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21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie

10. bis 12.09.2004, Freiburg/Breisgau

Belastungen der Eltern im Kontext der CI- und Hörgeräteversorgung ihres Kindes

Vortrag

  • author presenting/speaker Torsten Burger - Uniklinik Freiburg - Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie, Freiburg, Deutschland
  • Susanne Eissele - Uniklinik Freiburg - Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie, Freiburg, Deutschland
  • Claudia Spahn - Uniklinik Freiburg - Abteilung für Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik, Freiburg. Deutschland
  • Bernhard Richter - Uniklinik Freiburg - Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie, Freiburg, Deutschland
  • Erwin Löhle - Uniklinik Freiburg - Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie, Freiburg, Deutschland

Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. 21. Wissenschaftliche Jahrestagung der DGPP. Freiburg/Breisgau, 10.-12.09.2004. Düsseldorf, Köln: German Medical Science; 2004. Doc04dgppV12

Die elektronische Version dieses Artikels ist vollständig und ist verfügbar unter: http://www.egms.de/de/meetings/dgpp2004/04dgpp26.shtml

Veröffentlicht: 9. September 2004

© 2004 Burger et al.
Dieser Artikel ist ein Open Access-Artikel und steht unter den Creative Commons Lizenzbedingungen (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/deed.de). Er darf vervielfältigt, verbreitet und öffentlich zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt dass Autor und Quelle genannt werden.


Zusammenfassung

Die Hörbehinderung stellt nicht nur für das betroffene Kind, sondern auch für die gesamte Familie ein kritisches Lebensereignis dar. Bisherige empirische Studien in diesem Bereich waren Querschnittsuntersuchungen, so dass einschneidende Behandlungsereignisse wie die Cochlear-Implantation oder die erste Hörgeräteanpassung bei der Datenerhebung oft bereits Jahre zurück lagen.

Auf der 20. Jahrestagung der DGPP stellten wir Zwischenergebnisse einer Längsschnittuntersuchung vor, in deren Rahmen die psychische Belastung und die Lebensqualität der Eltern im Kontext der unterschiedlichen Behandlungsschritte in der Versorgung der Kinder untersucht werden. Die elterliche Belastung wurde anhand der SCL-90-R und die Lebensqualität anhand des Fragebogens „ALLTAG" erhoben. Es konnten von 66 Eltern CI-versorgter Kinder und von 55 Eltern hörgeräteversorgter Kinder Daten gewonnen werden.

Die wichtigsten Endergebnisse: Die Lebensqualität der Eltern ist zu Beginn der Versorgung signifikant eingeschränkt, stabilisiert sich jedoch im Laufe der ersten beiden Jahre der kindlichen Rehabilitation. In der Entscheidungsphase vor der CI-Voruntersuchung wurde zudem eine auffallend hohe psychische Belastung der Eltern festgestellt, welche sich ebenfalls bei erfolgter Operation in einem Normbereich stabilisiert.

Aus forschungsmethodischer Sicht erweist es sich als unabdingbar, die elterliche Belastung differenziert prospektiv zu untersuchen. Aus klinischer Sicht bestätigte sich die Relevanz, in der Behandlung der kindlichen Schwerhörigkeit die ganze Familie zu fokussieren.


Text

Einleitung

Im Rahmen der Forschung im Bereich der kindlichen Schwerhörigkeit wurde in den letzten Jahren zunehmend auch der Fokus auf die Eltern gerichtet und ihr Befinden untersucht (vgl. [4], [5]). Bis zum jetzigen Zeitpunkt liegen allerdings lediglich Befunde aus Querschnittserhebungen oder retrospektive Elterneinschätzungen vor. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Versorgung des hörgeschädigten Kindes in unterschiedlichen Phasen abläuft und die Behinderungsverarbeitung als Prozess verstanden wird, erscheint es notwendig, die elterlichen Belastungen in einem prospektiven Studiendesign zu untersuchen.

Vorläufige Befunde einer Längsschnittstudie konnten diese Annahmen bestätigten [2]. Mit der vorliegenden Arbeit werden nun abschließend Ergebnisse einer zweijährigen Verlaufsuntersuchung vorgestellt.

Methode

Ziele

Es soll das Ausmaß der elterlichen psychischen Belastung und der elterlichen Lebensqualität (LQ) im Verlauf der Behandlung der kindlichen Hörstörung prospektiv untersucht werden. Dabei wird nach Art der Versorgung und nach dem Geschlecht der Eltern differenziert.

Durchführung

Die Eltern hörgeschädigter Kinder wurden in einer Längsschnittstudie zu den folgenden Messzeitpunkten psychometrisch untersucht:

Für Eltern, deren Kind mit einem CI versorgt wird, wurde die Erstmessung (T1) zur CI-Voruntersuchung des Kindes durchgeführt. Die folgende Messung T2 fand zur CI-Operation und T3 zur ersten Anpassung statt. T4, T5 und T6 lagen in halbjährigen Abständen jeweils zur Anpassung des Sprachprozessors.

Für die Eltern, deren Kind mit einem HG versorgt wird, fand die Erstmessung (T1) kurz nach der Diagnose der Schwerhörigkeit und die Folgemessungen T2 -T5 in jeweils halbjährigen Abständen zur HG-Kontrolle statt.

Somit konnte zu fünf (bzw. sechs) Messzeitpunkten das Befinden der Eltern zu Beginn und während etwa zwei Jahren der technischen Rehabilitation des Kindes erhoben werden.

