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23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V.

15. - 17.09.2006, Heidelberg

Sprachverarbeitungsprofile im Heidelberger Vorschulscreening von Kindern mit Restsymptomen einer Sprachentwicklungsverzögerung

Profiles of speech and language processing in preschool children with speech development disorders

Vortrag

  • corresponding author presenting/speaker Beate Molter - Univ.-HNO-Klinik, Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • author Monika Brunner - Univ.-HNO-Klinik, Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • Sonja Dockter - Univ.-HNO-Klinik, Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland
  • Ute Pröschel - Univ.-HNO-Klinik, Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie, Heidelberg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 23. Wissenschaftliche Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Heidelberg, 15.-17.09.2006. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2006. Doc06dgppV19

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2006/06dgpp26.shtml

Veröffentlicht: 5. September 2006

© 2006 Molter et al.
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Zusammenfassung

Einleitung: Zur Prüfung der Auswirkungen von Sprachverarbeitungsstörungen auf den Schriftspracherwerb führen wir zur Zeit eine Längsschnittstudie durch. Zusätzlich zur informellen Sprachdiagnostik wird das standardisierte Prüfverfahren HVS (Heidelberger Vorschulscreening zur auditiven Wahrnehmung und Sprachverarbeitung) eingesetzt und eine kognitive Testung durchgeführt.

Patienten und Methode: 50 Kinder. Durchschnittsalter: 6,1 Jahre. Einweisungsdiagnose: Restsymptome von Sprachentwicklungsverzögerung oder Verdacht auf eine auditive Wahrnehmungsstörung. Erhebungszeitraum: 10/05 bis 5/06.

Ergebnisse: Bei 46% der Kinder wurde anamnestisch eine familiäre Belastung durch Legasthenie festgestellt. 32% der Kinder wiesen einen verspäteten Sprachbeginn (deutlich nach 2. Geburtstag) auf. Bei 15% der Kinder wurden Aufmerksamkeitsstörungen beobachtet. Die sprachfreie Grundintelligenz lag im Durchschnitt bei 107, nur 2 Kinder lagen im unterdurchschnittlichen Bereich. Die Kinder zeigten unterdurchschnittliche Ergebnisse in folgenden Teilbereichen des HVS: 55% im auditiven Arbeitsgedächtnis; 32% im Bereich Anlautanalyse; 17% im Silbensegmentieren; 40% in der Lautdifferenzierung; 75% im Bereich Artikulomotorik; 28% in der Wortstammerkennung; 36% beim Reimen.

Schlussfolgerung: Mit dem Sprachverarbeitungsprofil des Heidelberger Vorschulscreenings lassen sich konkrete Hinweise zu Förderbereichen ableiten, von denen prognostisch ein Zusammenhang mit Legasthenie nachgewiesen wurde.


Text

Einleitung

Beeinträchtigte auditive Wahrnehmung und Sprachverarbeitung werden ursächlich im Zusammenhang mit Störungen des Laut- und Schriftspracherwerbs diskutiert [1], [2], [3], [4], [5], [6]. Häufig bleiben Schwächen in der Sprachverarbeitung und auditiven Wahrnehmung auch dann noch bestehen, wenn die „hörbaren“ Symptome einer Sprachentwicklungsstörung, nämlich die Artikulations- und Grammatikfehler, in den Hintergrund getreten sind [5]. Da die Wahrnehmungs- und Sprachverarbeitungsstörungen nur indirekt eine Störung des Kommunikationsaktes darstellen, wurden sie in den Sprech- und Sprachtherapien bis vor mehreren Jahren nur am Rande berücksichtigt. Durch die neueren Forschungen zu Ursachen der Schriftsprachstörungen erzielten basale Funktionsbereiche der Sprech- und Sprachstörungen vermehrt Aufmerksamkeit und rückten unter dem Oberbegriff „auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen“ und „Störungen der phonologischen Bewusstheit“ in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Es wurden bei Schulkindern Zusammenhänge zwischen Rechtschreibstörungen und Schwächen in der Lautunterscheidung [1], [4] sowie Schwächen in der phonologischen Bewusstheit [6], [7] gefunden. Auch zeigten sich Zusammenhänge zwischen Rechtschreibstörungen und verkürztem phonologischen Arbeitsspeicher [8]. Für die klinische Diagnostik im Vorschulalter liegt mit dem Heidelberger Vorschulscreening (HVS) ein zeitökonomisches, standardisiertes Prüfverfahren vor, das einen Überblick über Leistungen in verschiedenen Teilbereichen der auditiven Wahrnehmung und Sprachverarbeitung bei Vorschulkindern im Alter von 5-7 liefert. Validierungsstudien zum HVS [9] konnten bereits zeigen, dass die auditive Merkspanne und das Silben Segmentieren speziell mit der Leseleistung zusammenhängen, während Artikulomotorik und phonematische Differenzierung besonders bedeutsam für die Rechtschreibung sind. Wortfamilien Erkennen und Reimen sowie das Gesamtergebnis des HVS korrelierten sowohl mit Lesen als auch mit der Rechtschreibung.

