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26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

11.09. - 13.09.2009, Leipzig

Das Kindersprachscreening (KiSS) – ein Verfahren zur Sprachstandserfassung vierjähriger Kinder

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Katrin Neumann - Schwerpunkt für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universität Frankfurt am Main, Deutschland
  • Inge Holler-Zittlau - Schwerpunkt für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universität Frankfurt am Main, Deutschland
  • Ulrike Sick - Schwerpunkt für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universität Frankfurt am Main, Deutschland
  • Yevgen Zaretsky - Schwerpunkt für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universität Frankfurt am Main, Deutschland
  • Harald A. Euler - Schwerpunkt für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universität Frankfurt am Main, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 11.-13.09.2009. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2009. Doc09dgppV35

doi: 10.3205/09dgpp51, urn:nbn:de:0183-09dgpp511

Veröffentlicht: 7. September 2009

© 2009 Neumann et al.
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Zusammenfassung

Einleitung: Zur Feststellung von Sprachförder- oder -therapiebedarf eignet sich ein Sprachscreening, sofern es eine ausreichende Validität aufweist und über streng algorithmische Kriterien zur Auffälligkeitsklassifizierung verfügt.

Material und Methode: Für eine hessenweite Erfassung der vorschulischen Sprachkompetenz wurde das psychometrisch geprüfte Kindersprachscreening (KiSS) entwickelt. 257 Kinder im Alter von 4;0 bis 4;5 Jahren wurden mit einer Testbatterie auf ihren Sprachstand überprüft. 222 von ihnen wurden ein Jahr später noch einmal einer ausführlichen Sprachdiagostik unterzogen. An 248 Kindern wurden zudem Untertests zur Überprüfung des phonologischen Arbeitsgedächtnisses validiert.

Ergebnisse: Die Kennwerte des KiSS korrelierten hoch mit denen zweier existierender Sprachscreenings (SSV und HASE) und einem Kennwert aus vier gängigen diagnostischen Sprachtests.

Diskussion: Das Verfahren verfügt über eine hohe konkurrente Kriteriums- und Konstruktvalidität und eine gute Sensitivität und Spezifität. Es eignet sich als flächendeckendes Sprachscreening.


Text

Einleitung und Hintergrund

Die Beherrschung der Verkehrssprache ist eine Schlüsselkompetenz für den Schriftspracherwerb, und die Sprachfähigkeit im Vorschulalter ist ein Prädiktor für schulische Leistungen und beruflichen Erfolg. Die PISA-Studie 2000 bescheinigte 15-jährigen deutschen Schülern eine ländervergleichend unterdurchschnittliche Lesekompetenz. Zudem war die Streuung der Lesefähigkeit die höchste unter allen teilnehmenden Ländern. Auch wenn die PISA-Ergebnisse 2003 besser ausfielen, blieb die Streuung alarmierend hoch. Um bis zur Einschulung ausreichend Kompetenzen in der Verkehrssprache Deutsch entwickeln zu können, benötigen ca. ein Drittel aller Kinder entweder eine sprachtherapeutische Förderung oder eine Sprachtherapie. Zur Festestellung von Förder- und Therapiebedarf eignet sich ein Sprachscreening, sofern es eine ausreichende Validität aufweist und über streng algorithmische Kriterien zur Auffälligkeitsklassifizierung verfügt. Die deutschen Bundesländer haben Handlungsbedarf in der Entwicklung entsprechender Sprachstandserfassungsverfahren und Sprachförderkonzepte gesehen. Auch die hessische Landesregierung fördert seit 2006 die Konzeption und Einführung einer flächendeckenden Sprachstandserfassung in den Kindertageseinrichtungen. Dafür sollte ein Instrument für vier- bis viereinhalbjährige Kinder entwickelt werden, das von Erzieher(inne)n (Zur besseren Lesbarkeit wird nur eine Geschlechtsform verwendet; gemeint sind immer beide.) in den Kindertagesstätten, supervidiert von Sprachtherapeutinnen, durchführt werden sollte und zwischen (1) sprachlich unauffälligen, (2) sprachförderbedürftigen (= „sprachpädagogisch auffällig“, z. B. bei sozial schwachem oder Migrationshintergrund) und (3) klinisch abklärungs- und ev. behandlungsbedürftigen (= „klinisch auffällig“, bei vermuteten Sprachentwicklungs-, Redefluss- und Stimmstörungen) Kindern unterscheiden sollte [1].

