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30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

20.09. - 22.09.2013, Bochum

Progrediente Schwerhörigkeit bei homozygoter Deletion im GJB2-Gen (Connexin-26) trotz unauffälligem Neugeborenen-Hörscreening

Vortrag

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  • author presenting/speaker Nicola Prera - Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Poliklinik, Plastische Operationen, Freiburg, Deutschland
  • corresponding author Erwin Löhle - Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Poliklinik, Plastische Operationen, Sektion Phoniatrie und Pädaudiologie, Freiburg, Deutschland
  • author Ralf Birkenhäger - Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Poliklinik, Plastische Operationen, Freiburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 30. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bochum, 20.-22.09.2013. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2013. DocV41

doi: 10.3205/13dgpp83, urn:nbn:de:0183-13dgpp839

Veröffentlicht: 5. September 2013

© 2013 Prera et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Ein nicht-syndromaler isolierter Hörverlust ist der häufigste angeborene Defekt bei Neugeborenen. Etwa eines von 500–1000 Neugeborenen ist bereits bei der Geburt oder in den ersten beiden Lebensjahren von einer hochgradigen Hörstörung bestoffen. In der Hälfte der Fälle liegen genetische Ursachen vor. Wiederum die Hälfte der prälingualen nicht-syndromalen Hörstörungen sind durch Mutationen im Gap-Junction-Protein Connexin-26 (GJB2-Gen) zu erklären. Die häufigste Mutation ist die Deletion c.35delG; diese hat einen kompletten Funktionsverlust des Connexin-26 zur Folge.

Material und Methoden: In dem von uns untersuchten Patientenkollektiv finden sich 142 Patienten mit einer homozygoten Deletionsmutation im Connexin-26 (c.35delG) sowie 29 Patienten, die diese Mutation heterozygot tragen gemeinsam mit einer weiteren Funktionsverlustmutation.

Ergebnisse: Von diesen wiesen jedoch 16 (9 %) ein unauffälliges Neugeborenen-Hörscreening mittels Otoakustischen Emissionen (OAE) auf. Insgesamt ließ sich bei 37 dieser Patienten (22 %) eine Progredienz der Hörstörung beobachten.

Diskussion: Diese Tatsache lässt vermuten, dass die homozygote Deletionsmutation des Connexin-26 (c.35delG) nicht zwingend eine kongenitale Hörstörung zur Folge hat, sondern dass sich diese auch erst in den ersten Lebensmonaten bzw. -jahren entwickeln kann. Die molekularen Ursachen sind bisher noch nicht ausreichend verstanden. Es wird diskutiert, dass sogenannte Modifier-Gene an der unterschiedlichen phänotypischen Ausprägung bei identischem Genotyp beteiligt sind.

Außerdem muss auf dieser Grundlage der Progredienz der Hörstörungen die Wertigkeit der Otoakustischen Emissionen (OAE) für das Neugeborenen-Hörscreening reevaluiert werden. Wir empfehlen jährliche Hörkontrollen beim Kinderarzt und bei bekannter familiärer Schwerhörigkeit und anderen Risikofaktoren pädaudiologische Kontrollen.


