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Entscheiden trotz Unsicherheit: 14. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin

Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V.

15.03. - 16.03.2013, Berlin

Rechts(un)sicherheit von Leitlinienherausgebern? Konsequenzen aus dem Fall der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Kreuzschmerz

Meeting Abstract

  • corresponding author presenting/speaker Carmen Khan - Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin, Berlin, Deutschland
  • author Susanne Weinbrenner - Deutsche Rentenversicherung Bund, Berlin, Deutschland
  • author Albrecht Wienke - Rechtsanwaltskanzlei Wienke & Becker, Köln, Deutschland
  • author Susann Conrad - Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin, Berlin, Deutschland
  • author Günter Ollenschläger - Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin, Berlin, Deutschland
  • author Ina Kopp - AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement, Marburg, Deutschland

Entscheiden trotz Unsicherheit. 14. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Berlin, 15.-16.03.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. Doc13ebmB1d

doi: 10.3205/13ebm009, urn:nbn:de:0183-13ebm0097

Veröffentlicht: 11. März 2013

© 2013 Khan et al.
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Gliederung

Text

Zielsetzung: Mit der wachsenden Bedeutung von Leitlinien im Gesundheitswesen werden deren Inhalte zunehmend auch von Herstellern von Medizinprodukten oder Arzneimitteln vor dem Hintergrund möglicher wettbewerblicher Konsequenzen kritisch hinterfragt oder gar der Klageweg beschritten [1], [2], [3]. Aufgrund einer starken Negativempfehlung in der NVL Kreuzschmerz für ein Arzneimittel wurden 2011 die Träger des NVL-Programms Bundesärztekammer, Kassenärztliche Bundesvereinigung und Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften beklagt. Ziel der Projektvorstellung ist es, über aktuelle Entwicklungen der Diskussion von Leitlinien im rechtlichen Kontext zu informieren und Konsequenzen für Leitlinienentwickler am Beispiel des NVL-Prozesses zu erarbeiten.

Methoden: Die Vorwürfe lauteten vor allem mangelhafte Sorgfaltspflicht (Objektivität, Neutralität, Sachkunde), Unzulässigkeit der Empfehlung mit falscher Tatsachengrundlage und wettbewerbs-rechtliche Benachteiligung. Das Landgericht Köln hat die Klage zurückgewiesen [2]; ebenso entschied das Oberlandesgericht Köln bzgl. der Berufung [3]. Die Begründungen bescheinigen, dass es sich bei den kritisierten Leitlinieninhalten nicht um Tatsachenbehauptungen, sondern um Bewertungen und Meinungsäußerungen handelt, die nach Art. 5 Abs.1 und 3 GG geschützt sind. Zu dieser Auffassung kam auch das Landgericht Hamburg in einem ähnlichen Prozess [1]. NVL und andere medizinische Leitlinien entziehen sich auch wegen ihrer wissenschaftlichen Zielsetzungen einer wettbewerbsrechtlichen Beurteilung [4]. Die Justiz hat damit die Freiheit von medizinischer Wissenschaft und Forschung und den ungehinderten wissenschaftlichen Diskurs unter den Beteiligten bekräftigt. Aus den Ausführungen ist aber auch grundsätzlich abzuleiten, dass:

  • Herausgeber von Leitlinien beklagt werden können (Annahme der Passivlegitimation)
  • Einhaltung der Sorgfaltspflicht vorausgesetzt wird (sinngemäße Anwendung der Warentest-Rechtsprechung)
  • unrichtige Tatsachenbehauptungen zu Rechtsverletzungen führen können (Abgrenzung zum Tatbestand einer Kreditgefährdung)

Im Beispielfall bot die NVL-Methodik [5] den notwendigen Schutz. Zusätzliche Hilfen für Leitlinienentwickler sollen diskutiert werden. Ansatzpunkte sind:

  • äußerste Sorgfalt bei der Nennung von Tatsachen („Kernaussagen“ oder „Statements“ zur Wirksamkeit/Unwirksamkeit) nach Kriterien der Evidenzbasierten Medizin
  • bevorzugte Formulierung von Empfehlungen mit abgestufter Wertung – insbesondere bei Unsicherheit (Empfehlungsgrade).

Literatur

1.
LG Hamburg vom 29.3.2010 – 325 O 397/09
2.
LG Köln , Urteil vom 30.11.2011 – 28 O 523/11
3.
OLG Köln, Urteil vom 6.11.2012 - 28 O 523/11. Az.: 15 U 221/11
4.
Wienke A. Medizinische Leitlinien sind wettbewerbsrechtlich nicht justiziabel. GMS Mitt AWMF. 2011;8:Doc30. DOI: 10.3205/awmf000246, URN: urn:nbn:de:0183-awmf0002467 Externer Link
5.
Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemein-schaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Programm für Nationale VersorgungsLeitlinien. Methoden-Report. 4. Auflage. 2010 [cited: 2012 Mär 12]. Available from: http://www.versorgungsleitlinien.de/methodik/pdf/nvl_methode_4.aufl.pdf . DOI: 10.6101/AZQ/000061 Externer Link