Material und Methode

Das psychometrisch geprüfte Screeningverfahren (Kindersprachscreening; KiSS) wurde auf Basis des Marburger Sprach-Screenings entwickelt. 257 Kinder im Alter von 4;0 bis 4;5 Jahren wurden mit einer Testbatterie aus vier gängigen Tests einzelner Sprachkompetenzen (Reynell III, Patholinguistische Diagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen, PLAKSS, AWST-R) und zwei validen Sprachscreenings (SSV und HASE) auf ihren Sprachstand überprüft. 222 von ihnen wurden ein Jahr später noch einmal einer ausführlichen Sprachdiagnostik unterzogen. Nach der Validierung des Verfahrens [2] erfolgte 2008/2009 eine Optimierung des Tests an 248 Kindern. Insbesondere wurden zwei Untertests zum phonologischen Arbeitsgedächtnis einbezogen, da von ihnen eine hohe prädiktive Validität für den Schriftspracherwerb zu erwarten ist [3].

Ergebnisse

Die Kennwerte des KiSS korrelierten hoch mit den beiden konkurrenten Sprachscreenings und mit einem Kennwert aus den vier Referenztests. Die Konstruktvalidität des KiSS wurde dadurch belegt, dass (1) Kinder mit Deutsch als Familiensprache höhere Testwerte hatten als Kinder mit einer anderen Familiensprache (Abbildung 1 [Abb. 1]) und (2) die 3 Monate älteren Kindern höhere Testwerte hatten als die entsprechend jüngeren Kinder (Abbildung 2 [Abb. 2]).

Für die Konfundierung der im KiSS insgesamt Auffälligen (sprachpädagogisch oder klinisch) mit dem Expertenurteil zu Sprachentwicklungs-, Redefluss- und Stimmstörungen zusammen bei vorgegebener Grundrate (prävalenzbasierte Rate zu erwartender Auffälliger) auf Basis der vier Referenztests waren die Sensitivität 88%, die Spezifität 78%, für Sprachentwicklungsstörungen allein 84% und 75%. Die Spezifitäten erhöhten sich auf 93% und 92%, wenn statt der Gesamtauffälligkeit im KiSS die jeweiligen Störungsbilder (Sprachentwicklungsstörungen allein oder kombiniert mit Redefluss- und Stimmstörungen) zugrunde gelegt wurden [2].

Mit dem optimierten Verfahren bestand für 18,8% der ausgewerteten Kinder ein medizinischer Abklärungsbedarf, und zwar für 14,8% bei Verdacht auf eine Sprachentwicklungsstörung (14,0% muttersprachlich deutsche und 15,6% Kinder mit Migrationshintergrund), für 2,7% bei Verdacht auf eine Redeflussstörung und für 2,8% bei Verdacht auf eine Stimmstörung. Als sprachförderbedürftig erwiesen sich 33,3% der Kinder (18,8% muttersprachlich deutsche und 47,2% Kinder mit Migrationshintergrund).

Diskussion

Das KiSS verfügt über eine hohe konkurrente Kriteriums- und Konstruktvalidität und eine gute Sensitivität und Spezifität. Es eignet sich daher als flächendeckendes Sprachscreening für vier- bis viereinhalbjährige Kinder. Die Unterscheidung zwischen sprachpädagogischer Förder- und klinischer Abklärungsbedürftigkeit erwies sich als verbesserungsbedürftig, weshalb die o.g. Optimierung vorgenommen wurde. Die Validierung des optimierten Verfahrens läuft derzeit. Da die Konkordanz der Sprachexpertinnen bei der Beurteilung sprachlicher Auffälligkeiten nur mäßig war, scheint die Entwicklung eines deutschsprachigen umfassenden Referenztests für Sprachentwicklungsstörungen mit evidenzbasierten algorithmischen Entscheidungsregeln vonnöten.

* Diese Studie wird vom Hessischen Sozialministerium gefördert.


Literatur

1.
Euler HA, Holler-Zittlau I, van Minnen S, Sick U, Dux W, Neumann K. Kindersprachscreening (KiSS). Das hessische Verfahren zur Feststellung des Sprachstandes 4-jähriger Kinder. Manuskript eingereicht.
2.
Neumann K, Sick U, Holler-Zittlau I, van Minnen S, Euler HA. Katzengoldstandards in der Sprachstandserfassung. Sensitivität-Spezifität des Kindersprachscreenings (KiSS). Manuskript eingereicht.
3.
Hasselhorn M, Grube D. Das Arbeitsgedächtnis. Funktionsweise, Entwicklung und Bedeutung für kognitive Leistungsstörungen. Sprache - Stimme - Gehör 2003;27:31-7.