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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Evaluation eines visuellen Artikulationsmodells in der Therapie von Sprechstörungen

Vortrag

  • author presenting/speaker Bernd J. Kröger - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen, Universitätsklinikum Aachen, Aachen, Deutschland
  • author Julia Gotto - Neurologische Klinik, Abteilung für Neurolinguistik, Universitätsklinikum Aachen, Aachen, Deutschland
  • Susanne Albert - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen, Universitätsklinikum Aachen, Aachen, Deutschland
  • author Christiane Neuschaefer-Rube - Klinik für Phoniatrie, Pädaudiologie und Kommunikationsstörungen, Universitätsklinikum Aachen, Aachen, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppV34

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2004/04dgpp60.shtml

Veröffentlicht: 9. September 2004

© 2004 Kröger et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Zielsetzung: In diesem Beitrag wird ein Test zur Quantifizierung des Lerneffektes hinsichtlich der visuellen Erkennung von Lautbewegungen bei sprechgestörten Personen vorgestellt (VEL-Test).

Hintergrund: Der Einsatz unseres visuellen Artikulationsmodells [4] wurde erstmals als Hilfsmittel in der Therapie von Sprechstörungen erprobt. Mittels des VEL-Tests soll gemessen werden, wie stark die Patienten im Verlauf der Therapie von diesem Hilfsmittel profitieren.

Methode: Es wurden je nach Störungsbild unterschiedliche Modifikationen des VEL-Testes realisiert und der Test wurde in dieser Pilotstudie bei Patienten unterschiedlicher Störungsbilder durchgeführt.

Ergebnisse: Der VEL-Test ist in der Lage, die oben genannten Lerneffekte zu messen.

Schlussfolgerungen: Mittels dieses Tests kann nun für eine größere Anzahl von Patienten unterschiedlicher Störungsbilder der Effekt des visuellen Artikulationsmodells als Therapie-Hilfsmittel evaluiert werden.


Text

Einleitung

In der Therapie von Sprechstörungen werden verschiedene Hilfsmittel zur Stimulation des Patienten über den auditiven, visuellen oder taktil-kinästhetischen Wahrnehmungskanal eingesetzt. Bei bestimmten Sprechstörungen (z.B. Sprechapraxie, kindliche Artikulationsstörungen) werden beispielsweise Abbildungen von mediosagittalen Schnitten genutzt, um den Patienten eine Vorstellung über die Einstellung der verschiedenen Artikulationsorgane (z.B. Lippen, Zunge, Gaumensegel) bei unterschiedlichen Lauten zu vermitteln.

Im Rahmen dieser Untersuchung wurde der Einsatz eines visuellen Artikulationsmodells erprobt und evaluiert. Dazu wird in diesem Beitrag ein Test zur Quantifizierung der Leistung hinsichtlich der v isuellen E rkennung von L autbewegungen vorgestellt (VEL-Test).

Methode

Das von uns entwickelte visuelle Artikulationsmodell ist in der Lage, auf der Basis von MRT-Daten eines Sprechers des Standarddeutschen Mediosagittalschnitte von lautlichen Zielpositionen (Standbilder) und von Artikulationsbewegungen einzelner Laute, Silben und Wörter (Videosequenzen) zu generieren [4], [5]. Im VEL-Test werden dem Patienten unterschiedliche Laute und Silben (Items) ausschließlich visuell dargeboten. Die Patienten haben die Aufgabe, den Laut bzw. die Silbe verbal zu realisieren. In der Auswertung wird der Unterschied zwischen vorgegebenem und realisiertem Item für jedes Item quantifiziert. Der Test liegt bis dato in Versionen für zwei unterschiedliche Arten von Sprechstörungen (Dyslalie und Sprechapraxie) vor.

