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25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12.09. - 14.09.2008, Düsseldorf

Schriftspracherwerb nach Cochlea Implantation

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Anja Fiori - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, UKM, Münster, Deutschland
  • author Karen Reichmuth - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, UKM, Münster, Deutschland
  • author Peter Matulat - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, UKM, Münster, Deutschland
  • author Antoinette am Zehnhoff-Dinnesen - Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, UKM, Münster, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Düsseldorf, 12.-14.09.2008. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2008. Doc08dgppV37

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2008/08dgpp48.shtml

Veröffentlicht: 27. August 2008

© 2008 Fiori et al.
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Zusammenfassung

Die Schriftsprachentwicklung hörgeschädigter Kinder ist oft beeinträchtigt, wird jedoch in der Evaluation der Sprachentwicklung nach CI selten berücksichtigt. Welche Rolle Vorläuferfunktionen wie die phonologische Bewusstheit, auditives/visuelles Kurzzeitgedächtnis und aktiver Wortschatz beim Schriftspracherwerb dieser Kinder spielen ist noch unklar. Wir untersuchen 21 monolingual deutsche CI-Kinder vom Vorschulalter bis zur 2. Klasse längsschnittlich. Alle Kinder wurden vor Ende des 4. LJ implantiert und besuchen Regelschulen (4) oder Förderschulen (17). Zu 3 Untersuchungszeitpunkten (Zeitpunkt 3 im Juni 08) erfolgt die Dokumentation des Lese- und Schreiberwerbs unter zusätzlicher Berücksichtigung der o.g. Vorläuferfunktionen anhand standardisierter, normierter Testverfahren. 16 Probanden zeigten schon bei der Erstuntersuchung grundlegende Kompetenzen der phonologischen Bewusstheit. Lesen und Schreiben variierten von rudimentären Kenntnissen bis hin zu altersadäquaten Leistungen in der Erstuntersuchung. Quantitative Leistungsverbesserungen zeigten sich in 12 Fällen, in 6 kam es qualitativ zu subtilen Fortschritten. 8 Probanden zeigten konstant unterdurchschnittliche Wortschatztestleistungen. Statistische Zusammenhänge zwischen Lesen/Schreiben und den Vorläuferfunktionen bestehen nicht, dabei ist bemerkenswert, dass trotz vorhandener phonologischer Kompetenzen in dieser Gruppe kein kausaler Zusammenhang mit der Lese- und Rechtschreibentwicklung zu bestehen scheint.


Text

Einleitung

Angesichts der Schwierigkeiten vieler Hörbehinderter, einen Zugang zur Schriftsprache zu finden, wird international eine Verbesserung des Förderangebots auf der Grundlage detaillierten Wissens zu kognitiven und sprachlichen Prädiktoren des Schriftspracherwerbs gefordert [10], [13]. Dies lässt sich auf einen Teil der CI-Kinder übertragen [5], [8], [4].

Entsprechend findet die systematische Erfassung der schriftsprachlichen Kompetenzen und ihrer Voraussetzungen bei CI-Kindern international zunehmenden Anklang. Noch sind allerdings gezielte Studien zur Überprüfung des Schriftspracherwerbs nach CI in der internationalen Literatur selten und die in unserer Pilotstudie [2] erprobte modellorientierte Herangehensweise stellt, bezogen auf CI-Kinder, ein Novum dar.

In der hier präsentierten Längsschnittstudie wird die Fragestellung nach bevorzugten Strategien der Schriftsprachverarbeitung und Zusammenhängen mit den Vorläuferfunktionen Wortschatz, phonologische Bewusstheit und Merkspanne bei CI-Kindern anhand der Untersuchung eines größeren Kollektivs mit strengeren Einschlusskriterien, vertieft und spezifiziert. Schwerpunkt der Präsentation ist die Betrachtung der Zusammenhänge zwischen phonologischer Bewusstheit, Wortschatz und der Lese- und Schreibentwicklung.

Patienten und Material

Die Untersuchungsgruppe umfasste 21 Probanden (6 Mädchen, 15 Jungen). Zur Beschreibung der Untersuchungsgruppe vgl. Abbildung 1 [Abb. 1] und Abbildung 2 [Abb. 2].

Die Kinder wurden anhand der folgenden Tests untersucht:

  • Überprüfung des Wortschatzes anhand des aktiven Wortschatztests für 3–5-jährige Kinder (AWST-R [6])
  • Phonologische Bewusstheit:
    • a) Gruppentest zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten (PB-LRS [1])
    • b) Basiskompetenzen für Lese- und Rechtschreibleistungen (BAKO 1–4 [16]) für Kinder, die unter a) Deckenwerte erreichen
  • Lesen: Salzburger Lesetest [7]
  • Schreiben: Hamburger Schreibprobe [11]
  • Alternativ für Kinder, bei denen ein standardisierter Lese- oder Rechtschreibtest noch nicht durchführbar war, Buchstabendiktat und Lesetafel zur Überprüfung des Grapheminventars

Methoden

Es handelt sich um eine prospektive verlaufsdiagnostische Studie. Die Kinder wurden in Jahresabständen zu drei Zeitpunkten untersucht.

Bzgl. normalhörender Kinder sind die positiven Zusammenhänge zwischen Wortschatz, phonologischer Bewusstheit und Schriftspracherwerb weitgehend anerkannt [3], [9], [12], [15], [14]. Entsprechend erwarten wir vergleichbare Korrelationen bei den CI-Kindern.