Die Studie

Das Hauptziel der Anfang 2006 begonnenen Längsschnittstudie besteht in der Überprüfung der Annahme, dass die Ergebnisse des HVS von Kindern im Vorschulalter, die aufgrund spezifischer Auffälligkeiten in der Sprachentwicklung zur Abklärung in die Phoniatrie überwiesen wurden, eine Vorhersage bezüglich späterer Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb erlauben. Ein solcher Nachweis wäre mit hoher praktischer Relevanz verbunden, da das HVS trainierbare Fähigkeiten erfasst. Folglich könnten Kinder mit Defiziten gezielt behandelt und das Risiko einer späteren Lese-Rechtschreib-Schwäche somit deutlich reduziert werden.

Patienten und Methode

Die Studie wird in drei Phasen durchgeführt.

Phase 1: Es werden 120 Kinder im Rahmen der ersten ambulanten Untersuchung getestet. Das bedeutet, dass im Anschluss an die Hördiagnostik zusätzlich zur üblichen informellen logopädischen Sprachdiagnostik das HVS und ein Screeninginstrument zur Erfassung von Aussprachestörungen - Psycholinguistische Analyse Kindlicher Sprechstörungen (PLAKSS) [10] eingesetzt werden. Ein zweiter Untersuchungstermin dient dann der Erfassung der allgemeinen sprachfreien Grundintelligenz (CFT1) [11], um sicherzustellen, dass die diagnostizierte Sprachproblematik nicht auf mangelnde kognitive Fähigkeiten zurückzuführen ist. Des Weiteren werden das Sprachverständnis überprüft und verschiedene anamnestische Daten erhoben wie familiäre Belastung des Kindes durch Legasthenie, Defizite in der Aufmerksamkeit und der Feinmotorik sowie das Alter des Sprachbeginns.

Phase 2: In dieser zweiten Phase wird die Lese-Rechtschreib-Leistung am Ende des ersten Grundschuljahres erfasst. Außerdem werden jene Untertests des HVS wiederholt, bei denen die Kinder in Phase 1 auffällig waren. Auch die Entwicklung in den Bereichen Aussprache und Sprachproduktion wird überprüft, sofern hier in Phase 1 Defizite diagnostiziert wurden.

Phase 3: In dieser dritten Phase wird die Lese-Rechtschreib-Leistung am Ende des zweiten Grundschuljahres erfasst. Ebenso werden jene Fähigkeiten kontrolliert, die in Phase 2 noch nicht altersgemäß ausgeprägt waren.

In der ersten Phase der Längsschnittstudie wurde bis zum jetzigen Zeitpunkt bei 60 Kindern, die mit der Einweisungsdiagnose „Restsymptome einer Sprachentwicklungsverzögerung“ oder „Verdacht auf auditive Wahrnehmungsstörung“ in die phoniatrische Ambulanz kamen, das HVS durchgeführt. Das Durchschnittsalter der Kinder liegt bei 5,6 Jahren.

