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51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (gmds)

10. - 14.09.2006, Leipzig

Inanspruchnahme von Antidepressiva unter Berücksichtigung verschiedener Wirkstoffklassen – Eine Analyse von Routineabrechnungsdaten einer gesetzlichen Krankenversicherung

Meeting Abstract

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  • Holger Gothe - IGES Institut für Gesundheits- und Sozialforschung GmbH, Berlin
  • Timm Volmer - Wyeth Pharma GmbH, Münster
  • Ariane Höer - IGES Institut für Gesundheits- und Sozialforschung GmbH, Berlin
  • Bertram Häussler - IGES Institut für Gesundheits- und Sozialforschung GmbH, Berlin

Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e.V. (gmds). 51. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie. Leipzig, 10.-14.09.2006. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2006. Doc06gmds278

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/gmds2006/06gmds170.shtml

Veröffentlicht: 1. September 2006

© 2006 Gothe et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Gliederung

Text

Einleitung und Fragestellung

Die Versorgung depressiver Patienten ist derzeit sowohl im Hinblick auf die Wirksamkeit der eingesetzten Arzneimittel – insbesondere der modernen Antidepressiva – als auch im Hinblick auf mögliche unerwünschte Wirkungen sowie unter Kosten-Nutzen-Aspekten Gegenstand intensiver und kontroverser Diskussionen [1], [2], [3]. Die bisher vorliegenden Erkenntnisse basieren überwiegend auf randomisierten kontrollierten Studien (RCT), was immer wieder die Frage aufkommen lässt, inwieweit die Ergebnisse auf die „Real Life“-Situation der täglichen Versorgungspraxis übertragbar sind. Routinedaten von Krankenkassen werden ohne Einflüsse von Vorgaben klinischer Studien erhoben und spiegeln daher den Versorgungsalltag sehr gut wider. Dieser Umstand und die Tatsache, dass in den Routineabrechnungsdaten der Krankenkassen eine große Anzahl von Versicherten über lange Zeiträume beobachtbar ist, bieten ideale Voraussetzungen für die Analyse von Inanspruchnahme und Kosten.

Material und Methoden

Es wurde eine retrospektive Kohortenstudie für den Zeitraum von 2001 bis 2003 auf Basis von Routinedaten (Verordnungen, Arbeitsunfähigkeits- und stationären Fällen) einer deutschen gesetzlichen Krankenversicherung mit rund 1,5 Mio. Versicherten durchgeführt. Es wurden Daten von Versicherten einbezogen, die im Beobachtungszeitraum an mindestens 90 aufeinander folgenden Tagen versichert waren und mindestens eine stationäre Maßnahme oder einen Arbeitsunfähigkeitsfall (AU-Fall) mit der Diagnose (Haupt- oder Nebendiagnose) einer Depression (F32* und F33* sowie entsprechende ICD-9-Codes) hatten oder mindestens zwei Verordnungen eines Antidepressivums (ATC-Code N06A*) an zwei verschiedenen Tagen hatten. Verglichen wurden Verläufe nach Verordnung von Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmern (SNRI; nur Venlafaxin), selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) und trizyklischen Antidepressiva (TZA) hinsichtlich der Dauer der kontinuierlichen Therapie (Persistenz), der Häufigkeit von stationären Aufenthalten und der Dauer des Intervalls bis zu stationären Aufenthalten. Für den Vergleich von SNRI vs. SSRI bzw. TZA wurden ausgehend von Index-Ereignissen (Index-Verordnung, Index-Krankenhausfall) Matched-Pairs-Verfahren angewendet.

Ergebnisse

Auf der Basis definierter Ein- und Ausschlussalgorithmen wurden insgesamt n=75.078 Versicherte in die Studienkohorte aufgenommen. Von diesen erfüllten 6.176 Versicherte die Bedingungen für eine definierte Index-Verordnung und 570 Versicherte die Bedingungen für einen definierten Index-Krankenhausfall. Den 171 Versicherten mit der Index-Verordnung eines SNRI sowie den 70 Versicherten mit Verordnung eines SNRI nach dem Index-Krankenhausfall wurde jeweils ein entsprechender Versicherter mit Verordnung eines SSRI und TZA zugeordnet.

