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26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

11.09. - 13.09.2009, Leipzig

Zuverlässigkeit subjektiver audiologischer Verfahren in der Diagnostik auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen

Vortrag

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  • corresponding author presenting/speaker Peter Matulat - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland
  • author Antoinette am Zehnhoff-Dinnesen - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 26. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (DGPP). Leipzig, 11.-13.09.2009. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2009. Doc09dgppV14

doi: 10.3205/09dgpp22, urn:nbn:de:0183-09dgpp221

Veröffentlicht: 7. September 2009

© 2009 Matulat et al.
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Zusammenfassung

Bei der tagesklinischen Diagnostik auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen werden am Universitätsklinikum Münster auffällige Befunde in den subjektiven audiologischen Tests zeitnah kontrolliert. Dabei fiel auf, dass sich die klinische Bewertung der zuvor auffälligen Befunde in vielen Fällen relativierte.

Retrospektiv wurde die Zuverlässigkeit subjektiver audiologischer Verfahren (Sprachverständnistests im Störschall, Binaural Intelligibility Level Difference Test (B.I.L.D.), Dichotische Hörtests, Regiometrie, Gap-Detection-Test) an Hand der Untersuchungsdaten von 833 Kindern berechnet (Cronbach's Alpha, bei dichotomen Items Kuder-Richardson-Formel 20). Dabei zeigt sich, dass die Zuverlässigkeit der Verfahren bei einem auffälligen Erstbefund (N=17 bis N=103) mit Retestreliabilitäten zwischen r=0.17 und r=0.63 gering bis mäßig ist.

In einer prospektiven Studie zum Einfluss anamnestischer Befunde auf die (geringe) Reliabilität eines B.I.L.D.-Tests [5] wurde – neben dem Alter – der Hinweis auf eine „sensorische Integrationsstörung“ (Ergotherapie) als der wesentlich die Reliablilität negativ beinflussende Faktor identifiziert. Da anzunehmen ist, dass dieser auch für die geringe Retestreliabilität der o.g. Verfahren mitverantwortlich sein könnte, sollte er bei der Bewertung von Befunden berücksichtigt werden.


Text

Einleitung

Bei der tagesklinischen Diagnostik auditiver Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen werden in der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Münster auffällige Befunde in den subjektiven audiologischen Tests zeitnah kontrolliert. Dabei fiel auf, dass sich die klinische Bewertung der zuvor auffälligen Befunde in vielen Fällen relativierte. Dies deutet auf eine geringe Messgenauigkeit (Reliabilität) der verwendeten audiologischen Verfahren bei Testwiederholungen hin. Vor allem in der Individualdiagnostik ist eine sehr gute Reliabilität im Sinne von Freiheit von zufälligen Messfehlern zu fordern, um – zunächst einmal unabhängig von der Frage nach der Validität des eingesetzten Verfahrens – belastbare diagnostische Ergebnisse zu erhalten.

Material und Methoden

Reliabilität ist ein statistisch beurteilbares Kriterium, welches im Rahmen der klassischen Testtheorie als (Varianz-) Verhältnis zwischen den messfehlerfreien, idealen, sog. „wahren“ Werten und den vom Testverfahren gelieferten und mit zufälligen Fehlern behafteten Messwerten beschrieben wird und Werte zwischen 0 und 1 (ideal) annehmen kann. Da die „wahren“ Werte einer Person nie beobachtet werden können, wird in der Praxis das gesuchte Varianzverhältnis geschätzt. Eines der bekanntesten Schätzverfahren ist die Messung der Wiederholungsgenaugigkeit (Retestreliabilität) durch zweimaliges Messen. Unter der Annahme, dass die „wahren“ Werte des Untersuchten und die Einflüsse von Messfehlern sich zwischen den beiden Testdurchführungen nicht geändert haben, entspricht die Korrelation der beiden Messungen (rtt) dem gesuchten Varianzverhältnis.

Ausgehend von 833 Kinder einer Inanpruchnahmepopulation unserer Klinik mit V.a. eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) wurden retrospektiv die Untersuchungsdaten von je nach Gruppe 17 bis 81 Kindern mit einem auffälligen Erstbefund in einem der verwendeten subjektiven audiologischen Testverfahren in die Studie einbezogen.

Dabei ergaben sich folgende Untersuchungsgruppen (Tabelle 1 [Tab. 1]).

