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12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung

Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e. V.

23. - 25. Oktober 2013, Berlin

Symptomisierungsprozesse und Diagnoseverzögerungen beim Ovarialkarzinom: Die Sicht der Betroffenen

Meeting Abstract

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  • presenting/speaker Susanne Brandner - Berlin School of Public Health, Berlin, Germany

12. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung. Berlin, 23.-25.10.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocT4-13-89

doi: 10.3205/13dkvf094, urn:nbn:de:0183-13dkvf0942

Veröffentlicht: 25. Oktober 2013

© 2013 Brandner.
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Gliederung

Text

Hintergrund: Das Ovarialkarzinom ist die gynäkologische Krebserkrankung mit der höchsten Mortalität in Deutschland. Etwa 8000 Frauen erkranken pro Jahr neu, etwa 70% davon werden erst in fortgeschrittenen Stadien, mit 5-Jahres-Überlebensraten von nur 25%, diagnostiziert.

Aus medizinischer Sicht erfolgt die späte Diagnosestellung in erster Linie aufgrund fehlender bzw. unspezifischer Frühsymptome und daraus resultierender patientinnen- und versorgerabhängiger Diagnoseverzögerungen.

Vor diesem Hintergrund wird seit Juli 2011 ein Forschungsprojekt zu Krankheitsvorstellungen und -erfahrungen von Ovarialkarzinombetroffenen durchgeführt. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen dabei die prädiagnostischen Entwicklungen und Ereignisse, wie sie sich aus Sicht der Betroffenen darstellen. Die Ebene der Symptome wird nicht im Sinne einer selbstverständlich gegebenen, unhinterfragten Dimension der Erkrankung, wie häufig in medizinischen Settings üblich, bewertet. Stattdessen steht die Symptomebene selbst, mit ihren vielfältigen Voraussetzungen, Darstellungsformen und Bedeutungen, im Fokus.

Ziel des Projekts ist es, ein erweitertes Verständnis des prädiagnostischen Prozesses beim Ovarialkarzinom zu erlangen und damit Diagnoseverzögerungen besser zu verstehen.

Methodik: Das Projekt basiert methodisch auf den Prinzipien der Grounded Theory nach Strauss und Corbin; die Datenerhebung erfolgt retrospektiv mittels semi-strukturierter qualitativer Interviews mit Ovari-alkarzinombetroffenen. Die Studienteilnehmerinnen werden mittels einer kombinierten Samplingstrategie (theoretisches und selektives Sampling) in unterschiedlichen medizinischen und nichtmedizinischen Settings rekrutiert.

Basierend auf 42 Interviews stellt der Vortrag die Frage nach den Transformationen körperlicher Veränderungen und Empfindungen in ein medizinisch definiertes Symptom und deren Bedeutung für Diagnoseverzögerungen beim Ovarialkarzinom. Der Begriff der Symptomisierung (symptomization (Risor (2011): 22 [1]), bildet dabei die zentrale theoretische Analysekategorie. Er beschreibt wie, warum und unter welchen Bedingungen bestimmte körperliche Veränderungen und Empfindungen zu medizinisch definierten Symptomen einer spezifischen Erkrankung werden.

Ergebnisse: Die Symptomisierung einer körperlichen Veränderung stellt sich aus Sicht der Befragten als voraus-setzungsreicher, non-linearer und dynamischer Prozess dar. Körperliche Veränderungen werden durch Plausibilisierungs- und Priorisierungsstrategien, die untrennbar mit den lebensweltlichen und biografischen Erfahrungen der Betroffenen verknüpft sind, zunächst normalisiert. Beispiele für diese Strategien sind die Kommunikation mit Angehörigen des sozialen Netzwerks, die Attribuierung körperlicher Veränderungen auf belastende lebensweltliche Erfahrungen oder den eigenen (alternden) Körper sowie die Notwendigkeit soziale Verpflichtungen des Alltags aufrechtzuerhalten. Alle führen dazu, dass die Betroffenen zunächst keine medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Der weitere Verlauf dieses Prozesses ist durch Entwicklungen gekennzeichnet, die das Versagen von Normalisierungsstrategien beinhalten; die Symptomisierung endet schließlich mit der medizinischen Interpretation körperlicher Veränderungen als Krankheitssymptome.

Diskussion/Schlussfolgerung: Aus der Analyse der Symptomisierungsprozesse kann gefolgert werden, dass ein Symptom, zumindest im Falle des Ovarialkarzinoms und aus Sicht der Betroffenen, nicht ausschließlich ein biologisch-medizinisches Phänomen ist, das in einem linearen Prozess von ersten physiologischen und biochemischen Veränderungen über die Symptomwahrnehmung ins medizinische Setting führt. Vielmehr gehen einem medizinisch definierten Symptom des Ovarialkarzinoms komplexe Geschehnisse voraus, welche die Transformation einer körperlichen Veränderung in ein medizinisch definiertes Symptom, also den Prozess der Symptomisierung, umfassen. Körperliche Veränderungen beinhalten damit immer eine Vielzahl potentieller Deutungsmöglichkeiten, die relational zu dem Kontext, in dem sie wahrgenommen werden, zu sehen sind. Dieses erweiterte Verständnis des Symptombegriffs um den Symptomisierungsprozess stellt die theoretische Voraussetzung dar, Diagnoseverzögerungen beim Ovarialkarzinom umfassender zu verstehen und hieraus verbesserte Maßnahmen der sekundären Prävention abzuleiten.


Literatur

1.
Risor M. The process of symptomization. Clinical encounters with functional disorders. In: Fainzang S, Haxaire C, eds. Of bodies and symptoms. Anthropological perspectives on their social and medical treatment. Tarragona: Publicacions URV; 2011. p. 21-37.
2.
Strauss A, Corbin J. Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Beltz: Weinheim; 1996.