Text

Hintergrund

Die Beeinträchtigung des Hörvermögens ist die häufigste sensorineurale Erkrankung des Menschen. Von einer hochgradigen bis schweren Hörstörung sind etwa 1–3 von 1000 Neugeborenen bei der Geburt oder in den ersten Lebensjahren betroffen. Genetische Veränderungen sind in etwa der Hälfte der Fälle die Ursache der prälingualen Hörstörung. Bei den genetischen Veränderungen werden syndromale von nicht-syndromalen Hörstörungen unterschieden. Unter den vererbten Hörstörungen finden sich zu 70% nicht-syndromale Fälle, wiederum 80% von diesen folgen einem autosomal-rezessiven Erbgang, etwa 2% liegen X-chromosomal oder mitochondrial assoziiert vor [1]. Bei der Identifizierung und Charakterisierung von Genen, die an der Ausbildung von Hörstörungen beteiligt sind, wurden in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt. Es wurde dabei deutlich, dass es sich um eine sehr heterogene Erkrankung handelt. Für nicht-syndromale Hörstörungen sind bis zum jetzigen Zeitpunkt 167 Genorte beschrieben worden. Bisher konnten 67 Gene identifiziert und charakterisiert werden [2]. Umso erstaunlicher ist es, dass trotz dieser Heterogenität 50% der prälingualen nicht-syndromalen Hörstörungen auf Mutationen im GJB2-Gen (Connexin-26) zurückzuführen sind. Die häufigste Mutation ist die Deletion c.35delG; diese hat einen kompletten Funktionsverlust des Connexin-26 zur Folge. Das GJB2-Gen kodiert für das „gap junction“-Protein Connexin-26. Jeweils sechs von diesen Molekülen (Connexine) bilden einen Molekülkomplex, ein Connexon. Die Connexone sind in der Zellmembran lokalisiert. Durch die Interaktion von Connexonen benachbarter Zellen ist niedermolekularer Substanzaustausch möglich von Kaliumionen oder Metaboliten<1kDa. Durch Connexone wird die Kalium-Homöostase im Innenohr aufrechterhalten, da sie die Sekretion von Kaliumionen in die Endolymphe ermöglichen [3].

Material und Methoden

Alle Patienten zeigten im Verlauf eine hochgradige bis an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit, die eine ein- oder beidseitige Cochlear-Implantation erforderlich machte. DNA wurde aus Adenoiden bzw. Vollblut isoliert mittels Standardtechniken. Die DNA-Amplifikation und Sequenzierung erfolgte wie bereits beschrieben [4].

Ergebnisse

In dem von uns untersuchten Patientenkollektiv finden sich 142 Patienten mit einer homozygoten Deletionsmutation im Connexin-26 (c.35delG) sowie 29 Patienten, die diese Mutation heterozygot tragen gemeinsam mit einer weiteren Funktionsverlustmutation. Von diesen 142 Patienten wiesen jedoch 16 (9 %) ein unauffälliges Neugeborenen-Hörscreening mittels Otoakustischen Emissionen (OAE) auf. Insgesamt ließ sich bei 37 dieser Patienten (22 %) eine Progredienz der Hörstörung beobachten. Nahezu alle der 142 Patienten erhielten eine ein- oder beidseitige Cochlear-Implant-Versorgung.

Diskussion

Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass die homozygote Deletionsmutation des Connexin-26 (c.35delG) nicht zwingend eine kongenitale Hörstörung zur Folge hat, sondern, dass sich diese auch erst in den ersten Lebensmonaten bzw. -jahren entwickeln kann. Verschiedene Arbeitsgruppen kamen zu ähnlichen Ergebnissen, nämlich dass ein Teil der Patienten mit dem homozygoten Gendefekt c.del35G beim Neugeborenen- Hörscreening unauffällige Befunde aufwiesen [5], [6], [7], [8].

Die molekularen Ursachen sind bisher noch nicht ausreichend verstanden. Es wird diskutiert, dass sogenannte Modifier-Gene an der unterschiedlichen phänotypischen Ausprägung bei identischem Genotyp beteiligt sind. Außerdem muss auf dieser Grundlage der Progredienz der Hörstörungen die Wertigkeit der Otoakustischen Emissionen (OAE) für das Neugeborenen-Hörscreening reevaluiert werden.

Fazit

Wir empfehlen jährliche Hörkontrollen beim Kinderarzt und bei bekannter familiärer Schwerhörigkeit und anderen Risikofaktoren pädaudiologische Kontrollen.