1. VEL-Test für Dyslalie

Die Patienten wurden einführend mit der mediosagittalen Darstellung der Artikulationsorgane vertraut gemacht. Dann wurden ihnen vom Modell generierte Videosequenzen zur Artikulation von Vokalen ([a:], [i:], [u:] und [y:]) und Konsonanten ([p], [t], [k], [m], [n], [ŋ], [f], [s], [ʃ], [ç] und [x]) in randomisierter Folge jeweils drei Mal dargeboten (3 x 15 Items). Die Bewertung der Erkennungsleistung (d.h. Grad der Ungleichheit zwischen dem vom Modell visuell vorgegebenen und dem vom Patienten verbal realisierten Laut) wurde (1) in nicht differenzierter Form (Kriterium: gesamter Laut richtig erkannt) und (2) in differenzierter Form (Kriterien: einzelne artikulatorischen Lautmerkmale richtig realisiert; [Tab. 1]) durchgeführt.

2. VEL-Test für Sprechapraxie

Den Patienten wurden nach kurzer Erläuterung der mediosagittalen Darstellung der Artikulationsorgane 10 vom Modell generierte Lautbilder (Vokale [a:], [i:], [e:] [u:]; Konsonanten [p], [t], [k], [f], [s], [x]) und vom Modell generierte Videosequenzen von 10 Silben (einfache Silben [pa:], [ti:], [ke:], [fu:], [sa:], [u:x]; komplexe Silben [ksa:], [e:st], [pfi:], [u:xt]) jeweils in randomisierter Folge einmal dargeboten (1 x 20 Items). Ähnlich wie bei der differenzierten Auswertung des VEL-Tests für Dyslalie wurde bei der Quantifizierung der Erkennungsleistung nicht nur bewertet, ob das visuell vorgegebene Item richtig oder falsch verbal realisiert wurde; vielmehr wurden die verbalen Realisierungen der Patienten auf einer mehrstufigen Skala in Anlehnung an den Untertest „Nachsprechen" aus dem Aachener Aphasie Test [3] bewertet.

Ergebnisse

Im Fall des Störungsbildes Dyslalie wurde der VEL-Test bei 11 Kindern vor Beginn der Therapie durchgeführt (4m, 7w; Alter 4;6 - 8;3; davon 7 Kinder mit Artikulationsstörungen ohne weitere Auffälligkeiten und 4 Kinder mit Artikulationsstörungen im Rahmen einer Spachentwicklungsverzögerung (SEV); siehe [1]). Bei der Bewertung der Erkennungsleistung auf der Basis der artikulatorischen Lautmerkmale ergeben sich Mittelwerte zwischen ca. 40% bis 70%. Dies zeigt, dass die Kinder auch nach kurzer Einführung bereits in der Lage sind, die visuelle Lautinformation in richtiger Weise zu interpretieren. Bei nicht-differenzierter Bewertung der Erkennungsleistung - d.h. Zählung nur der vom Patienten vollständig richtig realisierten Laute - ergibt sich allerdings ein wesentlich geringerer Prozentsatz (ca. 6% bis 29%). Diese Diskrepanz zwischen differenzierter Erkennungsleistung bei Aufschlüsselung nach artikulatorischen Lautmerkmalen und nicht-differenzierter Erkennungsleistung kann darauf zurückgeführt werden, dass bei vielen Items nur ein Teil der artikulatorischen Lautmerkmale anhand der visuellen Stimuli sicher erkannt werden. So wird beispielsweise bei einer Verwechselung von [m] mit [p] zwar die bilabiale Verschlussbildung, nicht aber die Absenkung des Gaumensegels und die Öffnung der Stimmritze erkannt.