Ausgehend von der Index-Verordnung war die Persistenz nach SNRI-Verordnung signifikant höher als nach SSRI oder TZA, bei den meisten Versicherten jedoch sehr kurz. Nach einem Index-Krankenhausfall war die Persistenz mit der Antidepressiva-Therapie deutlich länger, aber es fanden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Wirkstoffgruppen. Die Anzahl von und die Dauer des Intervalls bis zu stationären Fällen wegen Depression nach einer Index-Verordnung bzw. nach einem Index-Krankenhausfall war nach SNRI-Verordnungen nicht signifikant höher bzw. länger als nach SSRI oder TZA.

Hinsichtlich einer Reihe von Merkmalen unterschieden sich Versicherte mit SNRI-Verordnungen von denen mit SSRI- und TZA-Verordnungen: Der Anteil von Männern war geringfügig höher, das mittlere Alter (42,6 Jahre) etwas geringer. Der Anteil der Versicherten, die nicht nur Antidepressiva-Verordnungen erhielten, sondern auch mindestens eine Diagnose anlässlich eines AU- oder stationären Falles aufwiesen, war höher. Ebenfalls höher war die Hospitalisierungsrate wegen Depression vor einer Index-Verordnung.

Die Kostenanalyse zeigte, dass die geschätzten Kosten für vollstationäre und Reha-Aufenthalte mit insgesamt über 41 Mio. Euro (2001 bis 2003) die Gesamtkosten für Antidepressiva mit etwa 18 Mio. Euro erheblich überschritten. Ein Trend für höhere Antidepressiva-Kosten wurde mit zunehmendem Alter, höheren Kosten für vollstationäre Aufenthalte und einer höheren Anzahl von AU-Tagen gefunden.

Diskussion

Angesichts der vorliegenden Resultate kann unterstellt werden, dass sich die Ergebnisse vieler randomisierter kontrollierter Studien der Depressionsbehandlung mit SNRI, SSRI bzw. TZA auch unter Alltagsbedingungen replizieren lassen, auch wenn sich die Patientenpopulationen in der Routineversorgung möglicherweise von jenen unterschieden, die an klinischen Studien teilgenommen haben. Die Persistenz ist – ausgehend von einer Index-Verordnung – nach SNRI-Verordnungen höher als nach SSRI- oder TZA-Verordnungen. Dies kann bedingt sein durch a) eine länger anhaltende Symptomatik, b) höhere „Krankheitseinsicht“ und daraus resultierend bessere Therapietreue nach längerem Verlauf der Depression und kann c) auch ein indirekter Hinweis auf eine akzeptable Rate von Nebenwirkungen oder ein akzeptables Nebenwirkungsprofil sein.

Insgesamt deuten die Ergebnisse an, dass SNRI häufiger bei Depressionen und in geringerem Ausmaß als SSRI oder TZA bei anderen Indikationen eingesetzt werden. Die Andersartigkeit der Versicherten mit SNRI-Verordnungen kann zusammen mit der höheren Persistenz als Anzeichen dafür gewertet werden, dass SNRI trotz Einsatz bei schwereren Verläufen der Depression zu ähnlich guten Behandlungsergebnissen wie SSRI oder TZA führen.


Literatur

1.
NN. Antidepressiva: Lebensgefährliche Plazebos? Arznei-Telegramm. 2005;36:45-6.
2.
Lenzer J. FDA accepts weakened antidepressant warning. BMJ 2005; 330: 620.
3.
Moncrieff J, Kirsch I. Efficacy of antidepressants in adults. BMJ. 2005; 331: 155-7.