Literatur

1.
Birkenhäger R, Aschendorff A, Schipper J, Laszig R. Nicht-syndromale hereditäre Schwerhörigkeiten [Non-syndromic hereditary hearing impairment]. Laryngorhinootologie. 2007 Apr;86(4):299-309; quiz 310-3. DOI: 10.1055/s-2007-966309 Externer Link
2.
van Camp G, Smith RJ. Available from: http://hereditaryhearingloss.org [accessed Sep. 2012] Externer Link
3.
Lautermann J, ten Cate WJ, Altenhoff P, Grümmer R, Traub O, Frank H, Jahnke K, Winterhager E. Expression of the gap-junction connexins 26 and 30 in the rat cochlea. Cell Tissue Res. 1998 Dec;294(3):415-20.
4.
Birkenhäger R, Zimmer AJ, Maier W, Schipper J. Pseudodominanz zweier rezessiver Connexin-Mutationen bei nicht-syndromaler Hörstörung [Pseudodominants of two recessive connexin mutations in non-syndromic sensorineural hearing loss?]. Laryngorhinootologie. 2006 Mar;85(3):191-6. DOI: 10.1055/s-2005-870302 Externer Link
5.
Cryns K, Orzan E, Murgia A, Huygen PL, Moreno F, del Castillo I, Chamberlin GP, Azaiez H, Prasad S, Cucci RA, Leonardi E, Snoeckx RL, Govaerts PJ, Van de Heyning PH, Van de Heyning CM, Smith RJ, Van Camp G. A genotype-phenotype correlation for GJB2 (connexin 26) deafness. J Med Genet. 2004 Mar;41(3):147-54.
6.
Snoeckx RL, Huygen PL, Feldmann D, Marlin S, Denoyelle F, Waligora J, Mueller-Malesinska M, Pollak A, Ploski R, Murgia A, Orzan E, Castorina P, Ambrosetti U, Nowakowska-Szyrwinska E, Bal J, Wiszniewski W, Janecke AR, Nekahm-Heis D, Seeman P, Bendova O, Kenna MA, Frangulov A, Rehm HL, Tekin M, Incesulu A, Dahl HH, du Sart D, Jenkins L, Lucas D, Bitner-Glindzicz M, Avraham KB, Brownstein Z, del Castillo I, Moreno F, Blin N, Pfister M, Sziklai I, Toth T, Kelley PM, Cohn ES, Van Maldergem L, Hilbert P, Roux AF, Mondain M, Hoefsloot LH, Cremers CW, Löppönen T, Löppönen H, Parving A, Gronskov K, Schrijver I, Roberson J, Gualandi F, Martini A, Lina-Granade G, Pallares-Ruiz N, Correia C, Fialho G, Cryns K, Hilgert N, Van de Heyning P, Nishimura CJ, Smith RJ, Van Camp G. GJB2 mutations and degree of hearing loss: a multicenter study. Am J Hum Genet. 2005 Dec;77(6):945-57. DOI: 10.1086/497996 Externer Link
7.
Marlin S, Feldmann D, Blons H, Loundon N, Rouillon I, Albert S, Chauvin P, Garabédian EN, Couderc R, Odent S, Joannard A, Schmerber S, Delobel B, Leman J, Journel H, Catros H, Lemarechal C, Dollfus H, Eliot MM, Delaunoy JL, David A, Calais C, Drouin-Garraud V, Obstoy MF, Goizet C, Duriez F, Fellmann F, Hélias J, Vigneron J, Montaut B, Matin-Coignard D, Faivre L, Baumann C, Lewin P, Petit C, Denoyelle F. GJB2 and GJB6 mutations: genotypic and phenotypic correlations in a large cohort of hearing-impaired patients. Arch Otolaryngol Head Neck Surg. 2005 Jun;131(6):481-7. DOI: 10.1001/archotol.131.6.481 Externer Link
8.
Cryns K, Orzan E, Murgia A, Huygen PL, Moreno F, del Castillo I, Chamberlin GP, Azaiez H, Prasad S, Cucci RA, Leonardi E, Snoeckx RL, Govaerts PJ, Van de Heyning PH, Van de Heyning CM, Smith RJ, Van Camp G. A genotype-phenotype correlation for GJB2 (connexin 26) deafness. J Med Genet. 2004 Mar;41(3):147-54.