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25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

12.09. - 14.09.2008, Düsseldorf

Hörmerkspanne für mehrsilbige Wörter im Kindesalter

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Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 25. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Düsseldorf, 12.-14.09.2008. Düsseldorf: German Medical Science GMS Publishing House; 2008. Doc08dgppP09

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2008/08dgpp41.shtml

Veröffentlicht: 27. August 2008

© 2008 Reeh et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Theoretischer Hintergrund: Eine reduzierte verbale Hörmerkspanne (HMS) ist ein möglicher Grund für Sprachentwicklungsstörungen. Die HMS wird mit verschiedenen Merkinhalten geprüft, u.a. 1-silbigen Inhaltswörtern. Anliegen der Studie war es, sie mit Mehrsilbern zu prüfen.

Methode: Die Untersuchungen wurden mit einem experimentell-informellen Instrument bestehend aus Wortreihen (WR) mit 2-, 3-, 4-, 5-Silbern (jeweils 4 WR von 2 bis 5 semantisch unverbundenen Wörtern ansteigend) in Regelkindergärten und in der Phoniatrie/Pädaudiologie Göttingen durchgeführt. Studienkollektiv: 38 Kinder im Alter von 3;10 bis 10;4 Jahren mit Sprachentwicklungs- und/oder Artikulationsstörungen (n=18; mittl. LA: 65,6; SD 17,9 Monate) und 20 sprachgesunde Kinder (mittl. LA: 68,2; SD 14,2 Monate).

Ergebnisse: Ein Wortlängeneffekt lag bei allen Kindern vor; die Zahl der behaltenen WR nahm mit ansteigender Silbenlänge ab: 2-Silber 2,3 (SD 0,8), 3-Silber 1,7 (SD 0,6), 4-Silber 1,0 (SD 0,9), 5-Silber 0,5 (0,7 SD). Die HMS sprach- und/oder artikulationsgestörter Kinder unterschied sich bei 2-, 3-, 4-Silbern nicht signifikant von der der sprachgesunden, erst bei 5-Silbern. Ein Alterseffekt war bei sprachgesunden Kindern zu Gunsten der älteren Kinder gegeben (ausgenommen 4-Silber).

Schlussfolgerung: Nicht nur Veränderungen in der Sprechgeschwindigkeit mit zunehmendem Lebensalter („artikulatorische Schleife“) erklären den Anstieg in der HMS, sondern auch die Artikulationsfähigkeit ist ein wichtiger Faktor.


Text

Einleitung

Leistungen des phonologischen Arbeitsgedächtnisses werden über Maße der Hörmerkspanne erfasst.

Das Arbeitsgedächtnis-Modell von Baddeley und Hitch [1] unterscheidet in der verbo-akustischen Modalität eine „zentrale Exekutive“ sowie das unselbständige Subsystem „phonologische Schleife“, das aus einer passiven Speicherinstanz (phonetischer Speicher) und dem aktiven subvokalen Rehearsalprozess besteht. Bei der Speicherung ist die Kapazität des phonetischen Speichers – sie liegt bei 5–8 Elementen – der limitierende Faktor. Die Kapazität der zentralen Exekutive – sie kontrolliert, reguliert und koordiniert die Subsysteme – ist begrenzt, die gleichzeitige Ausführung mehrerer Aufgaben nur eingeschränkt möglich. Auch die phonologische Schleife kann nur einen bestimmten Umfang im artikulatorischen Code speichern und um die aufgenommene Information aufrecht zu erhalten wird ein subvokaler Rehearsalprozess i.S. eines inneren Sprechens eingesetzt.

Belege für die Existenz des sprachspezifischen Speichersubsystems sind der phonologische Ähnlichkeitseffekt (mehr Fehler bei ähnlich klingenden Lauten), die artikulatorische Unterdrückung (geringere verbale Speicherleistung wenn parallel zum Lerninhalt Wörter, Silben oder Laute ausgesprochen werden müssen), der Effekt irrelevanter Sprache (akustisch dargebotene verbale Information stört die Reproduktion visuell dargebotener verbaler Information) und der Wortlängeneffekt. Er beschreibt das Phänomen, dass die kurzzeitige Behaltensleistung von der Wortlänge bzw. dem innerem Nachsprechen abhängig ist. Kurze Wörter (Einsilber) werden besser memoriert, weil sie schneller artikuliert werden können als lange [2].