Ergebnisse

Für den allgemeinen sprachfreien Grundintelligenztest ergab sich ein durchschnittlicher IQ von 106, nur drei Kinder lagen im unterdurchschnittlichen Bereich. Man kann also bei nahezu allen Kindern von einer isolierten Sprachentwicklungsverzögerung ausgehen, die nicht verursacht oder mitbestimmt wird durch kognitive Defizite.

Bezüglich des peripheren Hörvermögens lagen alle Kinder im Normbereich, sodass man ausschließen kann, dass mangelndes Hörvermögen Sprachentwicklungsverzögerungen oder auditive Wahrnehmungsstörungen mit verursacht hat.

Eine familiäre Belastung durch Legasthenie zeigte sich bei 34% der Kinder. Bei weiteren 13% konnte eine familiäre Tendenz seitens der Mutter oder des Vaters zu sprachvermeidenden Berufen und/oder zur Vermeidung von Sprache und Schrift im Alltag verzeichnet werden.

Bei 16% der Kinder wurden Aufmerksamkeitsstörungen beobachtet, und auch Schwächen bei der Feinmotorik traten mit 33% häufig auf.

Der Anteil Kinder, die einen verspäteten Sprachbeginn (deutlich älter als 2 Jahre) aufwiesen, lag bei 47%.

Die Anzahl Kinder, die im HVS auffällig wurden, verteilt sich folgendermaßen auf die einzelnen Untertests:

  • Auditive Merkspanne: 56,7%
  • Expressive Anlautanalyse: 27,1%
  • Silben Segmentieren: 15%
  • Phonematische Differenzierung: 33,3%
  • Artikulomotorik: 56,7%
  • Wortfamilien Erkennen: 16,7%
  • Reimen: 19%

Syntaktische und grammatikalische Auffälligkeiten wurden bei 21,8% der Kinder festgestellt, durch deutliche Defizite im Sprachverständnis fielen 39,3 % der Kinder auf. Bezüglich Aussprachestörungen wurden insgesamt 58% der Kinder als auffällig eingestuft, davon 30% leicht und 28% stark auffällig.

Hinsichtlich des Hörvermögens ergaben sich folgende Auffälligkeiten:

  • Ohne Störgeräusch: 16,3%
  • Mit Störgeräusch: 26,5%
  • Dichotisches Hören: 67,4%

In Tabelle 1 [Tab. 1] zeigt sich, dass die Untertests Auditive Merkspanne, Phonematische Differenzierung und Reimen mit den meisten anderen Untertests korrelieren, während der Untertest Silben Segmentieren lediglich mit den Reimwörtern geringfügig in Zusammenhang steht. Im Vergleich zur Normstichprobe sind hier die Interkorrelationen der Auditiven Merkspanne mit den anderen Untertests etwas höher, beim Wortfamilien Erkennen und der Artikulomotorik niedriger, bei den anderen Untertests gibt es keine eindeutige Richtung der Unterschiede.

Korrelationen mit der sprachfreien Grundintelligenz weisen nur die Untertests Auditive Merkspanne und Wortfamilien Erkennen und in ganz geringem Maß Phonematische Differenzierung auf. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass mit dem HVS nicht in wesentlichem Maß sprachfreie Intelligenz erfasst wird.

Bedeutsame Zusammenhänge bestehen zwischen dem Sprachverständnis und den syntaktischen und grammatikalischen Fähigkeiten (r = .54**) sowie zwischen dem Sprachverständnis und den folgenden Untertests aus dem HVS: Auditive Merkspanne (r = .47**), Anlautanalyse (r = .40**), Phonematische Differenzierung (r = .50**), Wortfamilien Erkennen (r = .44**), Reime Erkennen (r = .33*). Weiterhin zeigt sich ein Zusammenhang zwischen dem Sprachverständnis und dem Hören im Störgeräusch (r = .38**=), bzw. dem dichotischen Hören (r = .52**).