Messinstrumente

Die psychische Belastung der Eltern wurde anhand der SCL-90-R [3] erfasst. Die hier verwendete Gesamtskala GSI misst die allgemeine psychische Symptombelastung der Eltern. Eine Normierung liegt vor. Die LQ der Eltern wurde mit dem Fragebogen „Alltagsleben" („ALLTAG"; [1]) erhoben. Auch hier wird die Gesamtskala, welche die allgemeine gesundheitsbezogene LQ widerspiegelt, verwendet. Die Ergebnisse werden mit einer Vergleichsstichprobe „Gesunder" in Relation gesetzt. Beide Instrumente erfüllen die geforderten Testgütekriterien.

Stichprobe

Zu Erhebungsbeginn setzt sich die Stichprobe aus 68 Elternteilen (34 Mütter) von 36 CI-Kindern (17 Mädchen) und 55 Elternteilen (29 Mütter) von 30 HG-Kindern zusammen. Für neun dieser Kinder wurde im Verlauf der Studie die Indikation für eine CI-Versorgung gestellt.

Das Alter der CI-Kinder: MW=44,7 Monate; Median=30,7; SD=34,6. Das Alter der HG-Kinder: MW=33,3; Median=29,2; SD=21,2 Monate.

Der Datenrücklauf schwankt bezogen auf die einzelnen Messzeitpunkte zwischen 40% und 71%.

Statistik

Die Aufbereitung und Auswertung der Daten erfolgte mittels der SPSS-Version 11.5. Mittelwertsunterschiede wurden mit t-Tests für unabhängige Stichproben geprüft. Die Verlaufsunterschiede wurden anhand von Varianzanalysen mit Messwiederholungsfaktor untersucht. Das Signifikanzniveau wurde auf p<0,05 festgelegt.

Ergebnisse

Psychische Belastung

Die Mütter und die Väter der HG- und der CI-versorgten Kinder weisen zu keinem Messzeitpunkt eine im Vergleich zur Norm signifikante psychische Belastung auf. Der höchste Belastungswert wurde für die Mütter der CI-Kinder zur CI-Operation festgestellt. Die Veränderung über die Zeit ist für keine der Versorgungsgruppen signifikant. Im Grenzbereich zur psychischen Belastung liegen die Eltern der HG-Kinder im Vorfeld der CI-Indikation.

Lebensqualität

Mit Ausnahme von T3 ist die LQ der Mütter der CI-versorgten Kinder zu allen Messzeitpunkten signifikant eingeschränkt. Die LQ der CI-Väter ist lediglich zur Voruntersuchung des Kindes (T1) signifikant.

Die Verlaufsuntersuchung zeigt einen signifikanten Anstieg der LQ in der ersten Phase der Versorgung und einen Rückang im weiteren Verlauf der Rehabilitation des Kindes.

Auch für die Väter der HG-Kinder ist lediglich zu Behandlungsbeginn (T1) eine signifikante Einschränkung der LQ festzustellen. Für die Mütter gilt dies für T1, T2 und T4. Insgesamt liegt für die Eltern der HG-Kinder ein signifikanter Anstieg der LQ im Laufe der kindlichen Rehabilitation vor.

Diskussion und Fazit

Die Ergebnisse unterstreichen die Wichtigkeit einer prospektiven Untersuchung des elterlichen Befindens und die Notwendigkeit, dieses differenziert zu betrachten.

Die Einschränkungen der Eltern beziehen sich weniger auf eine psychische Symptombelastung als auf die Reduzierung ihrer allgemeinen LQ. Es hat sich gezeigt, dass initial beide Elternteile davon betroffen sind, und die Mütter auch in späteren Phasen der kindlichen Rehabilitation Defizite in ihrer LQ äußern. Dieser Befund spiegelt die klinische Erfahrung wieder, wonach bis auf wenige Ausnahmen die Mütter vor allem zeitlich am stärksten mit der kindlichen Behinderung konfrontiert sind.

Für die Betreuungspraxis relevant ist der Befund, dass nach einer Steigerung des elterlichen Befindens nach den ersten CI-Anpassungen eine erneute Belastungsphase festgestellt werden kann. Eventuell werden vielen Eltern nach einer ersten Erleichterung über die erfolgreiche CI-Versorgung auch deren Grenzen für ihr Kind bewusst.

Insgesamt betrachtet unterstreichen die Ergebnisse die Notwendigkeit, die Eltern in den jeweiligen Entscheidungs- und Orientierungsphasen beratend und psychosozial betreuend zu unterstützen und auch bei erfolgter Versorgung supportive Versorgungsangebote für die Eltern bereit zu stellen.


Literatur

1.
Bullinger M (2000): Lebensqualität - Aktueller Stand und neuere Entwicklungen der internationalen Lebensqualitätsforschung. In: Lebensqualität und Gesundheitsökonomie in der Medizin. ecomed, S 13-23
2.
Burger T, Eissele S, Spahn C, Richter B, Löhle E: Eltern hörgeschädigter Kinder - ihre Lebensqualität und psychische Belastung im Verlauf der Behandlung des Kindes. In: Gross M, Kruse E (Hrsg): Aktuelle phoniatrisch-pädaudiologische Aspekte 2003/2004. Medicombooks.de im Verlag videel, 2003; 396-400
3.
Franke GH (2002): SCL-90-R. Symptom-Checkliste von L.R. Derogatis - Deutsche Version - Beltz Test GMBH. Göttingen
4.
Hintermair M, Horsch U (1998): Hörschädigung als kritisches Lebensereignis. Julius Groos, Heidelberg
5.
Spahn C, Richter B, Rohr B, Löschmann C, Löhle E (2002a): Zur Situation der Eltern hörgeräteversorgter Kinder: I. Psychosoziale Belastung, Behandlungserwartung und Behandlungszufriedenheit. Sprache Stimme Gehör 26: 98-105