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29. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

21.09. - 23.09.2012, Bonn

Kognitive Prozesse des Satzverstehens bei erwachsenen CI-Trägern

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Anja Hahne - SCIC, HNO-Uniklinikum Dresden, Dresden, Deutschland
  • author Angelika Wolf - SCIC, HNO-Uniklinikum Dresden, Dresden, Deutschland; Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, Dresden/Leipzig, Deutschland
  • author Angela Friederici - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig, Deutschland
  • author Dirk Mürbe - HNO-Uniklinikum Dresden, SCIC, Dresden, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 29. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bonn, 21.-23.09.2012. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2012. Doc12dgppV43

doi: 10.3205/12dgpp79, urn:nbn:de:0183-12dgpp790

Veröffentlicht: 6. September 2012

© 2012 Hahne et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Vielen Cochlea-Implantat-Patienten gelingt nach einer Rehabilitationsphase ein freies Sprachverstehen. Die vorliegende Studie untersucht, ob sich die zugrunde liegenden Prozesse dieses freien Sprachverstehens bei erfolgreichen CI-Trägern von denen Normalhörender unterscheiden.

Material und Methoden: In einem Experiment wurden CI-Patienten mit gutem freien Sprachverstehen und parallelisierten Kontrollprobanden vier Typen von Sätzen im Freifeld präsentiert, während parallel ein EEG abgeleitet wurde. Die Sätze endeten entweder mit (1) einem korrekten und stark erwarteten Wort, (2) einem korrekten Wort ohne starke Erwartung, (3) einem Wort, welches semantisch falsch war oder (4) eine Argumentstrukturverletzung des Verbs aufwies.

Ergebnisse: Im evozierten Hirnpotential zeigte sich in beiden Gruppen für das letzte Wort des Satzes im Vergleich zu (1) in allen Bedingungen ein N400-Effekt, d.h. der Potentialverlauf war für die Bedingungen (2)–(4) negativer als für Bedingung (1). In der CI-Gruppe war der N400-Effekt im Vergleich zur Kontrollgruppe zeitlich prolongiert. In der Argumentstruktur-Bedingung (4) gab es jedoch einen qualitativen Unterschied zwischen den Gruppen: Während für die Kontrollgruppe – wie in der Literatur üblicherweise berichtet – dem N400-Effekt eine späte Positivierung folgte, war in der CI-Gruppe kein entsprechender Positivierungseffekt messbar.

Diskussion: Während der N400-Effekt mit semantischen Verarbeitungsprozessen korreliert, wird der P600-Effekt mit syntaktischen Korrekturprozessen in Verbindung gebracht. Die Tatsache, dass bei CI-Patienten in der Argumentstrukturverarbeitung nur der semantische, nicht jedoch der syntaktische Effekt beobachtbar war, lässt darauf schließen, dass bei der Verarbeitung von Sätzen der Fokus auf Inhaltsinformation gelegt wird und syntaktische Korrekturprozesse nachgeordnet sind. Syntaktische Verarbeitungprozesse scheinen daher anfälliger für alterierte Inputbedingungen zu sein als semantische Prozesse.


Text

Einleitung und Hintergrund

Wenngleich die rezeptiven Leistungen von Patienten mit Cochlea-Implantat durch eine große Variabilität charakterisiert sind, so erreichen heutzutage viele Patienten nach einer Rehabilitationsphase ein freies Sprachverstehen. Es ist bisher jedoch noch wenig untersucht worden, ob die zugrundeliegenden Verarbeitungsprozesse mit denen bei Normalhörenden vergleichbar sind oder ob aufgrund der reduzierten Inputqualität teilweise andere Sprachverstehensmechanismen greifen. In der vorliegenden Studie wurden sprachrelatierte Komponenten im evozierten Potential (N400, P600) genutzt, um dieser Frage nachzugehen.

Material und Methoden

In einem Experiment wurden 13 unilateral versorgte, erwachsene CI-Patienten mit gutem freien Sprachverstehen (Freiburger Einsilbertest >70%) sowie Kontrollprobanden, die hinsichtlich Alter, Geschlecht und Bildungsniveau gematcht waren, untersucht. Das mittlere Alter der Patienten bei Implantation lag bei 50 Jahren (33–62 Jahre). Die Patienten trugen ihr CI seit durchschnittlich 26 Monaten (8–66 Monate).

