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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Bestehen Zusammenhänge zwischen den Angaben im AVWS-Anamnesebogen der DGPP und den Ergebnissen des Heidelberger Lautdifferenzierungstests?

Vortrag

  • author presenting/speaker Claudia Massinger - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Kinderzentrum München, München, Deutschland
  • author Andreas Nickisch - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Kinderzentrum München, München, Deutschland
  • author Christiane Kiese-Himmel - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Georg-August-Universität, Göttingen, Deutschland
  • author Rainer Schönweiler - Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie der Universität zu Lübeck, HNO-Klinik, Lübeck, Deutschland
  • author Hans-Joachim Radü - St. Elisabeth Hospital Bochum, Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Bochum, Deutschland
  • author Manfred Gross - Klinik für Audiologie und Phoniatrie, Universitätsklinikum Benjamin Franklin, FU Berlin, Berlin, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppV31

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2004/04dgpp57.shtml

Veröffentlicht: 9. September 2004

© 2004 Massinger et al.
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Zusammenfassung

Zur standardisierten Anamneseerhebung wurde von der AVWS-Arbeitsgruppe der DGPP der „Anamnestische Erhebungs- und Beobachtungsbogen für auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen" erstellt (FB-AVWS). Empirische Validierungsstudien standen bisher noch aus.

Methode: In einer Multicenterstudie wurden die Ergebnisse aus dem Heidelberger Lautdifferenzierungstest (HLAD) und die Daten aus dem FB-AVWS von 113 Schülern der 2. bis 4. Klassenstufen mit Verdacht auf eine AVWS zusammengetragen und einer korrelationsstatistischen Analyse unterzogen.

Ergebnisse: Schwache, signifikante Korrelationen ergaben sich zwischen der Skala „Auditive Diskrimination" des FB-AVWS und den HLAD-Subtests „Kinästhetik/Lautidentifikation" (rho 0,292; p<0,021) sowie „Lautanalyse" (rho 0,305; p<0,0021). Unter der Annahme des HLAD als „Goldstandard" lagen die Sensitivitätswerte des FB-AVWS mit 93 bzw. 100% und die negativen prädiktiven Werte mit 98 bzw.100% relativ hoch. Die Spezifität und die positiven prädiktiven Werte waren jedoch gering.

Fazit: Der FB-AVWS ist geeignet, die symptomorientierte Anamnese bei Kindern mit dem Verdacht auf eine AVWS zu erweitern. Zum AVWS-Screening und als diagnostisches Instrument ist er jedoch nicht einsetzbar.


Text

Hintergrund

Unter einer „Auditiven Verarbeitung- und Wahrnehmungsstörung" (AVWS) versteht man Einschränkungen in der auditiven Informationsverarbeitung bei regelrechtem peripheren Hörvermögen und normaler Intelligenz. Die Häufigkeit dieser Störung wird bei Kindern auf etwa 2 bis 3 % geschätzt. Da in den letzten Jahren zunehmend mehr Kinder in den Abteilungen für Phoniatrie und Pädaudiologie zur Überprüfung dieser Verdachtsdiagnose vorgestellt werden, wurde zur standardisierten Anamneseerhebung von der AVWS-Arbeitsgruppe der DGPP der „Anamnestische Erhebungs- und Beobachtungsbogen für auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen" erstellt (FB-AVWS).

Der Anamnesebogen besteht aus den Skalen „Auditive Diskrimination", „Richtungsgehör", „Selektionsfähigkeit und Hören im Störschall", „Auditives Gedächtnis", „Geräuschempfindlichkeit" sowie „Allgemeinen Fragen".

Eine empirische Validierungsstudie zum FB-AVWS stand bisher noch aus. Insbesondere war von Interesse, inwieweit eine Korrelation zwischen den Ergebnissen in den einzelnen Skalen bzw. dem Gesamtscore des FB-AVWS und den Testergebnissen des bei Kindern mit AVWS häufig eingesetzten Heidelberger Lautdifferenzierungstest (HLAD) besteht [1]. Zudem stellte sich die Frage nach der Vorhersagbarkeit der Leistungen der Kinder im HLAD an Hand der Ergebnisse im FB-AVWS.

