaten zu erfassen, welche Rückschlüsse auf die Datenqualität und die multiple Verwendbarkeit zulassen. Die insbesondere in den USA gewonnenen Erkenntnisse zu alternativen Datenquellen könnten auf Fragestellungen außerhalb der Terrorismusabwehr übertragen werden.


Literatur

1.
Marschollek M, Wolf KH, Plischke M, Haux R. Möglichkeiten zur Unterstützung und Begleitung rehabilitativer Prozesse durch automatisierte Bewegungsmessung. Kongress Medizin und Gesellschaft 2007. Augsburg, 17.-21.09.2007. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2007. Doc07gmds621. http://www.egms.de/en/meetings/gmds2007/07gmds621.shtml Externer Link
2.
Valleron AJ, Bouvet E, Garnerin P, Menares J, Heard I, Letrait S and Lefaucheux J. A computer network for the surveillance of communicable diseases: the French experiment. Am J Public Health 1986; 76: 1289-92.
3.
Henning KJ. What is syndromic surveillance? MMWR Morb Mortal Wkly Rep 2004; 53 Suppl : 5-11.
4.
Green MS, Kaufman Z. Surveillance for early detection and monitoring of infectious disease outbreaks associated with bioterrorism. Harefuah 2002; 141 Spec No : 31-3.
5.
Terry W, Ostrowsky B, Huang A. Should we be worried? Investigation of signals generated by an electronic syndromic surveillance system. MMWR Morb Mortal Wkly Rep 2004; 53 Suppl : 190-5.
6.
Gesteland PH, Gardner, RM, Tsui, FC, Espino JU, Rolfs RT, James BC, Chapman WW, Moore AW and Wagner MM. Automated syndromic surveillance for the 2002 Winter Olympics. J Am Med Inform Assoc 2003; 10: 547-54.
7.
Gundlapalli AV, Olson J, Smith SP, Baza M, Hausam RR, Eutropius LJ, Pestotnik SL, Duncan K, Staggers N, Pincetl P and Samore MH. Hospital electronic medical record-based public health surveillance system deployed during the 2002 Winter Olympic Games. Am J Infect Control 2007; 35: 163-71.
8.
Osaka K, Takahashi H, Ohyama T. Testing a symptom-based surveillance system at high-profile gatherings as a preparatory measure for bioterrorism. Epidemiol Infect 2002; 129: 429-34.