Die Testwiederholungsgenauigkeiten (rtt) des Münsteraner Sprachverständnistests im Störschall, des Binaural Intelligibility Level Difference Test nach Esser, des OLKI im Störschall in der Regensburger Variante, der Dichotischen Hörtests nach Feldmann und Uttenweiler, der Regiometrie und des Gap-Detection-Test nach Matulat wurden mit Hilfe des Moduls Reliabilitätsanalyse [2] des Statistikprogramms SPPS 15 berechnet

Ergebnisse

Tabelle 2 [Tab. 2] zeigt die Testergebnisse im Überblick.

Da einzelne Testverfahren in der Durchführung mehrere Messwerte liefern, z.B. für unterschiedliche Ohrseiten oder unterschiedliche Lautstärkeverhältnisse, ergeben sich bei der Berechnung u.U. mehrere Reliabilitätswerte pro Test, deren Größe in der Tabelle 2 [Tab. 2] als Bereiche angegeben sind.

Diskussion

Obwohl es kein allgemeinverbindliches Maß für die Beurteilung der Höhe des Reliabilitätsmasses gibt, sind hohe Reliabilitätswerte von 0,5<rtt<0,9 in jedem Fall erwünscht [3].

Die in der Untersuchung ermittelten Reliabilitätskoeffizienten zwischen rtt=0,17 und rtt =0,63 zwischen den beiden Testdurchführungen sind als ausgesprochen niedrig und für einen Test als unzureichend einzustufen.

Das Problem unzuverlässiger Tests besteht darin, dass mit abnehmender Reliabilität (und natürlich auch Validität) der hypothetische Charakter der Testergebnisse zunimmt und andere Absicherungen der Ergebnisse immer wichtiger werden. So sind Tests mit mäßigen oder sogar niedrigen Koeffizienten nicht in jedem Fall unbrauchbar [4]. Es kommt jedoch auf den Verwendungszweck und die Funktion an, die sie in einer bestimmten Strategie haben [1]. Testverfahren mit relativ schwacher Zuverlässigkeit können im Rahmen einer Testbatterie durchaus ihre Berechtigung haben.

Während die Split-Half-Reliabilität, ein anderes Maß für die Zuverlässigkeit von Testverfahren, vor allem Fehler widerspiegelt, die im Test selbst zu suchen sind, beinhaltet die Retestreliabilität vermehrt Variabilitäten, die in der Versuchsperson liegen.

Da die Testdurchführungen sowie die Retests durch unterschiedliche Audiometristen in zufälliger durch den Klinikalltag bestimmter Reihenfolge zu unterschiedlichen Zeiten und in variabler Reihenfolge der Testabläufe erfolgte, scheiden diese Faktoren unserer Ansicht nach als Ursachen der geringen Retestreliabilität aus. Vielmehr nehmen wir an, dass in den Kindern liegende Faktoren die Variabilität der Testergebnisse beeinflussen. Vor allem Variablen mit bekannter oder vermuteter Wirkung auf die Aufmerksamkeit und Konzentration kommen dabei naturgemäß als erste in den Fokus der Betrachtung.

In einer prospektiven Studie zum Einfluss biographischer und anamnestischer Befunde auf die (geringe) Reliabilität eines B.I.L.D.-Tests [5] in der Inanspruchnahmepopulation bei V.a. AVWS wurden jedoch nicht nur die Aufmerksamkeit und Konzentration, sondern – neben dem Alter – auch der Hinweis auf eine „sensorische Integrationsstörung“ (Ergotherapie) als die Reliabilität negativ beinflussende Faktoren identifiziert. Wir nehmen deshalb an, dass diese Faktoren auch für die geringe Retestreliabilität der o.g. Verfahren mitverantwortlich sein könnten. Deshalb sollten anamnestische Hinweise auf diese Vorbefunde bei der Einschätzung von subjektiven audiologischen Befunden bei Kindern mit V.a. eine AVWS berücksichtigt werden.


Literatur

1.
Brickenkamp R. Handbuch psychologischer und pädagogischer Tests. Göttingen; 2002.
2.
Bühl A, Zöfel P. SPSS Version 9. München: Addison Wesley Verlag; 2000. p. 337-46.
3.
Grubitzsch S, Rexilius G. Testtheorie -Testpraxis. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag; 1978.
4.
Lienert GA. Testaufbau und Testanalyse. Weinheim - Berlin - Basel: Verlag Julius Beltz: 1989.
5.
Matulat P, Lamprecht-Dinnesen A. Der Binaural Intelligibility Level Difference Test (B.I.L.D.-Test) im Focus testtheoretischer und testanalytischer Betrachtungen. In: Gross M, Kruse E. Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2002/2003 (Band 10). Median Verlag; 2002. p. 318-21.