Schlussfolgerungen

Insgesamt wird deutlich, dass die Kinder, die wegen Verdacht auf auditive Wahrnehmungsstörung, bzw. mit Restsymptomen einer Sprachentwicklungsverzögerung im Jahr vor der Einschulung zur Diagnostik kamen, in den einzelnen Sprachverarbeitungsfunktionen, die mit dem HVS erfasst werden, auffällig wurden. Die größte Anzahl fand sich bei der auffälligen auditiven Merkspanne, gefolgt von den Artikulationsstörungen (erfasst über das PLAKSS) und dem Untertest Artikulomotorik, den Störungen des Sprachverständnisses und der phonematischen Differenzierung.

Da der Anteil Kinder, die beim dichotischen Hören als auffällig eingestuft werden, mit 67% deutlich über dem bei allen anderen Tests als auffällig geltenden Prozentsatz liegt und darüber hinaus keine nach Altersgruppen differenzierten Normwerte für dies Alter vorliegen, muss davon ausgegangen werden, dass der Test zu schwer ist bzw. neu normiert werden muss.


Literatur

1.
Dierks A, Seibert A, Brunner M, Körkel B, Haffner J, Strehlow U, Parzer P, Resch F. Testkonstruktion, -analyse und Erprobung des Heidelberger Lautdifferenzierungstests zur auditiv-kinästhetischen Wahrnehmungstrennschärfe. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. 1999;27:29-36.
2.
Brunner M, Pfeiffer B, Schlüter K, Steller F, Möhring L, Heinrich I, Pröschel U. Heidelberger Vorschulscreening zur auditivenkinästhetischen Wahrnehmung und Sprachverarbeitung. Testhandbuch Teil 1 und CD. Wertingen: Westra Elektroakustik; 2001.
3.
Kiese-Himmel C. Teilleistungsschwächen/Teilleistungsstörungen bei Kindern. Sprache Stimme Gehör. 1996;20:196-208.
4.
Möhring L, Schöler H, Brunner M, Pröschel U. Zur Diagnostik struktureller Defizite bei Lese-Rechtschreib-Störungen in der klinischen Arbeit: Beziehungen zwischen verschiedenen Leistungsindikatoren. Laryngorhinootologie. 2003;82:83-91.
5.
Pascher W, Spelsberg A. Sprachentwicklungsverzögerung: Allgemeine Differential-diagnose der Syndrome und klinischen Kategorien. In: Pascher W, Bauer H. (eds). Differentialdiagnose von Sprach-, Stimm- und Hörstörungen. Frankfurt am Main: Wötzel; 1998. p. 209-48.
6.
Schulte-Körne G, Deimel W, Bartling J, Remschmidt H. Die Bedeutung der auditiven Wahrnehmung und der phonologischen Bewusstheit für die Lese-Rechtschreib-Schwäche. Sprache Stimme Gehör. 1998;22:25-30.
7.
Schneider W, Visé M, Reimer P, Blaesser B. Auswirkung eines Trainings der sprachlichen Bewusstheit auf den Schriftspracherwerb in der Schule. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. 1994;8:177-88.
8.
Baddeley AD, Gathercole S. Learning to read: The role of the phonogical loop. In: Algeria J, Holender D, Morais JJ, Radeau M (eds). Analytic Approaches to Human Cognition. Amsterdam: Elsevier; 1992. p. 107-32.
9.
Troost J, Brunner M, Pröschel U. Validität des Heidelberger Vorschulscreenings zur auditiv-kinästhetischen Wahrnehmung und Sprachverarbeitung. Diagnostica; 50(Heft 4). Göttingen: Hogrefe Verlag; 2004. p. 193-201.
10.
Weiß R, Osterland J. Grundintelligenztests Skala 1 (CFT1). Göttingen: Hogrefe; 1997.
11.
Fox A. Psycholinguistische Analyse Kindlicher Sprechstörungen (PLAKSS). Frankfurt am Main: Harcourt; 2002.