Es wurden vier Typen von Sätzen im Freifeld präsentiert, die bereits bei einer studentischen Probandengruppe untersucht worden waren [1]. Die Sätze endeten entweder mit (1) einem korrekten und stark erwarteten Wort (Der Tisch wurde gedeckt.), (2) einem korrekten Wort ohne starke Erwartung (Der Bruder wurde geimpft.), (3) einem Wort, welches semantisch falsch war (*Der Ozean wurde gestrickt.) oder (4) eine Argumentstrukturverletzung des Verbs aufwies (*Der Hund wurde gebellt.). Die Sätze wurden über Lautsprecher in pseudo-randomisierter Reihenfolge präsentiert. Die Probanden hatten die Aufgabe, die Korrektheit der Sätze zu beurteilen.

Während der Satzpräsentation über Lautsprecher wurde das EEG kontinuierlich mit 250 Hz Abtastrate abgeleitet. Als Referenz diente die Ableitung des dem CI gegenüberliegenden Mastoids. Die EEG Signale wurden offline auf Artefakte untersucht. Trials mit eindeutigen Blinks wurden korrigiert. Artefaktfreie und von den Patienten korrekt beurteilte Trials wurden relativ zu einer 200 ms prästimulus-Baseline für einen Zeitraum von 1500 ms ab Beginn der Präsentation des Verbs, welches in den Bedingungen (3) und (4) die Inkorrektheit des Satzes markierte gemittelt. Zur Prüfung des N400-Effektes wurden die gemittelten Amplitudenwerte in den Zeitfenstern 300–700 ms und 700–900 ms analysiert. Der P600-Effekt wurde für das Zeitfenster 900–1200 ms berechnet.

Ergebnisse

Die CI-Patienten machten insgesamt wenig Fehler in der Beurteilungsaufgabe (5,7%–11,7%), lagen jedoch signifikant über den Fehlerraten der Kontrollgruppe (0.5%–2.0%). Im evozierten Hirnpotential zeigte sich in beiden Gruppen für das letzte Wort des Satzes im Vergleich zu (1) in allen Bedingungen ein N400-Effekt, d.h. der Potentialverlauf war für die Bedingungen (2)–(4) negativer als für Bedingung (1). In der CI-Gruppe war der N400-Effekt im Vergleich zur Kontrollgruppe zeitlich prolongiert. In der Argumentstruktur-Bedingung (4) gab es jedoch einen qualitativen Unterschied zwischen den Gruppen: Während für die Kontrollgruppe – wie in der Literatur üblicherweise berichtet – dem N400-Effekt eine späte Positivierung folgte, war in der CI-Gruppe kein entsprechender Positivierungseffekt messbar (vgl. Abbildung 1 [Abb. 1]).

Diskussion

Während der N400-Effekt mit semantischen Verarbeitungsprozessen korreliert, wird der P600-Effekt mit syntaktischen Korrekturprozessen in Verbindung gebracht. Die Tatsache, dass bei CI-Patienten in der Argumentstrukturverarbeitung nur der semantische, nicht jedoch der syntaktische Effekt beobachtbar war, lässt darauf schließen, dass bei der Verarbeitung von Sätzen der Fokus auf Inhaltsinformation gelegt wird und syntaktische Korrekturprozesse nachgeordnet sind. Syntaktische Verarbeitungprozesse scheinen daher anfälliger für alterierte Inputbedingungen zu sein als semantische Prozesse. Insgesamt zeigt die Studie, dass späte ereigniskorrelierte Potentiale geeignet sind, die spezifischen Charakteristika der auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen beteiligten Verarbeitungsprozesse bei Hörgeschädigten im Vergleich zu Normalhörenden zu analysieren.

Anmerkung

Ein ausführlicher Bericht der vorliegenden Studie erscheint unter dem Titel „Sentence comprehension in proficient adult cochlear implant users: on the vulnerability of syntax“ in einem Sonderband der Zeitschrift „Language and Cognitive Processes“ zum Thema „Speech Recognition in Adverse Conditions“.


Literatur

1.
Rösler F, Friederici P, Pütz A, Hahne A. Event-related brain potentials while encountering semantic and syntactic constraint violations. J Cogn Neurosci. 1993;5(3):345-62. DOI: 10.1162/jocn.1993.5.3.345 Externer Link