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29. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

21.09. - 23.09.2012, Bonn

Evaluation eines Verfahrens zur Erfassung orofazialer Dysfunktionen im Kindesalter

Poster

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 29. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Bonn, 21.-23.09.2012. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2012. Doc12dgppP30

doi: 10.3205/12dgpp66, urn:nbn:de:0183-12dgpp661

Veröffentlicht: 6. September 2012

© 2012 Pollex-Fischer et al.
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Zusammenfassung

Hintergrund: Unter orofacialen Dysfunktionen (OFD) werden verschiedene Fehlfunktionen der Lippen, der Zunge, der Wangen und des Kiefers mit Schluck- und Sprechstörung zusammengefasst. Ziel unserer Untersuchung war es, die Testgütekriterien Durchführungs- und Auswertungsobjektivität auf ein klinisches Verfahren zur Erfassung orofacialer Dysfunktionen anzuwenden und zu überprüfen.

Material und Methoden: Grundlage der o.g. Gütekriterien ist einerseits die einheitliche Durchführung der Diagnostik entsprechend eines Manuals und andererseits ein hohes Maß an Übereinstimmung der Bewertungen unterschiedlicher UntersucherInnen. Auf der Basis einer retrospektiven Auswertung von 327 Befundbögen (standardisiert erhoben und dokumentiert), wurden die verbalen Beschreibungen der Funktionsprüfungsitems für Lippen und Zunge von drei Personen unabhängig voneinander in Punktwerte überführt. Anschließend wurde der Übereinstimmungskoeffizient der Auswerterurteile für jedes einzelne Item berechnet.

Ergebnisse: Bei der Kodierung verbaler Beschreibungen in Punktwerte lag der Übereinstimmungskoeffizient Ü für die Prüfitems der Lippen zwischen .96 und .99, für die der Zunge sogar zwischen .97 und 1.0. Es zeigte sich, dass die vierfach gestufte Skala mit entsprechenden Kategorien zur differenzierten und objektiven Beschreibung von Lippen- und Zungenbewegungen in der orofazialen Diagnostik sehr gut geeignet ist. Da es sich um kriteriumsbezogene Fähigkeitsmessung handelt, bei der die individuelle Leistung mit dem Kriterium (hier: definierte Bewegungsausführung) verglichen wird, lässt sich die individuelle Kompetenz des Patienten einstufen.

Diskussion: Der von uns verwendete Untersuchungsbogen zeigt hinsichtlich seiner Durchführung und Auswertung der Lippen-Zungen-Funktionsprüfung ein sehr hohes Maß an Objektivität. Kriterienbezogen können mit dem vorgestellten Verfahren orofaziale Dysfunktionen identifiziert werden. Die Überprüfung von Validität und Reliabilität sind geplant.


Text

Einleitung und Hintergrund

Unter orofacialen Dysfunktionen (OFD) werden verschiedene Fehlfunktionen im stomatognathen System zusammengefasst. Sie gehen einher mit Veränderungen des Aussehens, der Haltung und der Beweglichkeit von Lippen, Zunge, Wangen und Kiefer. Sie haben Einfluss auf die Atmung, das Kauen und Schlucken sowie die Artikulation [1]. Die Untersuchungsmethoden und Kriterien, nach denen Fehlfunktionen im orofacialen Bereich als auffällig eingestuft werden, sind nicht einheitlich und subjektiv, da objektive Messmethoden, standardisierte Untersuchungsverfahren und Vergleiche mit einem gesunden Kollektiv meist fehlen. So gibt es bezüglich der logopädischen Urteile eine große Variabilität in Bezug auf die Zungenfunktionsprüfung [2]. Ziel unserer Untersuchung war es, die Testgütekriterien Durchführungs- und Auswertungsobjektivität auf ein klinisches Verfahren zur Erfassung orofacialer Dysfunktionen anzuwenden und zu überprüfen. Damit soll eine erste Grundlage für die evidenzbasierte Diagnostik in diesem interdisziplinären Arbeitsfeld geschaffen werden.

