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23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

15. - 17.09.2006, Heidelberg

Entwicklung und Evaluation einer Klassifikation der sängerischen Aktivität bei Kindern und Jugendlichen

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Michael Fuchs - Abteilung für Phoniatrie und Audiologie, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • author Silke Heidemann - Abteilung für Phoniatrie und Audiologie, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • author Daniela Geister - Abteilung für Phoniatrie und Audiologie, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • author Götz Gelbrich - Koordinationszentrum für Klinische Studien, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland
  • author Walter Pfohl - Ministerium für Kultur, Jugend und Sport Baden Württemberg, Stuttgart, Deutschland
  • author Susanne Thiel - Abteilung für Phoniatrie und Audiologie, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Heidelberg, 15.-17.09.2006. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2006. Doc06dgppV50

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2006/06dgpp74.shtml

Veröffentlicht: 5. September 2006

© 2006 Fuchs et al.
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Zusammenfassung

Bei der Diagnostik und Therapie von Stimmstörungen bei Kindern und Jugendlichen hat die realistische Einschätzung ihrer stimmlichen Aktivität eine entscheidende Bedeutung. Wir entwickelten eine Klassifikation unter Berücksichtigung der stimmlichen Belastung, der gesangspädagogischen Betreuung und einer möglichen Zusatzbelastung durch Hochdruck-Blasinstrumente.

Für die Evaluation der Reproduzierbarkeit wurden von 186 Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 19 Jahren (mittleres Alter: 13,5) Interviews aufgezeichnet, die der Einteilung in die Klassifikationsgrade dienten. Anschließend klassifizierten 124 Ärzte/Logopäden, Chorleiter, Musiklehrer und Laien die sängerische Aktivität anhand von jeweils 6 randomisierten Interviews in insgesamt 744 Beurteilungen.

Alle Beurteilergruppen zeigten unabhängig von der Berufsgruppe eine gute Übereinstimmung mit den Interviewern (ĸ=0,65 bis 0,83). Bei einer Klassifikation ohne Befragung der Probanden resultierte eine signifikant schlechtere Übereinstimmung (ĸ=0,29 bis 0,47). Die Einschätzung der Zusatzbelastung durch das Instrument erfolgte dagegen auch mit einer sehr hohen Übereinstimmung bereits in der Vorauswahl (ĸ=0,88 bis 0,93).

Die Klassifikation ist für die praktische Anwendung auch durch Laien geeignet und kann die sängerische Aktivität sicher und gut reproduzierbar einschätzen. Damit ist ein Instrument entwickelt worden, das die Kommunikation zwischen behandelnden Arzt, Logopäden und Gesangspädagogen vereinfacht und vereinheitlicht.


Text

Einleitung

Bei der phoniatrischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Störungen der Sprech- und Singstimmfunktion infolge akuter oder chronischer Erkrankungen des Stimmapparates sollte auch das Ausmaß der sängerischen Aktivität berücksichtigt werden. Eine vorübergehende oder dauerhafte Reduktion der sängerischen Aktivität ist häufig ein entscheidendes Element der Therapie einer aufgetretenen Dysphonie oder Dysodie. Daher sollte der Arzt die stimmliche Belastung, die gesangspädagogische Betreuung und die Zusatzbelastung durch ein eventuelles Spiel eines Holz- und/oder Blechblasinstrumentes einschätzen können, auch wenn er mit den Bedingungen und Gepflogenheiten zum Beispiel eines Kinder- und Jugendchores nicht vertraut ist.

Methode: Die Klassifikation wurde ausgehend von der klinischen und gesangs-pädagogischen Erfahrung unter heuristischen Gesichtspunkten von einem in der Kinderstimmbildung erfahrenen Phoniater und einem Statistiker entwickelt (Abbildung 1 [Abb. 1]).

Ein zentrales Kriterium bei der Einschätzung der Belastung war die Regelmäßigkeit und das Ausmaß des organisierten Singens, dass heißt des Singens in Ensembles mit einer regelmäßigen Proben- und Konzerttätigkeit. Durch Ferien bedingte Unterbrechungen der sängerischen Aktivität zum Zeitpunkt der Klassifikation werden nicht berücksichtigt. Für die Evaluation der Reproduzierbarkeit wurden insgesamt 186 gesunde Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 6 und 19 Jahren (mittleres Alter: 13,5 Jahre) ausgewählt, die sich in beiden Geschlechtern und bezüglich des Alters annähernd gleichmäßig über die verschiedenen Grade der Klassifikation verteilten und paritätisch aus städtischem und ländlichem Umfeld in Deutschland stammten. Die Zuordnung in die Klassifikationsgrade und die angestrebte Gleichverteilung wurden mit Hilfe der Informationen von Schulleitern, Chorleitern und anderen Musikpädagogen vorbereitet. Diese Einteilung ohne eine detaillierte Befragung der Probanden wird nachfolgend mit „Vorauswahl“ bezeichnet. Die Probanden wurden anschließend in Interviews standardisiert befragt und klassifiziert. Die aufgezeichneten Interviews wurden dann bundesweit durch insgesamt 124 Hörer (jeweils 31 Fachärzte und Logopäden, Chorleiter und Gesangspädagogen, Musiklehrer sowie Laien) hinsichtlich des Klassifikationsgrades beurteilt: Nach einer erneuten Randomisierung erhielt jeder Hörer 6 Interviews auf einer CD mit Hinweisen zur Klassifikation. Das Ergebnis der Klassifikation beim Interview war den Hörern nicht bekannt. Für die Überprüfung der Übereinstimmungen der Klassifikationen der Zweitbeurteiler und der Vorauswahl mit der Klassifikation der Interviewer wurde paarweise und für jede Dimension der Klassifikation Cohens Kappa berechnet.