Im Fall des Störungsbildes der Sprechapraxie wurde der VEL-Test bis dato bei einer 47-jährigen Patientin (schwere Broca-Aphasie in Kombination mit schwerer Sprechapraxie nach Media-Territorialinfarkt links; Zeitpunkt des Schlaganfalls 5 Jahre und 7 Monate vor Beginn der hier ausgewerteten Therapie) vor Beginn, in der Mitte und direkt nach Abschluss einer 7-wöchigen logopädischen Therapie (5 Sitzungen pro Woche) sowie im Rahmen einer 3 Monate später erfolgten Follow-up-Untersuchung durchgeführt [2]. Während im Fall des Störungsbildes der Dyslalie noch keine Ergebnisse hinsichtlich der Verbesserung der Erkennungsleistung über den Verlauf der Therapie vorliegen, konnte für diese Patientin bereits gezeigt werden, dass sich die Erkennungsleistung über die Therapie im Mittel von 33% auf 67% signifikant verbessert. Am stärksten verbessert sich dabei ihre Erkennungsleistung hinsichtlich der Silben (7% auf 50%). Die Erkennungsleistung der Patientin war auch 3 Monate nach Therapieende nicht signifikant geringer als die direkt zu Therapieende ermittelte Leistung.

Diskussion und Ausblick

Das visuelle Artikulationsmodell und der VEL-Test wurden in dieser Pilotstudie bei Patienten unterschiedlicher Störungsbilder (Dyslalie und Sprechapraxie) eingesetzt. Bei beiden Störungsbildern wird in der Therapie zusätzlich zur akustischen (und evtl. auch taktil-kinästhetischen) Stimulation gelegentlich mit prototypischen mediosagittalen Schnittbildern gearbeitet, um den Patienten eine Vorstellung über die Positionierung der Artikulationsorgane bei unterschiedlichen Lauten zu vermitteln. Das hier in diesem Sinne genutzte Artikulationsmodell ist darüber hinaus in der Lage, auch Artikulationsbewegungen visuell darzustellen.

Es konnte gezeigt werden, dass insbesondere die Patienten mit Artikulationsstörungen - nach einer einführenden Erläuterung der mediosagittalen Darstellung der Artikulationsorgane - im VEL-Test bei differenzierter Bewertung der Erkennungsleistung bereits beachtliche Erkennungsraten erbringen. Für diese Patienten liegen bis dato allerdings noch keine Ergebnisse zur Veränderung der Erkennungsleistung über den Therapieverlauf vor. Im Fall der Patientin mit Sprechapraxie beruht die geringe Erkennungsleistung zu Beginn der Therapie insbesondere bei Silben wahrscheinlich auch auf ihrer Unfähigkeit zur verbalen Realisierung der visuellen Items. Für diese Patientin konnte aber eine starke Verbesserung der Erkennungsleistung über den Verlauf der Therapie nachgewiesen werden.

In weiteren Studien soll nun evaluiert werden, wie stark die Patienten im Verlauf ihrer Therapie tatsächlich von der Stimulation durch das visuelle Artikulationsmodell profitieren. So kann der VEL-Test zwar nachweisen, dass Lerneffekte hinsichtlich dieses Hilfsmittels auftreten; durch diesen Test kann aber nicht gezeigt werden, ob der Therapieerfolg ursächlich mit den Einsatz dieses Hilfsmittels zusammenhängt.


Literatur

1.
Albert (in Vorbereitung) Einsatz und Evaluierung des Speechtrainers in der Artikulationstherapie bei Kindern. Diplomarbeit, Studiengang Lehr- und Forschungslogopädie, RWTH Aachen
2.
Gotto (2004) PC-gestützte Therapie bei Sprechapraxie: Eine Einzelfallstudie. Diplomarbeit, Studiengang Lehr- und Forschungslogopädie, RWTH Aachen
3.
Huber W, Poeck K, Weniger D, Willmes K (1983) Aachener Aphasie Test (AAT). Göttingen: Hogrefe
4.
Kröger BJ (2003) Ein visuelles Modell der Artikulation. Laryngo-Rhino-Otologie 82: 402-407
5.
Kröger BJ, Hoole P, Geng C, Pompino-Marschall B, Neuschaefer-Rube C (2003) Statische und dynamische MRT's als Datenbasis eines Artikulationsmodells. Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2003/2004. Tagungsband der Jahrestagung der DGPP. Medicombooks.de im Verlag Videel, Niebüll, S. 229-233