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EbM & Individualisierte Medizin
12. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin

Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V.

24.03. - 26.03.2011, Berlin

Wollen wir wirklich immer individualisieren? Es kommt drauf an

Meeting Abstract

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  • corresponding author Norbert Donner-Banzhoff - Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin, Philipps-Universität Marburg, Deutschland

EbM & Individualisierte Medizin. 12. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Berlin, 24.-26.03.2011. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2011. Doc11ebm04

doi: 10.3205/11ebm04, urn:nbn:de:0183-11ebm048

Veröffentlicht: 23. März 2011

© 2011 Donner-Banzhoff.
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Gliederung

Text

Der Diskussion um die individualisierte Medizin (IM) liegen zwei grundsätzliche Fehler zu Grunde, die sich aus einer therapeutischen Entscheidung ergeben können: Patienten zu behandeln, bei denen keine Indikation vorliegt (hier: Fehler I. Art), oder Patienten nicht zu behandeln, die von einer Behandlung profitieren würden (Fehler II. Art). IM kann als das Bemühen definiert werden, diese Fehler zu minimieren.

In meinem Vortrag behandele ich typische Behandlungssituationen, diskutiere die Schwere der o.g. Fehler und Möglichkeiten, diese zu verhindern. Dabei benutze ich das Konzept der „Reue“ (Regret, Chagrin), die sich aus Fehlentscheidungen ergibt. In das Gefühl der „Reue“ fließen Wertvorstellungen und Emotionen ein, die sich u.a. mit dem Model von Djulbegovitch und Kollegen quantifizieren lassen [1].

Als Beispiel für eine Public Health Maßnahme lässt sich die Trinkwasser-Fluoridierung aufführen. Praktisch Jeder ist von Karies betroffen, für die wenigen Nicht-Betroffenen ist die „Behandlung“ weder mit Schaden noch Aufwand verbunden. Allerdings besteht auch kaum eine Möglichkeit, sich dieser Behandlung zu entziehen.

Die Polypill (Kombination niedrigdosierter gefäßwirksamer Pharmaka) für jeden Bürger ab 55 Jahre steht für das Paradigma Massenbehandlung. Hier ist eine individuelle Entscheidung (Behandlung ja/nein) möglich. Die Reue ist größer, wenn diese Behandlung unterlassen wird, als wenn sie allen zuteil wird.

Kardiovaskuläre Risikoscores (individuelle Risikoadaptation) erheben den Anspruch, hier eine sinnvolle Differenzierung zu schaffen. Beim Einsatz beispielsweise der Framingham-Formel ergibt sich allerdings immer noch ein höheres Maß an Reue als bei der Behandlung der gesamten Bevölkerung über 55 Jahre. Die Rechtfertigung für den Einsatz dieser Entscheidungshilfen ergibt sich deshalb wohl eher aus den individuellen Präferenzen der betroffenen Personen.

Grundsätzlich lässt sich die Heterogenität von Behandlungseffekten in vier Dimensionen definieren [2]: 1) Prognose unabhängig von der Behandlung; 2) Reaktion auf die Behandlung; 3) Nebenwirkungen der Behandlung; 4) individuelle Präferenzen.

In der Herz-Kreislauf-Prävention zielt eine individuelle Risikostratifizierung darauf, entsprechend 1) Personen mit niedrigem Risiko (z.B. junge Frau ohne manifeste Arteriosklerose) von solchem mit hohem Risiko (z.B. älterer Diabetiker) zu trennen. Die relative Risikoreduktion variiert hier nicht, wohl aber die absolute Risikoreduktion wirksamer Interventionen.

Individualisiert wird ganz traditionell bei einer symptomorientierten Behandlung, z.B. bei Schmerz oder der Angina pectoris. Dass dies in Zusammenhang mit der IM nie erwähnt wird, macht die Technologie-Lastigkeit dieser Welle deutlich.

Bei krankheitsmodifizierender Behandlung, z. B. Basistherapeutika der rheumatoiden Arthritis, können die o.g. Fehler vor allem durch präzisere Diagnosestellung verhindert werden.

Es gibt „alte Biomarker“, die seit Jahrzehnten zur Indikationsstellung und Dosierung etabliert sind, z.B. den Blutdruck oder das glykolysierte Hämoglobin bei Diabetikern. Diese sind als „downstream“-Marker zu verstehen, die zusammenfassende Informationen über individuelle Compliance, Dosis, Pharmakokinetik und –dynamik liefern. Neue Biomarker dagegen beziehen sich auf sehr spezifische „upstream“ Charakteristika (z.B. genetische Marker zur Pharmakokinetik). Damit stellt sich die Frage, welchen pragmatischen Wert sie in der Versorgung haben. Die bisherigen Erfahrungen mit genetischen Markern für eine bessere Einstellung mit oralen Antikoagulantion legen nahe, dass dieser pragmatische Wert nicht ohne Weiteres angenommen werden darf, sondern vielmehr in entsprechenden Studien nachgewiesen werden muss.

In der Hämatologie-Onkologie haben wir es mit schweren Erkrankungen, aber auch hoch-invasiven Therapien (Chemotherapie, Knochenmarks-Transplantation) zu tun. Hier wiegen Fehlentscheidungen besonders schwer. Wirksame Biomarker, die tatsächlich eine Effektmodifikation anzeigen, würden hier tatsächlich die Reue gegenüber den globalen Strategien der Nicht-Behandlung bzw. der Behandlung Aller reduzieren. Dabei steht die Heterogenität in der Reaktion auf die Behandlung (siehe oben 2) im Vordergrund (unterschiedliche relative Risikoreduktion bei definierten Patientengruppen); allerdings werden auch prognostische Faktoren untersucht (siehe 1), um etwa Behandlungsintensitäten entsprechend anzupassen.

Schlussfolgerung: Aus den oben dargestellten typischen Situationen ergibt sich, dass eine Individualisierung als Behandlungsprinzip nicht grundsätzlich anzustreben ist. Ihr Wert hängt vom Problem (Erkrankung), dem Nutzen und den Kosten/Risiken i.w.S. der Behandlung, aber auch von der Wirksamkeit von und dem Aufwand für differenzierende Strategien ab.

Die heute propagierte IM ist technologielastig; dem Individuum als Person dient sie nicht zwangsläufig. In der Definition wie auch in Zusammenhang mit relevanten Wertvorstellungen und Emotionen („Reue“) ist die heute modisch gewordene IM so schwach abgegrenzt, dass wir auf diesen Begriff verzichten sollten.


Literatur

1.
Tsalatsanis A, et al. A regret theory approach to decision curve analysis: A novel method for eliciting decision makers' preferences and decision-making. BMC Med Inform & Dec Making. 2010;10:51.
2.
Kravitz RL, et al. Evidence-Based Medicine, Heterrogeneity of Treatment Effects, and the Trouble with Averages. Mil Q. 2004;82:661-87.