Methode

In einer Multicenterstudie der phoniatrisch-pädaudiologischen Abteilungen in Berlin, Bochum, Göttingen, Lübeck und München wurden die Ergebnisse aus dem Heidelberger Lautdifferenzierungstest und die Daten aus dem FB-AVWS von 113 Schülern der 2. bis 4. Klassenstufen, die mit dem Verdacht auf eine AVWS in den jeweiligen Einrichtungen vorgestellt wurden, zusammengetragen und einer korrelationsstatistischen Analyse mit Hilfe des Programmpakets SPSS 11.2 für Windows und Epicalc 2000 Vers. 1.02 unterzogen. Eingeschlossen wurden die Ergebnisse von Kindern mit Deutsch als Muttersprache, mit nonverbalem IQ von mindestens 90 in einem standardisierten Intelligenztest und mit unauffälligem Tonaudiogramm. Die Daten von Kindern, die bereits ein Schuljahr wiederholt hatten, wurden nicht verwendet.

Ergebnisse

Analysiert wurden die Daten von 34 Kindern der 2. Klasse, 52 Kindern der 3. Klasse und 27 Kindern der 4. Klasse. Im Mann-Whitney-U-Test ergaben sich keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Werten im HLAD der Kinder der 3. und 4. Klasse. Daher wurde der HLAD bei den Kindern der 3. Klasse nach der Normierung für Kinder der 4. Klasse ausgewertet.

Die statistische Analyse erfolgte an Hand der dichotomisierten Normwerte. Bei allen Korrelationen wurden Bonferroni-Korrekturen vorgenommen. Während sich keine Korrelation zwischen dem Gesamtergebnis des FB-AVWS und dem Gesamt-HLAD sowie seinen Subtests darstellte, zeigten sich schwache, signifikante Zusammenhänge zwischen der Skala „Auditive Diskrimination" des FB-AVWS und dem HLAD-Subtest „Kinästhetik/Lautidentifikation" (rho 0,292; p<0,021) sowie dem HLAD-Subtest „Lautanalyse" (rho 0,305; p<0,0021).

Unter der Annahme des HLAD als „Goldstandard" wurden Spezifität, Sensitivität sowie positive und negative prädiktive Werte für die Skala „Auditive Diskrimination" des FB-AVWS ermittelt. Für den Gesamt-HLAD und seinen Subtest „Kinästhetik/Lautidentifikation" waren mit 93 % und 100 % sehr hohe, für die weiteren HLAD-Subtests „Auditive Phonemdifferenzierung" und „Lautanalyse" mit 62 % und 79 % hohe Sensitivitätswerte festzustellen. Auch die negativen prädiktiven Werte waren mit 74 % bis 100 % für alle Subtests und den Gesamt-HLAD hoch. Die Spezifität und die positiven prädiktiven Werte lagen jedoch mit Ergebnissen zwischen 37 % und 44 % für die Spezifität und 20 % bis 31 % für die positiven prädiktiven Werte sehr niedrig.

Diskussion

Insgesamt konnte gezeigt werden, dass keine Korrelationen zwischen dem Gesamtergebnis des Fragebogens (FB-AVWS) und den Ergebnissen im Gesamt-HLAD und seinen Subtests bestehen. Die Korrelation zwischen der Skala „Auditive Diskrimination" des FB-AVWS und zwei Subtests des HLAD war schwach, aber signifikant.

Der FB-AVWS ist als einfache und kostengünstige Methode geeignet, die symptomorientierte Anamnese bei Kindern mit dem Verdacht auf eine AVWS zu erweitern, die statistische Analyse ergab jedoch, dass der FB-AVWS zum Screening einer möglichen auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung oder als diagnostisches Instrument nicht verwendbar ist und damit die bisher gebrauchten diagnostischen Methoden nicht ersetzen kann. Auch bleibt zu berücksichtigen, dass die Vorinformationen der Eltern zur AVWS und ihre Erwartungshaltung gegenüber der phoniatrisch-pädaudiologischen Untersuchung ihres Kindes die Ergebnisse des FB-AVWS nicht unwesentlich beeinflussen können.

Weitere Untersuchungen zur Erstellung eines AVWS-Screenings wie dem Münchner Auditiven Screeningtest für Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (MAUS) zeigen bereits Tendenzen, dass zukünftig mit kurzer Testdauer die zentral-auditive Störung bei Kindern zuverlässig erfasst werden könnte [2].


Literatur

1.
Brunner M, Seibert A, Dierks A, Körkel B (1998) Heidelberger Lautdifferenzierungstest zur Überprüfung der auditiven Wahrnehmungstrennschärfe. Audiometrie Disk 19. Wertingen, Westra Elektroakustik
2.
Nickisch A, Heuckmann Ch, Burger Th, Massinger C (2004) Münchner Auditiver Screeningtest für Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (MAUS). In diesem Band.