Material und Methoden

Grundlage der oben genannten Gütekriterien ist einerseits die einheitliche Durchführung der Diagnostik entsprechend eines Manuals und andererseits ein hohes Maß an Übereinstimmung der Bewertungen unterschiedlicher UntersucherInnen. Der Ablauf und die Dokumentation der Diagnostik bei Verdacht auf OFD in unserer Klinik sind standardisiert. Es wurden zunächst alle geprüften Zielbewegungen von Lippen und Zunge sowie die möglichen Abweichungen differenziert beschrieben und Punktwerten zwischen 0 und 3 zugeordnet (0 = Bewegung nicht ausführbar/ nicht möglich; 1 = gelingt nur mit taktil-kinästhetischen Hilfen oder mit starken Abweichungen, 2 = gelingt mit leichten Abweichungen, 3 = Bewegung vollständig und korrekt ohne Hilfen möglich). Drei Personen (2 Logopädinnen, 1 Fachärztin Phoniatrie Pädaudiologie) kodierten unabhängig voneinander 30 Befundbögen. Anschließend wurde der Übereinstimmungskoeffizient für jedes Item nach folgenden Gleichungen berechnet: siehe Abbildung 1 [Abb. 1].

Bei sehr hohem Übereinstimmungskoeffizienten wurden retrospektiv 327 Befundbögen kodiert (N gültig = 327, 111 Mädchen, 216 Jungen, n=11 in der Altersgruppe bis 3;11 Jahre, n=47 von 4;0 bis 5;11 Jahre, n=88 von 6;0 bis 7;11 Jahre, n=65 von 8;0 bis 9;11 Jahre, n=116 von 10;0 und älter).

Ergebnisse

Bei der Kodierung verbaler Beschreibungen in Punktwerte lag der Übereinstimmungskoeffizient Ü für die Prüfitems der Lippen zwischen .96 und .99, für die der Zunge sogar zwischen .97 und 1.0. Es zeigte sich, dass die vierfach gestufte Skala mit entsprechenden Kategorien zur differenzierten und objektiven Beschreibung von Lippen- und Zungenbewegungen in der orofazialen Diagnostik sehr gut geeignet ist. Da es sich um kriteriumsbezogene Fähigkeitsmessung handelt, bei der die individuelle Leistung mit dem Kriterium (hier: definierte Bewegungsausführung) verglichen wird, lässt sich die individuelle Kompetenz des Patienten in „nicht“, „leicht“, „stark eingeschränkt“ beziehungsweise „aufgehoben“ einstufen.

Diskussion und Fazit

Die Deutsche Gesellschaft der Kieferorthopäden fordert eine Standardisierung der funktionellen Basisuntersuchung und Dokumentation bei OFD [3]. Der von uns verwendete Untersuchungsbogen zeigt hinsichtlich der Lippen-Zungen-Funktionsprüfung ein sehr hohes Maß an Durchführungs- und Auswertungsobjektivität. Kriterienbezogen können mit dem vorgestellten Verfahren differenzierte Aussagen über die Güte der Lippen- und Zungenbeweglichkeit getroffen werden. Der Transfer der verbalen Beschreibung von Bewegungen entsprechend dem Manual in Punktwerte ermöglicht, dass verschiedene Anwender (z.B. Logopäden, Phoniater und Kieferorthopäden) zu vergleichbaren Ergebnissen kommen. Auch Veränderungen durch Therapien können so objektiv identifiziert und, entsprechend der Forderungen der ASHA [4], Interventionen individuell angepasst werden. Wünschenswert ist, dass auch die anderen für eine OFD-Diagnose relevanten Funktionen (Kauen, Schlucken, orale Stereognose) in ähnlicher Weise objektiviert und die anderen Testgütekriterien überprüft werden.


Literatur

1.
Felício CM, Ferreira CL. Protocol of orofacial myofunctional evaluation with scores. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2008 Mar;72(3):367-75. DOI: 10.1016/j.ijporl.2007.11.012 Externer Link
2.
Mehnert J, Landau H, Orawa H, Kittel A, Krause M, Engel S, Jost-Brinkmann PG, Müller-Hartwich R. Validity and reliability of logopedic assessments of tongue function. J Orofac Orthop. 2009 Nov;70(6):468-84. DOI: 10.1007/s00056-009-0906-y Externer Link
3.
Deutsche Gesellschaft der Kieferorthopäden DGKFO. Stellungnahme: Diagnostik und Therapie orofazialer Dysfunktionen, Stand Januar 2008.
4.
American Speech-Language-Hearing Association (ASHA). Childhood apraxia of speech. Position Statement. 2007.
5.
Fisseni H-J. Lehrbuch der psychologischen Diagnostik. 3. überarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen, Hogrefe. 2004. S. 85-98.