Ergebnisse

Bei der Klassifikation der Belastung der Singstimme und der gesangspädagogischen Betreuung zeigten alle Beurteilergruppen unabhängig von der Berufsgruppe eine gute Übereinstimmung mit der Klassifikation der Interviewer (κ=0,65 bis 0,83). Bei einer Klassifikation ohne Befragung der Probanden (Vorauswahl) resultierte eine schlechtere Übereinstimmung (κ=0,29 bis 0,47). Diese Unterschiede sind statistisch signifikant: Vergleicht man die jeweils 5 Kappa-Werte für die Belastung der Singstimme und die gesangspädagogische Betreuung erhält man signifikante Unterschiede (für beide p<0,001). Werden dagegen die Kappa-Werte der Vorauswahl aus dem Vergleich ausgeschlossen, zeigen sich keine signifikanten Unterschiede mehr (p=0,190 und p=0,045). Das heißt, die Berufsgruppen unterschieden sich hinsichtlich der Klassifikationsgenauigkeit nicht (Tabelle 1 [Tab. 1]).

Die Einschätzung der Zusatzbelastung durch das Instrument erfolgte demgegenüber auch mit einer sehr hohen Übereinstimmung bereits in der Vorauswahl (κ=0,88 bis 0,93). Es zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen der Vorauswahl und allen Berufgruppen (p=0,697).

Diskussion

Die Klassifikation ist geeignet, die sängerische Aktivität von Kindern und Jugendlichen eindeutig und reproduzierbar in Gruppen einzuteilen. Sie ist von Laien genau so sicher einsetzbar wie von Gesangspädagogen, Ärzten, Logopäden oder anderen Berufsgruppen und setzt voraus, dass die zu klassifizierenden Kinder und Jugendlichen standardisiert befragt werden.

Die klinische Relevanz einer solchen Klassifikation ist abhängig vom Einfluss der sängerischen Aktivität auf die Häufigkeit von Stimmstörungen in dieser Altersgruppe, insbesondere bei regelmäßig singenden Kindern und Jugendlichen. Dazu finden sich sehr stark schwankende Angaben in der Literatur. In einer Befragung von 48 amerikanischen Laryngologen ermittelte Reilly eine Häufigkeit von Stimmstörungen bei Kindern von 1%, von denen bei einem Fünftel (0,2%) eine erhöhte sängerische Aktivität vorlag [2]. Tepe und Mitarbeiter befragten 129 junge Chorsänger bis zu einem Alter von 25 Jahren, von denen mehr als die Hälfte (55,8%) angaben, bereits Stimmprobleme gehabt zu haben. Besonders betroffen waren ältere Jugendliche. Etwa ein Drittel (29,4%) der Untersuchten erhielten Gesangsunterricht, ohne dass eine weitere Untersuchung der Art, der Häufigkeit und der Qualität erfolgte. Als Risikogruppe identifizierten sie ältere singende Jugendliche [3]. Eine Untersuchung an 7389 Achtjährigen von Carding et al. erbrachte eine Prävalenz von Stimmstö-rungen von 6%, wobei Knaben (7,4%) signifikant häufiger betroffen waren als Mädchen (4,6%). Über die stimmliche Aktivität erfolgten keine Angaben [1].

Für die klinische Praxis ist mit der Klassifikation ein Instrument entwickelt worden, das die Kommunikation zwischen Phoniater, Logopäden und Gesangspädagogen vereinfacht und gleichzeitig vereinheitlicht.


Literatur

1.
Carding PN, Roulstone S, Northstone K, ALSPAC Study Team. The prevalence of childhood dysphonia: A cross-sectional study. J Voice. (in press) 2005.
2.
Reilly JS. The "singing-acting" child: The laryngologist's perspective - 1995. J Voice. 1997;11(2):126-29.
3.
Tepe ES, Deutsch ES, Sampson Q, Lawless S, Reilly JS, Sataloff RT. A pilot survey of vocal health in young singers. J Voice. 2002;16(2):244-50.