Ergebnisse

Bei Betrachtung der vorläufigen Ergebnisse zu den ersten beiden Untersuchungszeitpunkten zeigt sich erneut ein extrem heterogenes Bild. Bzgl. der Wortschatzentwicklung streuten die Leistungen am weitesten mit unterdurchschnittlichen Ergebnissen (T-Wert <40, bezogen auf das Höralter mit CI) bei 7 Kindern und überdurchschnittlichen Leistungen (T-Wert >60, bezogen auf das Höralter) bei 5 Kindern. Bezüglich der phonologischen Bewusstheit erreichten 6 Kinder beim ersten Untersuchungszeitpunkt bereits Deckenwerte im PB-LRS (4 Kinder zeigten hier unterdurchschnittliche Leistungen). 3 der 12 Schulkinder (2x Klasse 1, 1x Klasse 2) und (erwartungsgemäß) alle 9 Vorschulkinder wiesen zu den ersten beiden Untersuchungszeitpunkten unvollständige Grapheminventare auf, so dass noch keine standardisierten Lese- und Rechtschreibtests durchgeführt werden konnten. Zu den Ergebnissen in den Lese- und Rechtschreibtests vgl. Tabelle 1 [Tab. 1] und Tabelle 2 [Tab. 2].

Tendenziell schneiden die CI-Kinder bzgl. der Lesegenauigkeit schlechter ab als bzgl. des Lesetempos und machen mehr alphabetische als orthographische Schreibfehler. Beides lässt sich als Tendenz zur Bevorzugung der lexikalischen Verarbeitungsstrategie interpretieren.

Erste statistische Analysen zeigen, dass für die ersten beiden Messzeitpunkte keiner der erwarteten Zusammenhänge zwischen Wortschatz, Phonologie und Schriftsprache Signifikanzniveau erreicht.

Diskussion

Auch bei strengeren Einschlusskriterien und einer größeren Stichprobe als in der zitierten Pilotstudie müssen wir uns erneut der Realität einer sehr heterogenen Untersuchungsgruppe stellen. Zumindest ein Teil der untersuchten Kinder bedarf der gezielten Förderung im Schriftsprachbereich, die nur aufgrund der Ermittlung individueller Leistungsprofile ermöglicht werden kann. Die Tatsache, dass die erwarteten Zusammenhänge zwischen Wortschatz, Phonologie und schriftsprachlichen Leistungen nicht bestätigt werden konnten, unterstreicht noch einmal die Notwendigkeit eines individualisierten Vorgehens. Zumindest für einen Teil der untersuchten Kinder lässt sich festhalten, dass sie durchaus vorhandene Fertigkeiten in den klassischen Vorläuferfunktionen für Schriftsprache offenbar nicht optimal nutzen. Alternative Erklärungsmodelle sind hier vonnöten.


Literatur

1.
Barth K, Gomm B. Gruppentest zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. Phonologische Bewusstheit bei Kindergartenkindern und Schulanfängern (PB-LRS). München: Reinhardt; 2004.
2.
Fiori A, Reichmuth K, Matulat P, Schmidt CM, Dinnesen AG. Vorschläge zur modellgeleiteten Erhebung der Schriftsprachkompetenzen bei Schulkindern nach Cochlea Implantation - eine Pilotstudie. Laryngorhinootologie. 2006;85:489-95.
3.
Frost J, et al. Semantic and phonological skills in predicting reading development: from 3-16 years of age. Dyslexia. 2005;11(2):79-92.
4.
Geers AE. Predictors of reading skill development in children with early cochlear implantation. Ear Hear. 2003;24 (1st suppl.):59-68.
5.
Hummer P, Leyrer M, Lagler K, Albegger K. Zur Entwicklung der Lesekompetenz bei Kindern mit CI. Otolaryngol Nova. 2002-03;12:181-217.
6.
Kiese-Himmel C. Aktiver Wortschatztest für 3-5-Jährige Kinder - Revision. Weinheim: Beltz; 2005.
7.
Landerl K, Wimmer H, Moser E. SLRT. Salzburger Lese- und Rechtschreibtest. Verfahren zur Differentialdiagnose von Störungen des Lesens und Schreibens für die 1. bis 4. Schulstufe. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Verlag Hans Huber; 1997.
8.
Leyrer M. Zur Schulsituation von Kindern mit einem Cochlear Implantat. Z Audiol. 2002;41(3/4):90-2.
9.
Lundberg I. The Child´s Route into Reading and What Can Go Wrong. Dyslexia. 2002;8:1-13.
10.
Marshark M. Literacy in Deaf Children: About more than Literacy? Vortrag beim International Congress on the Education of the Deaf, Masstricht 2005.
11.
May P. Die Hamburger Schreibprobe. VPM, Hamburg; 2000.
12.
Scarborough H. Early identification of children at risk for reading disabilities: Phonological awareness and some other promising predictors. In: Shapiro BK, Accardo PJ, Capute AJ, editors. Specific reading disability: A view of the spectrum. Timonium, MD: York Press; 1998. p. 75-119.
13.
Schirmer BR. Literacy Development of Deaf Readers and Writers: What is the Scientific News? Vortrag beim International Congress on the Education of the Deaf, Maastricht 2005.
14.
Schneider W, Näslund JC. The impact of early metalinguistic competencies and memory capacity on reading and spelling in elementary school: Results of the Munich longitudinal study on the genesis of individual competencies (LOGIC). Eur J Psychol Educ. 1993: 273-87.
15.
Skowronek H, Marx H. Die Bielefelder Längsschnittstudie zur Früherkennung von Risiken der Lese- und Rechtschreibschwäche. Theoretischer Hintergrund und erste Befunde. Heilpadagog Forsch. 1989;15:38-49.
16.
Stock C, Marx P, Schneider W. BAKO 1-4. Basiskompetenzen für Lese-Rechtschreibleistungen. Ein Test zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit vom ersten bis vierten Grundschuljahr. Göttingen: Beltz Test; 2003.