Anliegen der Pilotstudie war es, die Hörmerkspanne mit Mehrsilbern im Gruppenvergleich zu prüfen.

Methode

Zur Untersuchung wurde ein experimentell-informelles Instrument erstellt (Wortreihen aus 2-, 3-, 4-, 5-Silbern, jeweils von 2 bis 5 semantisch unverbundenen Wörtern ansteigend). Das abhängige Maß war die Zahl der korrekt wiederholten Wortreihen pro Silbenlänge. Die Untersuchungen wurden in der Phoniatrie/Pädaudiologie, Universitätsmedizin Göttingen und in Göttinger Regelkindergärten durchgeführt.

Studienkollektiv

38 Kinder im Alter von 3;10 bis 10;4 Jahren: Kinder mit Sprachentwicklungs- und/oder Artikulationsstörungen (n=18; mittl. LA: 65,6; SD 17,9 Monate) und 20 sprachgesunde Kinder (mittl. LA: 68,2; SD 14,2 Monate).

Ergebnisse

Tabelle 1 [Tab. 1] präsentiert die mittleren Ergebniswerte für beide Studiengruppen – nach Silbenlänge. Ein Wortlängeneffekt war bei allen Kindern gegeben, mit ansteigender Silbenlänge eines Worts nahm im Durchschnitt die Zahl der behaltenen Wortreihen ab. Der Durchschnittswert sprachentwicklungsgestörter Kinder unterschied sich bei 2-, 3-, 4-Silbern nicht signifikant von dem der sprachgesunden Kinder, erst bei 5-Silbern (mittlere Differenz: 0,5; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,1–0,9).

Die Leistungsdifferenz zwischen beiden Studiengruppen im Hinblick auf das Geschlecht war bei 5-Silbern zu Lasten sprachentwicklungsgestörter Jungen statistisch bedeutsam (mittlere Differenz: 0,8; 95%-KI: 0,1–1,6) sowie bei 3-Silbern (mittlere Differenz: 0,5; 95%-KI: 0,1–1,1) und 4-Silbern (mittlere Differenz: 0,8; 95%-KI: 0,1–1,5) zu Lasten sprachentwicklungsgestörter Mädchen.

Um die Altersabhängigkeit von Ergebnissen zu prüfen, wurde für jede Studiengruppe die Korrelation der korrekten Reproduktionsrate von Wortreihen pro Silbenlänge mit dem aktuellen Lebensalter berechnet. Für 2- wie auch 4-Silber bestand für jede Studiengruppe eine statistisch signifikante, positive Beziehung zwischen den beiden Variablen in nahezu gleich großer Ausprägung (.52 vs. .54 für 2-Silber; .49 vs. .48 für 4-Silber) und belegt einen Alterseffekt. Hingegen war das statistische Zusammenhangsmaß bei 3-Silbern für beide Gruppen schwach und insignifikant. Während für sprachgesunde Kinder die Hörmerkspanne für 5-silbige Wörter ebenfalls deutlich und signifikant mit dem Alter korrelierte (.48), war bei sprachentwicklungsgestörten Kindern kein statistisch relevanter Zusammenhang nachweisbar (.11).

Diskussion

Die mittlere Hörmerkspanne ist kleiner für Items, die nicht in 1,5 bis 2 Sekunden artikuliert werden können, da die Zahl der Items, die in dieser Zeit gesprochen wird, der phonologischen Schleife entspricht. Weil Kinder mit dem Alter lernen, schneller Wörter zu artikulieren, können sie Wörter im subvokalen Rehearsal auch schneller wiederholen. Sprachentwicklungs- und artikulationsgestörte Kinder sind diesbezüglich benachteiligt. Nicht nur Veränderungen in der Sprechgeschwindigkeit („artikulatorische Schleife“) erklären somit den Anstieg in der Hörmerkspanne mit zunehmendem Lebensalter, auch die Fähigkeit zur Artikulation ist ein wichtiger Faktor.

Für weitere Untersuchungen wird die Standardisierung der Aufgabenpräsentation empfohlen sowie die Differenzierung der klinischen Klientel nach Subgruppen.


Literatur

1.
Baddeley AD, Hitch GJ. Working memory. In: Bower GA (Ed). Recent advances in learning and motivation. Vol. 8. New York: Academic Press; 1974. p. 47-90.
2.
Baddeley AD, Thompson N, Buchanan M. Word length and the structure of short-term memory. J Verb Learn Verb Behav. 1975;14:575-89.